Bauwerk

World Trade Center
Minoru Yamasaki Associates, Inc., Emery Roth & Sons - New York (USA) - 1972
World Trade Center © Minoru Yamasaki Associates
World Trade Center © Minoru Yamasaki Associates

Die Twin Towers als Mahnmal?

Wiederaufbauideen für Lower Manhattan

5. Oktober 2001 - Roman Hollenstein
Die Terrorattacken auf die Zwillingstürme des World Trade Center haben im Weichbild Manhattans eine klaffende Wunde hinterlassen, die nach Vorstellung der New Yorker möglichst schnell vernarben soll. Dabei reichen die Ideen von einem Mahnmal bis hin zu neuen Wolkenkratzern. Die exakte Rekonstruktion der Twin Towers, deren neue Existenz stets an das Attentat erinnern würde, könnte beide Aufgaben erfüllen.

Auch wenn wir über die Medien am Untergang des World Trade Center teilnahmen, bleibt doch der Verlust dieses New Yorker Wahrzeichens für alle, die die Zerstörungen nicht vor Ort erlebten, bis zu einem gewissen Grade virtuell. In unseren Köpfen jedenfalls lebt ein doppeltes Bild von Manhattans Skyline weiter: eines mit und eines ohne Zwillingstürme; und letzteres möchten wir so schnell wie möglich wieder loswerden. Deshalb empfanden viele es wie eine Befreiung, als New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani kurz nach der Katastrophe die «Reconstruction» des WTC ankündigte. Ihm pflichtete der Immobilienmakler Larry Silverstein bei, der erst im vergangenen April das WTC zum Preis von 3,2 Milliarden Dollar für 99 Jahre von der Port Authority erworben hatte. Von einer Rekonstruktion der zeichenhaften Twin Towers war bei Silverstein allerdings nicht mehr die Rede, sondern von mehreren kleineren Türmen und einem Mahnmal.


Vorschläge aus New York

Nachdem am 17. September die Wiederaufbaukommission unter Vorsitzt von Giuliani ins Leben gerufen worden ist, denkt man auch in New Yorks Künstler- und Intellektuellenkreisen, vor allem aber in der Architektenszene laut über die Zukunft des Schreckensortes nach. Die Ideen reichen dabei vom intimen Mahnmal bis zum monumentalen neuen Sitz des um eine kulturelle Institution wie das Guggenheim Museum erweiterten New York Stock Exchange. Solch kommerzielle Bauten möchte der Soziologe Richard Sennett allerdings einer Gedenkstätte untergeordnet sehen. Diese kann sich der Kunsthistoriker Robert Rosenblum als leeres Phantomgebäude in der Form der Twin Towers vorstellen. Bescheidener geben sich die Künstler: Altmeisterin Louise Bourgeois legte in der «New York Times» einen Entwurf für ein sternförmiges Mahnmal vor; und in Umfragen derselben Zeitung äusserten sich etwa Barbara Kruger und John Baldessari zugunsten eines meditativen Parks, während Joel Shapiro das Areal leer lassen möchte. Wie James Turrell ist er gegen ein Denkmal, das ohnehin mit der Zeit seine Bedeutung verlieren werde.

Anders als Shapiro stellt sich Turrell jedoch drei Neubauten vor, die höher sein sollten als die zerstörten. Damit spricht er jenen Architekten aus dem Herzen, die schon davon träumen, sich am Unglücksort zu verewigen. Eine Ausnahme bildet das hierzulande durch das Projekt der Arteplage in Yverdon bekannt gewordene New Yorker Starteam Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio, das sich gegen eine Wiederherstellung der «verlorenen Skyline» wendet. Dem widerspricht David Childs vom Büro SOM, der Lower Manhattan «absolut atemberaubend» machen möchte mit mehreren nur noch halb so hohen Türmen, einer Skulptur, die an die Tragödie erinnert, einem der Kontemplation dienenden Grünraum sowie einem Kulturzentrum.

