Bauwerk

Mediathek
Toyo Ito - Sendai (J) - 2001

Vom Minimalismus zum formalen Reichtum

Ein spektakulärer Neubau von Toyo Ito in Sendai

5. Oktober 2001 - Hubertus Adam
Die eher gesichtslose japanische Stadt Sendai hat mit Toyo Itos Mediathek ein kulturelles und architektonisches Wahrzeichen erhalten. Ito gelang es nicht nur, eine überzeugende Lösung für die Bauaufgabe Mediathek zu finden, sondern überdies ein Zeichen im Rahmen des architekturtheoretischen Diskurses der Gegenwart zu setzen.

Die Stadt Sendai, 350 Kilometer nordöstlich von Tokio gelegen, ist mit dem Shinkansen von der Hauptstadt aus in knapp zwei Stunden zu erreichen. Der Besucher Japans dürfte die Millionenstadt bisher jedoch eher als Durchgangshalt auf der Reise in den Norden erlebt haben. Das ist seit wenigen Monaten anders, denn Sendai erregt durch ein Gebäude Aufmerksamkeit, das zu den massstabsetzenden der letzten Jahre in Japan, wenn nicht gar weltweit zu zählen ist: die Mediathek von Toyo Ito. Dem 1941 geborenen Ito, der seit seinem Beton-Wohnhaus in Form eines U (1976) zu den architektonischen Vordenkern des Inselstaats zählt, gelang die beispielhafte Formulierung einer vergleichsweise neuen Bauaufgabe und darüber hinaus ein Werk, das - ohne angestrengt zu wirken - in programmatischer Weise auf den zeitgenössischen architekturtheoretischen Diskurs reagiert, indem es eine Synthese aus Minimalismus und formalem Reichtum darstellt.


Ingenieur und Künstler

Die Mediathek wirkt zunächst wie ein minimalistischer Kubus: Das Gebäude von 50×50 Metern Seitenlänge ist dreiseitig mit Glas verkleidet und wird durch betonierte Geschossplatten in sieben Stockwerke unterschiedlicher Höhe gegliedert - die Bereiche der Kinderbücherei, der Bibliothek, des Ausstellungszentrums und der eigentlichen Mediathek sind etagenweise übereinander gestapelt. Getragen wird das Gebäude nicht wie üblich von einem Stahlbetonskelett, sondern von insgesamt 13 gitterförmigen Röhren unterschiedlichen Durchschnitts, die alle Ebenen durchstossen und Liftschächte oder Versorgungsleitungen aufnehmen - oder auch nur Licht vom Dach aus in die unteren Ebenen vordringen lassen. Die von dem Ingenieur Mutsuro Sasaki berechneten Gittertürme verändern ihre Form von Stockwerk zu Stockwerk und lassen sich als ein expressives Moment verstehen, das zu dem Minimalismus des Volumens in Kontrast tritt. Historisch sind die Röhrenstrukturen auf die berühmten Gittertürme des Russen Wladimir Tschuchow zurückführen, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und bei minimalem Stahlverbrauch eine grosse Tragkraft besassen. Doch während Tschuchow die Einzelteile standardisierte, beruht Itos Tragwerk auf Deformation und Verzerrung. Ohne den Einsatz des Computers wäre das Stahlgerüst in Sendai weder zu berechnen noch zu realisieren gewesen; ging die Tendenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts Richtung Normierung und Vereinheitlichung, so erlauben die heutigen Entwurfs- und Fertigungsverfahren eine neue Freiheit in der formalen Gestaltung. Folgt auf die Epoche des Ingenieurs jene des Künstlers?


Kultureller Stoffwechsel

Die Mediathek befindet sich im Nordwesten der Innenstadt von Sendai, unmittelbar an einer breiten Allee. Ein Vorplatz, wie man ihn in Europa vor einem öffentlichen und zugleich identitätsstiftenden Gebäude erwartete, existiert hier nicht, und so wächst dem Erdgeschoss zugleich der Charakter eines Forums zu. Das überhohe Geschoss dient verschiedenen Funktionen; es ist Foyer und Ausgangspunkt für die vertikale Erschliessung, wird aber auch als Café und Informationszentrum genutzt. Durch verschiebbare Wände kann im Zentrum überdies bei Bedarf ein Vortrags- oder Veranstaltungssaal entstehen. Gegliedert wird die weite Fläche des Raums, dessen Glasfront sich zur Strasse hin öffnen lässt, durch die Gitterstrukturen der «Tubes», die wie künstliche Bäume wirken. Immer wieder hat Ito während des Entwurfsprozesses von Analogien zur Natur gesprochen; zuweilen bezog er sich angesichts der Röhren auf Algen, die sich in einem Aquarium bewegen. Folgt man einem derartigen Gedanken, werden die «Tubes» zu Stämmen und Stengeln, zu vertikalen Leitungssystemen des kulturellen Stoffwechsels. Der Besucher bewegt sich in transparenten Liftschächten durch die einzelnen Stockwerke, in denen Medien verschiedenster Art zur Verfügung stehen. Die Bibliothek hat sich in einen Information Store verwandelt. Dabei gibt es durchaus auch kontemplative Räume, die Stille beim Lesen und bei der Arbeit garantieren; beispielsweise die ruhigen Lesezonen im Mezzaningeschoss der Bibliotheksebene.

Zwischen den Stahlgitterstrukturen entstehen in jedem der Geschosse, in denen hinter den Installationen der Rohbaucharakter erkennbar bleibt, weite Freiflächen; Ito zog eine Reihe von Designern hinzu, welche den Ebenen jeweils ein spezifisches Gepräge gaben. Im Erdgeschoss sowie in zwei oberen Ebenen sind es poppig-bunte Sitzobjekte von Karim Rashid, die einen Kontrast zu der diskreten Farbigkeit des Inneren setzen. Das Mediengeschoss unterhalb der von einem Stahlgitterraster bekrönten Dachebene versah Ross Lovegrove mit Einrichtungselementen, deren biomorphe Gestalt fast schon kitschig wirkt. Am überzeugendsten geriet die Ausstattung der Kinderbibliothek im ersten Obergeschoss durch Kazuyo Sejima. Die ehemalige Schülerin von Ito entwarf formal reduzierte, amöbenhaft wirkende Sitzgelegenheiten und teilte den Raum mit Hilfe von Stoffen (die von Reiko Sudo entworfen wurden) in distinkte Zonen.

Vielfalt prägt auch die Fassaden der zunächst wie eine gewaltige transparente Box wirkenden Mediathek: Während sich hinter vertikalen Metallbändern der geschlossenen Westfassade die Fluchttreppen verbergen und die Hauptfront zur Strasse durch ein als «all-over-pattern» verwendetes Siebdruckmuster geprägt wird, zeigt Ito an der Ostfassade im geschossweisen Wechsel Glas in unterschiedlicher Materialität und Transparenz - vom Klarglas über Lichtschlitze bis hin zur Profilit-Verglasung.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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