Bauwerk

Wohnbau Leyserstrasse
Gangoly & Kristiner, O&O Baukunst - Wien (A) - 2022

Geschosswohungsbau »Rosalie« in Wien

Häuser mit Balkon sind im geförderten Wiener Wohnbau längst Standard, doch das von Gangoly & Kristiner Architekten und O&O Baukunst ist ein hellgraues, minimalistisches Schmuckkästchen: Mit viel Esprit, Disziplin und technischer Raffinesse ist es gelungen, die heterogenen Vorgaben aus Baurecht, Brandschutz und Tragwerksplanung in ein schönes, stimmiges Balkonkleid zu packen.

6. November 2023 - Wojciech Czaja
»Ich habe keine Ahnung, warum wir zwei Balkone haben«, sagt Arife Güner. »Einen betritt man vom Wohnzimmer aus, den anderen übers Kinderzimmer. Und schon gar nicht verstehe ich, warum die so eigenartig über Eck gehen, mit einem abgemauerten Loch dazwischen, obwohl auf der einen Seite gar kein Fenster in der Wand ist. Aber man muss ja nicht alles verstehen. Die Architekten werden sich schon was gedacht haben dabei.« Die 29-jährige Studierendenheimleiterin wohnt mit ihrem Mann Ibrahim und ihren beiden Söhnen Yiğit und Mert in einer 85-Quadratmeter-Wohnung im siebten Stock. Der flexible Grundriss, die Aussicht bis zum Wienerwald und, ja, natürlich auch die beiden Balkone, die bereits mit Tisch, Stühlen und Hängematte bestückt sind, seien für die Wahl der Wohnung mit ausschlaggebend gewesen, sagt Arife.

Tatsächlich ist das Wohnhaus in der Leyserstraße 4a, das auf den hübschen Namen Rosalie hört, eines der aktuell schönsten – und auch baurechtlich und bautechnisch komplexesten – Best-Practice-Beispiele für Balkonien in Wien. Auf Basis einer vielparametrigen Matrix aus Bauordnung, Grundstückbestimmungen, Loggien- und Balkonregelung, Respektabstand zum Baumbestand, Zufahrtsmöglichkeit für die Feuerwehr, Optionen zum Anleitern im Brandfall, Berechnung des Brandüberschlags und nicht zuletzt einer millimetergenauen Komposition zwischen Ortbeton- und Fertigteil-Elementen entstand Rosalies raffiniertes Fassadenkleid.

Dem Park gegenüber zurückgenommen

»Wir befinden uns hier im Westen Wiens, auf dem Areal der ehemaligen Theodor-Körner-Kaserne«, sagt Dominik Troppan, Projektleiter und Partner im österreichischen Architekturbüro Gangoly & Kristiner. »Eines der größten Assets dieses Grundstücks ist der reichhaltige Bestand an alten, ausgewachsenen Bäumen. Sie bieten nicht nur eine unverwechselbare, schützenswerte Atmosphäre, sondern sind auch ein wichtiger mikroklimatischer und biodiverser Regulator. Ihnen gehört die Bühne.«

Und der Anspruch an die Hauptrolle ist mehr als ernst gemeint: Auf Basis eines städtebaulichen Wettbewerbs 2016 und des siegreichen Masterplans von driendl*architects wurde die Bebauung mit knapp 1 000 geförderten und frei finanzierten Wohnungen an die Ränder des 4,1 ha großen Areals gedrängt – in Form von kompakten, bis zu 12-geschossigen Baukörpern. Auf diese Weise konnte der Park mit seinen bis zu 20 m hohen Platanen zum überwiegenden Teil erhalten bleiben. Nachdem die Baustelle fertiggestellt und die Kräne wieder abgebaut waren, hat die Fauna mit Vögeln und Fledermäusen ihren Weg wieder zurückgefunden. Ab und zu, sagen die hier wohnenden Leute, seien auch schon Habichte gesichtet worden.

»All das«, meint Troppan, »hat in unseren Entwurf mit hineingespielt. Daher haben wir uns entschieden, das Haus in seiner Außenerscheinung farblich zurückzunehmen.« Während im Eingangsbereich und in den Treppenhäusern ein pastelliges Beigerot (RAL 3012) und ein kräftiges Opalgrün (RAL 6026) dominieren, präsentiert sich die Fassade mit ihrer dreidimensionalen Balkonmatrix in nacktem Sichtbeton mit Weißzement-Zuschlag. Lediglich die mal glatten, mal sandgestrahlten Oberflächen und die um 3 cm vor- und rückspringenden Betonfertigteile verleihen dem vermeintlich einheitlichen Hellgrau eine plastische, lebendige Schattierung.

Ablesbarkeit durch Komplexität

Doch wie sieht die Komposition im Detail aus? »Um den Aufbau der Balkone zu verstehen, muss man beim Primärtragwerk anfangen«, erklärt Troppan, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Büro O&O Baukunst (Markus Penell) und dem gemeinnützigen Bauträger WBV-GPA (Wohnbauvereinigung für Privatangestellte) im Rahmen eines förderbaren Kostendeckels realisierte. Bei den Geschossdecken handelt es sich um Halbfertigteildecken mit 5 cm starken Fertigteilen und 15 cm Ortbetonschicht. Die Gang- und Wohnungstrennwände bestehen aus Hohlwänden als verlorene Schalung mit Ortbetonfüllung, bei den Außenwänden wiederum handelt es sich je nach statischer Anforderung und Einbindungsmöglichkeit der tragenden Wärmedämmelemente teils um Ortbeton, teils um Fertigteilelemente. Durch den geringen Ortbetoneinsatz konnte die Bauzeit um einige Monate reduziert werden.

