Bauwerk

Stadtentwicklungsprogramm in Gifu
Elizabeth Diller, Arata Isozaki, Kazuyo Sejima, Akiko Takahashi, Christine Hawley - Gifu (J) - 2002
Stadtentwicklungsprogramm in Gifu, Foto: Hisao Suzuki
Stadtentwicklungsprogramm in Gifu, Foto: Hisao Suzuki
Stadtentwicklungsprogramm in Gifu, Foto: Hisao Suzuki
Stadtentwicklungsprogramm in Gifu, Foto: Nobuaki Nagagawa

Nachhaltigkeit auf Japanisch

Das Japanische Gifu, einige Kilometer nördlich der Millionenstadt Nagoya gelegen, ist eine der vielen gesichtslosen Agglomerationen im Landesinneren des Archipels.

1. Februar 2002 - Roderick Hönig
Die Grenze zwischen den beiden Städten ist fliessend, ein grossflächiger Häuserteppich, aus dem Hochspannungsmasten herausstechen, verwebt die Orte miteinander. Die Region ist mit dem schweizerischen Mittelland zu vergleichen: Kein Zentrum ist auszumachen, erst am Fuss der Berge schlägt die träge Welle der Zersiedelung an. Wer genauer hinsieht, merkt aber, dass der Teppich aus unzähligen eigenständigen Stadtteilen besteht. Gifu ist, wie viele andere japanische Städte auch, eine Stadt der 1000 Dörfer.

Im Rahmen eines radikalen Stadtentwicklungsprogramms haben die Vertreter der Präfektur vor ein paar Jahren beschlossen, eines dieser natürlich gewachsenen «Dörfer» abzubrechen und an seiner Stelle - ganz im Sinne des Mottos der europäischen Moderne «Licht, Luft und Sonne» - einen neuen, modernen Ort im Niemandsland zu schaffen. Gefördert vom Staat, sollten 420 Wohneinheiten von je rund 70 Quadratmetern entstehen. Unter der Koordination von Arata Isozaki, einem Altmeister der japanischen Architektur, haben die vier Architektinnen Kazuyo Sejima, Akiko Takahashi, Elisabeth Diller und Christine Hawley den neuen Stadtteil erbaut. Anstelle des engmaschigen Quartiers aus meist zweigeschossigen Häuschen schlängeln sich nun vier gewaltige Wohnscheiben entlang der Parzellengrenze. Sie fassen einen trostlosen Leerraum, den die amerikanische Landschaftsarchitektin Martha Schwarz ungelenk mit einem Garten dekorierte.

Trotz der Brutalität des städtebaulichen Eingriffs sind ausserordentliche Wohnungen entstanden: Einzigartig sind die Einheiten in der mehrfach geknickten Scheibe von Kazuyo Sejima. Die 45-jährige Architektin gilt als Shootingstar der internationalen Architekturszene. Bekannt wurde sie auch ausserhalb von Fachkreisen mit ihrer Arbeit am Verpackungsdesign der neuen Kosmetiklinie von Prada und mit dem Design der Prada-Kosmetikshops.

In Gifu hat Sejima jedoch keineswegs Kosmetik betrieben, sondern beim Bau ihrer 107 Einheiten versucht, ein System zu etablieren, das auf zukünftige Änderungen im Wohnverhalten der Menschen flexibel reagieren kann. Die Architektin glaubt, dass sich die traditionelle Familienstruktur auflösen wird, und hat deshalb ein Haus gebaut, das auf Familien ebenso gut wie auf Singles, Paare oder auch Wohngemeinschaften zugeschnitten ist.

Ihre neungeschossige Wohnwand ist beeindruckend schmal. Die geringe Tiefe von 8,5 Metern ist eine Antwort auf die heissen und schwülen japanischen Sommer: Die natürliche Querlüftung ist immer noch effizienter und kostengünstiger als jede Klimaanlage. Über die gesamte Länge des Riegels regelmässig verteilt, stehen auf jeder Etage die Zimmerwände im Abstand von 2,85 Metern. Sie unterteilen den Wohnriegel in der Horizontalen in unzählige Zellen von jeweils 16,5 Quadratmetern Fläche. Diese Wände sind gleichzeitig Tragstruktur, darauf stehen alle Geschossdecken. Auf der Südseite hören sie 1,20 Meter vor der mit Bandfenstern verglasten Fassade auf. Dadurch entsteht eine Art wohnungsinterner Laubengang, der alle Zimmer miteinander verbindet.

Auf der ziemlich schroff gestalteten Rückseite führt parallel dazu auf jedem Stock ein offener und öffentlicher Laubengang entlang dieser fast unendlichen Aufreihung von Zimmern. So kann jedes Raummodul vom inneren wie auch vom äusseren Laubengang her betreten werden. Das macht jedes Zimmer zum selbständigen Modul eines grossen Systems. Der Vorteil: Eltern oder Kinder können so beispielsweise die Wohnung verlassen oder betreten, ohne die anderen Mitbewohner zu stören.

Um den engen Wohnverhältnissen etwas Luft zu geben, hat Sejima fast jeder Wohnung ein zweigeschossiges Wohn- und Esszimmer zugeordnet. Es dient als Scharnier zwischen oben und unten. Denn alle Wohnungen haben zwei Ebenen, eine kleine interne Treppe in diesem über fünf Meter hohen Raum verbindet die Etagen miteinander. Dieses Maisonnette-System macht es möglich, dass auf einer Etage Eltern und Kinder wohnen und auf einer darüber- oder darunterliegenden Etage etwa die Grossmutter. Auch gehört zu jedem Appartement ein Aussenraum, eine grosszügige Loggia, die sich über die gesamte Gebäudetiefe erstreckt und auf beiden Seiten offen ist. Sie wird dankbar und rege als Waschküche, Lagerraum, Velogarage oder Balkon benutzt. Sejima versteht diesen Aussenraum aber auch als eine Art Garten, in dem der Bewohner den Kontakt zur Natur, zu Wind und Wetter aufrechterhalten kann - auch 20 Meter über dem Boden.

Die scheinbar zufällige Anordnung dieser Loggias verleiht dem riesigen Baukörper eine gewisse Leichtigkeit. Das gekonnte Spiel mit der Durchlässigkeit, mit Löchern und Schichten, nimmt dem Bau etwas von seiner Monumentalität. Die Fassade wird zur grossflächigen Textur, an den Löchern wird der menschliche Massstab wieder erkennbar. Der Architektin gelingt es bei diesem Bau, mit einem relativ einfachen System unterschiedliche Wohnformen zu ermöglichen. In diesem Sinne versteht sich der Bau als Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit. Denn nicht nur die Wahl dauerhafter Baumaterialien wie Beton erhöht die Lebensdauer eines Gebäudes - die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses in Japan beträgt 25 Jahre -, auch die Fähigkeit der Anpassung an unterschiedliche Benutzer garantiert ein längeres Leben.

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