Spektakuläres schwebt auch Hyman Brown, einem der Ingenieure des WTC, vor, der eine identische Rekonstruktion der Türme fordert, wobei er deren einstige Höhe von 417 und 415 Metern um dreissig Etagen oder rund 120 Meter aufstocken möchte. Auch Bernard Tschumi, der aus Lausanne stammende Leiter der Architekturabteilung der New Yorker Columbia University, votiert für ein noch höheres, geschäftlichen und kulturellen Aktivitäten dienendes Bauwerk von zukunftsgerichteter Erscheinung mit integriertem Ort der Trauer. Sein Kollege Robert Stern von der Architekturschule in Yale möchte die Türme als Symbol dafür rekonstruiert sehen, dass Amerika nicht besiegt werden kann, während Philip Johnson den Terroristen zeigen will, dass alles, was sie zerstören, wiedererrichtet wird. Peter Eisenman hingegen sieht «die Kultur und die Werte des Westens angegriffen». Deshalb sollten wir nicht davon zurückschrecken, erneut so hoch zu bauen wie die zerstörten Türme. Ähnlich versteht Cesar Pelli, der Entwerfer der rekordhohen Petronas Towers in Kuala Lumpur, die Errichtung von zwei Türmen derselben Dimension als Demonstration «unserer Stärke». Renzo Piano, der demnächst als erste «Icon» nach dem WTC-Attentat das 260 Meter hohe «New York Times»-Building an der Ecke 8. Avenue und 41. Strasse errichten soll, möchte die technisch überholten Türme durch etwas Neuartiges ersetzen. Auch Richard Meier kann sich mit einer mimetischen Rekonstruktion nicht anfreunden, weil «die Türme 1966 entworfen wurden und wir nun im Jahre 2001 leben». Ihm schwebt ein Ensemble vor, «das ein ebenso mächtiges New Yorker Symbol abgeben wird, wie es die World Trade Towers waren».


Fehlende architektonische Qualität

In Architektenkreisen dominiert ganz offensichtlich die Vorstellung, die Terrence Riley vom MoMA auf den Punkt bringt: «We should build an even greater and more innovative skyscraper.» Dies ist bei Designern wie Richard Meier verständlich, der 1987 das Scheitern seines (nicht wirklich gelungenen) Doppelturmprojekts für den Madison Square erleben musste. Dennoch darf die Ruinenstätte des WTC nicht zum Ort architektonischer Eitelkeiten werden - allem voran aus Respekt vor den Opfern, aber auch aus Gründen der Vernunft. Denn ein Blick auf das von Investoren und Developern geprägte, völlig kommerzialisierte Bauwesen in den USA zeigt, dass dieses Land gegenwärtig kaum in der Lage ist, einen wirklich zukunftsweisenden Neubau an die Stelle der Twin Towers zu setzen. So ist in den vergangenen Jahren in Manhattan mit Ausnahme von einigen «Miniaturen» (den beiden rund 20-geschossigen Lückenfüllern des LVMH-Hauses von Portzamparc und des Österreichischen Kulturinstituts von Raimund Abraham, dem der Vollendung entgegengehenden Museum of American Folk Art von Williams und Tsien sowie dem gescheiterten Hotelprojekt von Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas) kein einziger Bau von internationaler Ausstrahlung entstanden.

Selbst bei einem internationalen Wettbewerb wären daher auf Grund der gegenwärtigen Baubedingungen die Chancen äusserst klein, dass die Leerstelle des WTC durch einen überzeugenderen Bau ersetzt werden könnte als durch Minoru Yamasakis Meisterwerk, in dessen Zwillingstürmen sich Hochhausgotik und Minimal Art sinnfällig vereinen (NZZ 12. und 17. 9. 01). Wenn nun baulustige Architekten die Statik der Twin Towers als veraltet bezeichnen und schon Möglichkeiten für ihre eigenen Visionen wittern, dann dürfen die Ergebnisse neuster Untersuchungen nicht unerwähnt bleiben. Diese zeigen, dass die in Form einer quadratischen «Röhre» errichtete tragende Fassade nicht nur den Einsturz verzögert, sondern die stürzenden Decken senkrecht nach unten geleitet und so das noch viel schrecklichere Szenario eines unkontrolliertes Umkippens der Türme über Lower Manhattan vermieden hat.