Schließlich die Balkone: Sowohl bei den Balkonplatten als auch bei den Brüstungen und den vertikalen, 45 cm breiten Pfeilern handelt es sich um komplett vorgefertigte Elemente, die eine scheinbare Ruhe und Einheitlichkeit ausstrahlen, bei genauerer Betrachtung jedoch einen technischen und baujuristischen Wahnsinn offenbaren, der es erforderlich machte, die Fassade in der Ausführungsplanung Stück für Stück zu detaillieren. Mit einer Toleranz von 2 cm zuzüglich 5 mm breiter Fase stoßen die Elemente aneinander. An manchen Stellen haben die Architekten mit einer 3 cm breiten Scheinfuge zugunsten einer klar ablesbaren Komposition ein wenig geschummelt.

»Der große Vorteil der Fertigteilbauweise offenbart sich in den Details«, sagt Projektleiter Troppan. »Denn mit einer Bauteilstärke von nur 11 cm schaffen wir Betonbrüstungen in Rekordschlankheit.« Hinzu kommt, dass es die Norm und die Richtlinien bei Fertigbauweise aufgrund der hohen Fertigungsqualität erlauben, bei Vorsprüngen, Balkonüberdachungen und horizontalen Parapetabschlüssen auf eine Verblechung sowie auf die Abdichtungen zu verzichten, die bei Ortbetonbauweise notwendig gewesen wären. Dies kommt v. a. dem poetischen Attikaabschluss über dem zehnten Stockwerk zugute: Ohne Blech und ohne jeden Schnickschnack ragen die dicken Kreissegmente über die Fassade und schenken dem Haus ein subtiles Krönchen. Ein wenig erinnert die Formalität an eine Tortenunterlage oder an Omas gehäkeltes Spitzendeckchen. So viel Süß, bei all der Strenge, das Schmunzeln ist nicht zu unterdrücken.

Einverleibte Stockwerksenklave

»Das ist ein wirklich schönes Wohnen hier, und am meisten gefällt mir«, sagt Stephan Gruber, »dass einem dieses Haus bei allem Kostendruck, dem der geförderte Wohnbau natürlich unterliegt, dennoch mit Schönheit und Respekt begegnet.« Gruber sitzt mit seiner Familie und seinen Nachbarn und Nachbarinnen auf der Dachterrasse im sechsten Stock, auf dem etwas niedrigeren Bauteil, der dem hohen Balkonturm wie ein kleines, kompaktes Stadthaus vorgelagert ist. Was für eine Aussicht, am Horizont die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof.

Obwohl die Dachterrasse mit ihren beigeroten, RAL-3012-lackierten Laternen allen Bewohner:innen des Hauses gleichermaßen zur Verfügung steht, kümmern sich in erster Linie die Leute der sechsten Etage darum. Die 22 Menschen nämlich, vom Baby- bis ins Pensionsalter, verteilt auf neun Wohnungen, hatten eine eigene Baugruppe gegründet und konnten in enger Absprache mit dem Bauträger die Etage nach eigenen Ermessen planen und umgestalten. Die sogenannte Baugruppe Vorstadthaus Breitensee ist Wiens einzige Baugruppe, die nicht ein ganzes Wohnhaus für sich beansprucht, sondern als Stockwerksenklave einem geförderten Wohnhaus regelrecht einverleibt wurde.

»Wir haben in der Vergangenheit bereits einige Erfahrungen mit Baugruppen machen können«, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA. »Ich halte diese Form selbstbestimmten und mitgestaltenden Wohnens im Rahmen des sozialen Wohnbaus für sehr wichtig. Eine integrierte Baugruppe jedoch, wie diese hier, hat eine besonders hohe soziale Vorbildwirkung, denn so kann die Energie der wenigen 22 Menschen aufs ganze Haus ausstrahlen.« Rechtlich fügt sich die Baugruppe mit einzelnen Mietverträgen ins übrige Haus. Die einzige Besonderheit ist ein Rahmenvertrag, in dem die Pflege von Dachterrasse, Kinderspielraum und gemeinschaftlichen Einrichtungen festgehalten wurde.

Insgesamt umfasst das Gebäude 115 Wohnungen mit Mittelgang-Erschließung, wobei jeweils ein Fenster bei der Liftgruppe und eines an einem Ende des Korridors für natürliche Belichtung in den halböffentlichen Bereichen sorgt. Im Geschäftslokal im EG, in dem ursprünglich ein Nahversorger geplant war, hat sich eine Augenklinik eingemietet. Nebenan gibt es einen Fahrrad- und Kinderwagen-Abstellraum sowie einen Kinderspielraum, von dem man in anderen Wohnhäusern nur träumen kann – hier gibt es Holzpuppenhäuser, Matratzenhöhle und sogar eine Kletterwand. Über eine riesige Glasscheibe gibt es eine Sichtverbindung in die angrenzende Waschküche. Damit ist die Rosalie – außen wie innen – ohne jeden Zweifel einer der aktuell sympathischsten Sozialwohnbauten Wiens.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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