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tec21 2006|7
Le Corbusier
tec21 2006|7
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Inkunabel

Das «Immeuble Clarté» in Genf wird auf Druck der Behörden endlich renoviert. Das bedeutendste Werk von Le Corbusier in der Schweiz ist seit langem in schlechtem Zustand. Doch renoviert wird nur das Äussere. Stockwerkeigentum und ein drohender Verkauf einzelner Wohnungen an die Meistbietenden verhindern eine denkmalgerechte Behandlung im Inneren. Die Gründung einer Stiftung könnte helfen.

10. Februar 2006 - Isabelle Claden
«SOS» titelte die Zeitschrift «Werk» schon 1969 und rief Architekturfachleute zur Rettung des «Immeuble Clarté» auf. Heute ist die Situation des Denkmals noch prekärer als damals. Als Kandidat für das Unesco-Weltkulturerbe und seit 1986 unter Denkmalschutz gestellt, ist die Maison Clarté an der Rue Saint-Laurent 2/4 nicht vom Abbruch bedroht. Doch wegen der Besitzverhältnisse (Stockwerkeigentum) und weil mehr als die Hälfte der Besitzanteile von einem Konkurs betroffen sind, steht das Gebäude vor einer unsicheren Zukunft. Nun wird zwar mit der unbedingt notwendigen umfangreichen Restaurierung der Gebäudehülle begonnen. Doch ist nicht geklärt, wie weitgehend das einzigartige Bauwerk erhalten werden kann.

Ein Pionierwerk Le Corbusiers

Le Corbusier hat zahlreiche Projekte erarbeitet, auf die Genf heute stolz sein könnte, doch nur ein einziges konnte er realisieren. Die 1931/32 erstellte Maison Clarté ist wegen der darin verwirklichten innovativen Ideen weit über die Landesgrenzen hinaus von Bedeutung. Die Pläne und Skizzen des ersten Mehrfamilienhauses von Le Corbusier zeigen nämlich bereits die kühnsten Konzepte des gemeinschaftlichen Wohnbaus des 20. Jahrhunderts von den «immeubles villas» mit hängenden Gärten bis zum Prinzip der «rue intérieure», das zwanzig Jahre später in der Unité d’habitation in Marseille verwirklicht wurde. Das gewissermassen im Baukastensystem erstellte Gebäude beeindruckt durch die erfinderische Zusammensetzung und die Präzision der industriell vorproduzierten Elemente des Unternehmens Wanner. Der kombinierte Einfallsreichtum des Architekten und seines mitentwickelnden Auftraggebers Edmond Wanner machte den Bau eines eigentlichen Prototyps möglich, sowohl was die Standardisierung des Bauverfahrens betrifft (elektrisch geschweisste Eisenskelettkonstruktion, Trockenbauweise) als auch die eingesetzten Materialien und Detailkonstruktionen (Schiebefenster auf Kugellagern, «Solomite»-Paneele aus komprimiertem Stroh usw.). Wichtigstes Element mit Vorbildcharakter ist die Fassade, eine einzige, doppelverglaste Fensterfläche, die möglich wurde, weil die Skelettbauweise die Fassade von statischen Aufgaben befreite.
Hinter seiner durch die konstruktive Strenge ermöglichten einfachen Erscheinung weist diese «unité d’habitation» mit ihren ein- und zweistöckigen Wohnungen vom Studio bis zu neun Zimmern eine grosse typologische und somit auch soziale Vielfalt auf, um die man sie heute nur beneiden kann. Im Originalzustand gab es 45 Wohnungen, einen Fitnessraum und eine Zahnarztpraxis im 1. Stock sowie diverse Läden, Ateliers und Garagen im Erdgeschoss. Die vielfältigen Raumelemente haben Entwürfe vieler Architekten beinflusst und werden es wohl auch weiterhin tun. Die Konstruktion, die nun bei der Bauaufnahme wieder zum Vorschein kam, erwies sich allerdings als komplex.

Flickwerk und Pleiten

Die Maison Clarté war für Edmond Wanner von Anfang an ein finanzieller Fehlschlag. Die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre erlaubte es nicht, für die Wohnungen von gehobenem Standard in einem Handwerkerquartier einen angemessenen Mietpreis zu verlangen. Nach ein paar kleineren Renovationen zur Abdichtung von Dach und Balkonen, die der Architekt Marc-Joseph Saugey in den 1950er-Jahren ausführte, fasste der Eigentümer 1969 einen Abbruch und Wiederaufbau ins Auge, was billiger gewesen wäre als eine Renovation. Unter der Federführung des Bundes Schweizer Architekten gründeten rund sechzig Architekten und Liebhaber eine Immobilienfirma und kauften das Gebäude. Wegen der Unentschlossenheit in der Gruppe übernahmen die Architekten Bruno Camoletti und Pascal Häusermann die Aktien und liessen 1975–77 diverse Arbeiten ausführen. Bei dieser Gelegenheit bauten sie die achte und die neunte Etage um und privatisierten dabei die bis dahin allen Bewohnern zugängliche Dachterrasse. Die übrigen Eingriffe betrafen die technischen Installationen und punktuelle Reparaturen (Verglasungen, Spenglerarbeiten, Storen, Innenausbau usw.). 1986 gründeten sie die Clarté AG, wandelten das Mietshaus in Stockwerkeigentum um und verkauften Teile des Gebäudes an verschiedene Personen.

Doch die finanziellen Schwierigkeiten waren damit nicht gelöst. 1999 geriet der Anteil Camolettis (56% der Clarté AG) in Konkurs. Diesen Anteil verwaltet seither die Stiftung zur Verwertung der Aktiva der Genfer Kantonalbank. Einen vom Betreibungsamt festgelegten Verkaufspreis für die konkursiten Teile (19 Wohnungen, 10 Büros, 7 Lokale im Erdgeschoss, davon 4 Garagen) beurteilte die Stiftung als zu tief und entschied sich, sie an die Meistbietenden zu verkaufen.

