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TEC21 2007|12
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TEC21 2007|12
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Brücken bauen»

Dass verschiedene Fachdisziplinen getrennt planen, gehört ­zunehmend der Vergangenheit an. Am Beispiel der neuen Gessnerbrücke in Zürich beschreiben Ingenieur und Architekt gemeinsam den Ablauf und die Vorteile einer Zusammenarbeit, die beim Wettbewerb beginnt und bei der Übergabe des Bauwerks an die Bauherrschaft endet.

19. März 2007 - Carlo Bianchi, Roman Züst
Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Verknüpfung hat die Architektur schon länger – und ­etwas verzögert auch den Brückenbau – die Domäne des Bauingenieurs erreicht. Die Verdichtung des Raums hat gleichzeitig die Komplexität neuer Brückenbauten erhöht. In Städten und Dörfern stehen Gebäude und Brücken teilweise in fast erdrückender Nähe zueinander. Deshalb ist Brückenbau heute nicht vorwiegend eine technische, sondern gleichwertig eine städtebauliche und raumplanerische Auseinandersetzung mit engen Rahmenbedingungen. Dadurch hat die Zusammenarbeit von Bauingenieuren und Architekten für neue Brücken erheblich zugenommen, was die zahlreichen Brückenwettbewerbe der letzten zehn Jahre bestätigen.

Als Reaktion auf diese Tendenz melden sich Stimmen, die der vergangenen Zeit etwas nach­trauern, als der Bauingenieur auch der Brückenarchitekt war. Natürlich ist das Neue nicht immer gut und besser als das Alte, das gilt auch für die interdisziplinäre Entwicklung im Brückenbau. Aber diese fachübergreifende Zusammenarbeit zwischen Architekten und Bauingenieuren verlangt einerseits grundlegend, andererseits projektbezogen eine wesentlich tiefere Ausein­andersetzung mit der Aufgabenstellung, was der Entwicklung im Brückenbau spürbar neue ­Impulse und neuen Schub verleiht.
Architekten neigen viel mehr als Ingenieure dazu, Bestehendes zu hinterfragen. Bauingenieure sind gefordert, bewährte, vor allem technische Grundsätze argumentativ zu verteidigen und offen für neue Aspekte zu sein. Gleichzeitig verlangt die Interaktion von den Architekten, ihre Grundsätze, die für den Entwurf von Hochbauten gelten, im Brückenbau zu überdenken und neu zu gewichten. Denn die Gestaltung von Brücken steht in einem anderen Verhältnis zu Machbarkeit, Dauerhaftigkeit, Wirtschaftlichkeit und Verhältnismässigkeit. Brücken werden nicht mit grundlegend anderen Zielen entworfen, ihre Prioritäten und Gewichtungen sind jedoch anders. In städtebaulicher Hinsicht können Brücken wie Hochbauten Räume bilden. Eine Analyse der Achsen und Wegverbindungen ist unumgänglich, um die Gestalt einer Brücke festzulegen. Anhand dieser Analysen wird festgelegt, ob sich die Brücke zurückhaltend in die bestehende Situation integriert oder ob man mit einer raumbildenden Tragkonstruktion neue räumliche Zusammenhänge schafft.

Die Gessnerbrücke in Zürich

Eine der jüngsten Brücken, die aus einem interdisziplinären Brückenentwurf hervorgegangen ist, ist die neue Gessnerbrücke in Zürich. Das Tiefbauamt der Stadt Zürich initialisierte einen zweistufigen Totalunternehmerwettbewerb, aus dem der Entwurf « Hirondelle  » siegreich hervorging. Der Bauherr verlangte explizit, dass im Team ein Architekt vertreten sein muss. Die Gessnerbrücke liegt im Zentrum der Stadt, unweit des Hauptbahnhofs, und ist Teil einer wichtigen innerstädtischen Verbindung für alle Verkehrsteilnehmer.

Die neue Brücke ersetzt den Übergang von 1933. Sie hat weder spektakuläre Spannweiten noch andere prestigeträchtige Abmessungen oder Daten. Umso komplexer ist der planerische Spielraum: Die Gessnerbrücke befindet sich an einem wichtigen Ort für die Stadt Zürich, der sich in der Entwicklungsphase befindet. Unter dem Begriff « Stadtraum HB » sind mittel- und langfristig grössere Veränderungen in unmittelbarer Umgebung zu erwarten. Die Gessnerbrücke ist Teil des wiederentdeckten Naherholungsgebietes Sihlraum und soll offene Räume bieten, die neue Wegbeziehungen mit fussläufigen Verbindungen am Ufer unter der Gessnerbrücke hindurch schaffen. Somit gewinnt dieser Bereich an Bedeutung, auf die die Brücke vor allem auch mit ihrer Untersicht reagieren musste. Eine weitere Rahmenbedingung im Wettbewerb war, dass der Verkehr auch während des Baus nicht unterbrochen werden durfte. Insgesamt also eine herausfordernde Aufgabe mit städtebaulichem Gewicht, für die ein Team aus Bauingenieuren, Architekten und Unternehmer prädestiniert ist.

