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TEC21 2007|21
Retro
TEC21 2007|21
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Motiv oder Cliché?

Retro reicht von der Implementierung ganzer Stadtgestalten bis zur (meist nur äusserlich) lupenreinen «Kopie» eines Gebäudes, von der typologischen Anleihe bis zur Adaption einzelner Elemente, von der plumpen Applikation bis zur Rehabilitation des Ornaments, von der erklärten Hommage an einen Architekten bis zur versteckten Analogie. Die Art der Annäherung entscheidet, ob ein Bauwerk das «Vor-Bild» als Motiv würdigt oder nur als Cliché.

Es gibt das Röhrenverstärker- ebenso wie das Käfer-Beetle-Prinzip (siehe Editorial und Bilder 1, 2): Typologische Anleihen, Hommagen und Transpositionen tendieren zu Ersterem. Sie entwickeln einen schon einmal gedachten Baugedanken inhaltlich weiter und machen den Ursprung in der formalen und / oder konstruktiven Umsetzung kenntlich. Stilzitate neigen zu Letzterem. Sie scheren sich kaum um die ursprüngliche Bedeutung, sondern inszenieren den dekorativen Effekt. Im besten Fall sind sie immerhin ironisch gebrochen.

Epochal und repräsentativ

Das «steinerne Berlin» hat keinen geringeren Ehrgeiz, als durch die Reproduktion seiner ­Architektur die Attribute einer ganzen Epoche neu zu implementieren, die lebendige Stadt des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Doch so einfach ist das nicht. Angelus Eisinger konstatiert, da werde Stadtgestalt mit Stadtwirklichkeit verwechselt: «Die durchmischte Stadt des Flaneurs, die dieser nostalgisch-kultivierten Stadtvorstellung Pate gestanden hat, ereignet sich in diesen Räumen nicht.»[1]
Absichten und Ziel müssen ja nicht immer derart hehr und hochgesteckt sein. Gerade bei Prestigebauten spielte bei Fürsten früher und spielt bei Bürgermeistern heute das kindliche Verlangen mit, das haben zu wollen, was der andere hat. So hat man sich im süddeutschen Sigmaringen die Rathauserweiterung von Rafael Moneo, die dieser im spanischen Murcia 1999 errichtete, zum Vorbild für die eigene Erweiterung genommen (Architektengruppe Überlingen, Marion Roland-König). Fast rührt es einen an. Die Grösse stimmt nicht, Proportionen und Material auch nicht, das Verhältnis Öffnung zu Wand, mit dem Moneo ein raffiniertes Spiel trieb, wirkt hier dann doch etwas plump. Da der Meister nicht fürchten muss, dass hier sein geistiges Eigentum geraubt worden sei, sieht man in einem solchen Fall über die Parallelitäten hinweg und belässt es bei einem Achselzucken. (Bilder 3, 4)

Selbstreferenziell

Denn das ist ja das Heikle an der Sache: Wer zu unverfroren nachmacht, gilt als Dieb des geistigen Eigentums. Am einfachsten ist es daher, die eigenen Entwürfe zu recyclen. Das erspart die Probleme mit dem Urheberschutz, birgt aber die Gefahr, den Spott der Kritiker auf sich zu ziehen. So meinte Jörg Hentzschel in der «Süddeutschen Zeitung» einmal über Frank Gehry, er sei wie der Mann, der immer denselben Witz erzählt, nur weil sich die Leute beim ersten Mal geschüttelt hätten. Und doch zitiert Gehry nicht einmal nur sich selber: Oder sind seine Prager «Ginger und Fred» (1994–1996) etwa nicht eine – wenn auch nur floskelhafte – Replik auf Scharouns Stuttgarter «Romeo und Julia» (1954–1959)?
Eher ungeschoren kommt davon, wer sich unrealisierte Projekte oder Skizzen vornimmt – wenn auch, wie im Fall von Theo Hotz’ Projekt von 2005 für den 90 Meter hohen Turm beim Tramdepot am Escher-Wyss-Platz in Zürich (siehe TEC21, Nr. 13, 2006, S. 26) das Mies’sche Vorbild – der Entwurf für ein Hochhaus aus Glas von 1992 – stark im kollektiven Architekturgedächtnis verankert ist. Das gilt ebenso für Zaha Hadids 2005 präsentierten «Zhivopisnaya Tower» am Ufer der Moskwa, einen mehrflügeligen, mit Aluminiumbändern durchwirkten Turm, der «verdächtig» an Mies van der Rohes «Entwurf für das Hochhaus an der Friedrichsstrasse» von 1921 erinnert (Bilder 5, 6).