Denkmalpflege unterstützt Restaurierung

Wegen des Versagens der Eigentümergemeinschaft und ihrer Entscheidungsunfähigkeit hat das Gebäude schwer gelitten. Verschiedene Renovationen an der Gebäudehülle und an den technischen Installationen sind unterdessen dringend. Die obersten Wohnungen weisen Wasserschäden auf, weil das Flachdach undicht ist; das gesamte Attikageschoss ist in sehr schlechtem Zustand. Bei den Balkonen sind die tragenden Elemente aus Stahl und die Geländer verrostet, und an der Südfassade sind wegen Dilatation diverse Fensterscheiben gebrochen. Viele Schiebefenster lassen sich nicht mehr öffnen, weil die Kugellager fehlen.

Im Bestreben, dieses einzigartige Werk zu erhalten, liess die Denkmalpflege des Kantons Genf seit 1990 in verschiedenen Studien sämtliche für eine allfällige Renovation nötigen Daten sammeln. Eine Untersuchung der Gebäudehülle wurde 1992/93 vom Architekturbüro Devanthéry et Lamunière durchgeführt. Dann folgten anlässlich der Renovation einer Wohnung im Auftrag eines Privatkunden diverse Experimente an der Fassade. Vor kurzem hat der Architekt Laurent Chenu ein Inventar des gesamten Gebäudeinneren erstellt. Seinen ausführlichen Zustandsbericht ergänzt eine «Schutzcharta» mit Regeln, die für alle Innenarbeiten gelten sollen.

Nach dem Eingreifen der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege und der entsprechenden kantonalen Behörde und unter dem Druck des Staatsrats, der drohte, die Arbeiten von Amtes wegen ausführen zu lassen, wurden schliesslich die Voraussetzungen zur Arbeitsvergabe durch die Miteigentümer geschaffen. Es ist die erste gründliche Renovation des Gebäudes, doch sie betrifft nur die Aussenhülle – Dach, Fassaden und Balkone – und einige technische Installationen und Normanpassungen, nicht aber die Wohnungen. Ziel ist eine möglichst weit gehende Substanzerhaltung. Technische Verbesserungen sollen nach Möglichkeit mit einbezogen werden. Die Kosten belaufen sich auf fast 10 Mio. Fr., wovon Bund und Kanton rund 22% übernehmen.

Die Arbeiten an den Fassaden haben unter der Federführung des Architekten Jacques de Chambrier vom Büro Sartorio, de Chambrier und Dutheil soeben begonnen. Zur Ermittlung der Vorgehensweise wurden vor Ort Aufnahmen, Sondierungen und Demontageversuche durchgeführt. Eric Favre-Bulle vom Atelier Saint-Dismas hat im Auftrag der Denkmalpflege Farbanalysen vorgenommen. Die Baustelle verspricht eine Fundgrube zu werden.

Vers une Fondation Clarté?

Inzwischen wurde die vor einigen Jahren vom Unterstützungskomitee für die «Maison Clarté» lancierte Idee einer Stiftung konkretisiert, die das Gebäude als Eigentümerin übernehmen könnte. Die Stadt und der Kanton Genf haben Statuten erarbeitet, und der Stadtrat hat der Kantonalbank-Stiftung ein Übernahmeangebot in der Höhe von 10 Mio. Fr. für die in Konkurs geratenen Anteile unterbreitet. Doch diese lehnte ab und hielt an der Versteigerung fest. Bis heute wurde allerdings noch keine Wohnung versteigert. Eine Fondation Clarté als Eigentümerin der Mehrheit der Anteile könnte die Erhaltung des Gebäudes nachhaltig sichern, weitere Eigentümer und Vereine einbeziehen, von Spendengeldern profitieren und mindestens eine Musterwohnung öffentlich zugänglich machen. Vor allem aber könnte wohl nur sie den «wilden» Umbau der Wohnungen stoppen und dafür sorgen, dass auch das Gebäudeinnere möglichst originalgetreu instandgesetzt und erhalten wird. Einige Wohnungsbesitzer wollen nämlich umbauen, andere haben es schon getan, oft ohne Respekt für die Architektur des Gebäudes oder gar mit illegalen Grundrissänderungen und Wohnungsvergrösserungen. Der Schweizer Heimatschutz will nun die Idee einer Stiftung noch einmal lancieren, indem er die Maison Clarté auf seine rote Liste gefährdeter Gebäude setzt (www.roteliste.ch). Letzter Schatten über der Maison Clarté bleibt so die Frage des Verkaufspreises. Er wäre nach realistischen Gesichtspunkten zu bestimmen und nicht durch die Spekulation mit dem Namen Le Corbusier. Die Maison Clarté ist ein Teil des Weltkulturerbes und kein Objekt für Meistbietende.
Literatur:
Jacques Gubler: SOS, Le sort de l’immeuble «Clarté» de Le Corbusier & Pierre Jeanneret, in: Werk 5/1969.
Catherine Courtiau: L’immeuble Clarté Genève, Le Corbusier 1931/32. Schweizerische Kunstführer GSK, 1982.
Le Corbusier à Genève 1922–1932. Ausstellungskatalog. Editions Payot, Lausanne, 1987.
Christian Sumi: Treppenhaus als Lichtquelle, in: Werk 6/1989.
La costruzione dell’Immeuble Clarté. Ausstellungskatalog. Accademia di architettura dell’Universita della Svizzera italiana, Mendrisio, 1999.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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