Gemeinsame Planung

Bereits im ersten Workshop fiel der Entscheid zwischen Stahlverbundtragwerk und Spannbetonkonstruktion einstimmig zugunsten des Letzteren. So wurde ein integrales, unterhaltsarmes Tragwerk ohne Lager und Fugen mit einer homogenen Konstruktion möglich. Zudem war die gleichmäs­sige Wirkung der Untersicht im Kontext zum Sihlraum so besser zu realisieren.
Aus dem städtebaulichen Kontext und den noch unbekannten Entwicklungen vom «Stadtraum HB» heraus wurde der Grundsatz formuliert, dass das unten liegende Tragwerk zurückhaltend gestaltet und so der darunter liegende Sihlraum unmittelbar erlebbar werden sollte.

Die Frage nach einem zwei- oder dreifeldigen Tragwerk und der Querschnittsform der Brückenplatte wurde in mehreren Workshops behandelt. Die Architekten lieferten wertvolle Antworten zur Wahrnehmung des Raums unter der Brücke und zur Wahrnehmung des Übergangs vom Uferweg aus. Der Spielraum für die Gestaltung der Brücke blieb aber durch verschiedene Umstände – wie maximaler Hochwasserstand, Nutzung der Brücke und Bauweise – stark eingeschränkt. Die bestehende Gessnerbrücke hatte zwei Tragscheiben, die den Sihlraum in drei Tunnel teilten. Das Planungsteam wurde sich schnell einig, dass der neu begehbare und erfahrbare Sihlraum so wenig wie möglich kanalisiert und verbaut werden sollte. Erste wirklichkeitsnahe Visualisierungen der Architekten waren dabei wesentliche Entscheidungshilfen, die schliesslich zusammen mit den technischen Argumenten der Ingenieure (z.B. setzungsarme Fundation auf SZU-Tunnel) der zweifeldrigen Brückenplatte den Vorzug gaben. Mitentscheidend war, dass beim 2-Feld-Balken der Scheitelpunkt des Strassengefälles mit dem Standort des Pfeilers und der grössten Plattenstärke zusammenfiel. Die zweifeldrige Brücke wirkte im Vergleich zur dreifeldrigen Lösung deutlich schlanker und eleganter, die geschätzten Kostenunterschiede zwischen den Varianten waren unbedeutend.

Die einzige Lösung für eine schlanke Betonbrücke bei Spannweiten von 2 × 22 m ist die vorgespannte Platte. Aufgrund der beim Projektstart definierten Wirkung der Brückenuntersicht auf den Sihlraum wurden von Architekten und Bauingenieuren verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten für den Plattenquerschnitt untersucht. Die Diskussion ergab den Wunsch nach einer wellenförmigen Untersicht, die eine unverkennbare Affinität zum Wasser und zur Fliessrichtung besitzt und damit positiv auf das Erlebnis des Flussraums einwirkt. Gleichzeitig bewirkt die Wellenform eine balkenartige Verstärkung, die auch statisch sinnvoll ist, da die grösste Plattenstärke mit den Stellen der maximalen Beanspruchung zusammenfällt. «Form follows function» wird in Längs- und Querrichtung gut umgesetzt. Die Mehrkosten der wellenförmigen Schalung belaufen sich auf etwa 1 % der gesamten Baukosten, was das gesamte TU-Team vertretbar fand.

Die Pfeilerform ist ein weiteres Element, das die Erscheinung der Brücke aufgrund der insgesamt reduzierten formalen Gestaltung umso stärker prägt. Ingenieure und Architekten vertraten anfänglich unterschiedliche Meinungen, welche Aussage die formale Gestaltung des Pfeilers erzielen soll. Die Architekten bevorzugten die ausgeführte Version: der Pfeiler als kräftige Auflagerscheibe, die sich den Wassermassen entgegenstemmt und daher formal zur Brückenuntersicht hin verjüngt werden muss. Der gesamte Baukörper tritt als gedrungener, flach über dem Wasser liegender Körper elegant und zurückhaltend in Erscheinung. Die Zusammenarbeit im Planungs­team der neuen Gessnerbrücke hat gut funktioniert. Das Resultat überzeugt sowohl die darin vertretenen Bauingenieure als auch die Architekten und den Bauunternehmer. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Entwurf geschah kollegial und mit konsequentem Blick auf die gesetzten Prioritäten und Ziele, sodass ein Bauwerk ohne Kompromisse entstand. Im übertragenen Sinn gilt auch hier die Aussage, dass das gemeinsam erzielte Ergebnis besser als die Summe der Einzelleistungen ist.

Der Entwurf einer Brücke kann aufgrund technischer und städtebaulicher Rahmenbedingungen zu einer komplexen Aufgabe werden, die von einem Team aus Bauingenieuren und Architekten gelöst werden sollte. Verschiedene gute Beispiele der vergangenen Jahre zeigen, dass ein effizientes und robustes Tragwerk und eine hohe gestalterische Qualität gut vereinbare Ziele sind, ohne dass sich erhebliche Mehrkosten ergeben. Die Kunst liegt darin, die Prioritäten bereits bei der Konzeptwahl richtig zu setzen. Somit kann eine gestalterisch gute Lösung sehr wirtschaftlich sein.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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