Für eine exakte Rekonstruktion der zum Synonym für New York gewordenen Twin Towers spricht neben ihrer Formvollendung auch die Zeit. Denn um ein vergleichbares Meisterwerk zu schaffen, müsste zunächst die neue Nutzung des Orts der Katastrophe diskutiert, dann ein Wettbewerb ausgeschrieben und dieser schliesslich verwirklicht werden. Doch selbst dieses Prozedere wäre ungewiss, denn letztlich haben die Investoren das Sagen. Diese aber tendieren erfahrungsgemäss hin auf rein kommerziell bestimmte, architektonisch alles andere als zukunftsweisende Bauten - vergleichbar den Banalitäten rund um den Times Square und den unweit des Lincoln Center entstehenden Doppeltürmen des neuen «One Central Park»-Komplexes, die für einen Neubau des WTC kaum Gutes verheissen.

Doch zunächst muss aufgeräumt werden; und das ist nicht ungefährlich: George Tamaro, der als Ingenieur für den Bau des Rückhaltebeckens, das die Fundamente des WTC vor dem Druck des Hudson River schützte, verantwortlich war, befürchtet nämlich, dass gegenwärtig nur die Trümmermassen die vermutlich schwer beschädigte Wanne stabilisieren. Eine schnelle Entfernung des Schuttes ohne vorangehende Sicherung der rund einen Kilometer langen Stützmauer könnte dazu führen, dass der Hudson sich durch den aufgeschütteten Untergrund einen Weg ins Herz von Lower Manhattan bahnen würde - mit unvorhersehbaren Schäden für das ohnehin schon arg in Mitleidenschaft gezogene Stadtviertel. Untersuchungen am WTC und an den Nachbarbauten - der schwer erschütterten One Liberty Plaza und mindestens zehn weiteren beschädigten Wolkenkratzern - können dem Hochhausbau aber auch neue Impulse betreffend strukturelle Sicherheit, Fluchtweggestaltung und Hitzeresistenz geben und so die den Terroristen so verhassten «Türme der westlichen Zivilisation» sicherer werden lassen. Zurzeit ist nämlich kein Konstruktionsprinzip bekannt, das deutlich günstiger reagiert hätte als jenes der Twin Towers. Jon Magnusson von der Ingenieurfirma Skilling hielt denn auch in der «New York Times» fest, dass 99 Prozent aller Hochhäuser unverzüglich nach einem Crash mit einer Boeing 757 eingestürzt wären, «but the perimeter structural tube allowed the building to stand, giving people more time to escape».


Mahnmal und Vorbild

Aber nicht nur die Vernunft spricht für einen Wiederaufbau der Twin Towers. Auch die Pietät verlangt ihn: Will man am Ort der Katastrophe einen Neubau erstellen, der Mahnmal, Symbol und Bürohaus zugleich ist, so kommt nur eine nach neusten technischen Erkenntnissen ausgeführte mimetische Rekonstruktion in Frage. Denn nur die wiedererrichteten Zwillingstürme werden alle Erinnerungsfunktionen erfüllen können und gleichzeitig in der Lage sein, den Terroristen zu zeigen, dass die freie Gesellschaft sich nicht in die Knie zwingen lässt. Dass eine Rekonstruktion nicht heillos veraltet wäre, beweist die in den letzten Jahren rapid gewachsene Popularität des WTC bei Studenten und jungen Architekten. Dieses Ensemble nahm nämlich in einem gewissen Sinn schon jene Stadt des 21. Jahrhunderts vorweg, die nun von selbsternannten Architekturgurus gepredigt wird. Auch deren Hochhäuser des 21. Jahrhunderts sind - das veranschaulichen die gegenwärtigen Erkenntnisse klar - von ihrer baulichen Struktur her noch ganz den herkömmlichen Prinzipien verpflichtet. Einzig im Erscheinungsbild würden sie sich von den Twin Towers unterscheiden. Das aber hiesse nichts anderes, als dass man die noble Erscheinung der Zwillingstürme mit ihrem meisterlichen Zusammenklang von Struktur und Licht einem modischen Fassadendesign opfern würde. Wären aber farbige Glashäute, Medienmembranen oder tätowierte Hüllen wirklich eine würdige Antwort auf die Katastrophe von Manhattan?

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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