Verborgen

Reizvoller sind diejenigen Referenzen, deren «Vorbilder» in den verschütteten Gegenden des Architekturgedächtnisses schlummern: Herzog & de Meurons Bibliothek in Cottbus (1998–2004) ist oft in Beziehung gesetzt worden zum «Castel del Monte», das Friedrich II. Mitte des 13. Jahrhunderts in Apulien errichtete (1240–1250). Das macht Sinn für einen Hort des Wissens, war doch der Hohenstaufer-Kaiser einer der gebildetsten Herrscher jener Zeit. Doch die Basler Architekten haben sich immer auf die Grundrissform der Amöbe berufen, und hier wird man bei Wallace K. Harrison und seiner «Hall of Science» fündig, die er 1964 anlässlich der Weltausstellung in New York baute. Nicht nur hat sie einen Grundriss, den man mit der Form einer Amöbe assoziieren könnte. Auch Harrison verlieh dem Bau eine ­sakrale Wirkung. Er griff auf das Motiv bunter Kirchenglasfenster zurück, wie er sie in der First Presbyterian Church in Stamford 1958 eingesetzt hatte, und adaptierte sie: Die ondulierenden Aussenwände bestehen aus rechteckigen Kassetten, in die kobaltblaue Glasscherben eingesetzt sind. Harrisons Halle erscheint wie der archaische Ursprung der technologischen Fassung von Herzog & de Meuron – mit kryptischen Schriftzeichen bedrucktes Glas – in Cottbus. (Bilder 7, 8)

Typologisch

Die unverdächtigsten Anleihen sind die typologischen. Ein Gebäude nach oben hin abzutreppen, um jedem Stockwerk eine besonnte Terrasse zur Verfügung zu stellen, ist ein solches Motiv. Wie beim Arag-Verwaltungsgebäude von Paul Schneider-Eisleben in Düsseldorf von 1966 wird beim 2005 fertig gestellten Bürogebäude «Dockland» in Hamburg von Bothe Richter Teherani jedes Stockwerk mit Terrasse versehen, und diese werden untereinander über eine Treppe verbunden.
In Hamburg sind die Terrassen und das Dach sogar öffentlich zugänglich, und die Architekten haben es mit einem Kunstgriff verstanden, die Lage am Wasser so zu nutzen, dass genauso viel Raum wie in einem Quader zur Verfügung steht: Geformt wie ein Trapez wird vorne einfach angehängt, was hinten durch die Terrassierung verloren gegangen ist (Bilder 11, 12).

Respektvoll

Ähnlichkeiten müssen aber nicht unbedingt als Raub gelten. Sie können sogar beides sein: Kampfansage und Ehrfurchtsbekundung in einem. Zu ihnen gehörte die Tessiner Tendenza mit einem ihrer unlängst verstorbenen Protagonisten, Livio Vacchini, der 1997 mit der Mehrzweckhalle in Losone – in der Tradition von Schinkel und Mies van der Rohe – den griechischen Tempel neu interpretierte (siehe Seite 20).
Kürzlich gelegt wurde der Grundstein für die Elbphilharmonie in Hamburg (Herzog & de Meuron). Nicht nur der Name, auch die geschwungene Dachform verweist auf die Philharmonie von Scharoun in Berlin, und mit der Beschreibung der Fassade als «schillerndem Glaskörper» werden Scharouns Ideen einer kristallenen Architektur der 1920er-Jahre ebenfalls gewürdigt. Scharoun hat mit der Philharmonie eine Form des Konzerthauses erfunden, die noch so oft kopiert werden kann und trotzdem unvergleichlich bleibt. Und auch wenn Herzog & de Meuron auf sie anspielen, so wird die Philharmonie in Hamburg immer etwas anderes als die in Berlin sein, wird sie sich doch hier am Wasser auf dem Kaispeicher von Werner Kallmorgen (1966) erheben und ausserdem Hotel, Restaurants und Wohnungen aufnehmen (Bilder 9, 10). (Dass der Speicher nebenbei zur Prothese gemacht wird, ist eine andere Geschichte.)

Missverstanden

Unter dem Eindruck einer am Vorbild der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts orientierten Planung der letzten drei Dekaden gerieten die Alternativen zum standardisierten Wohnen in monofunktionalistischen Siedlungen der 1960er-Jahre in Vergessenheit. Die Collage von Wilfried Dechau aus den späten 1970er-Jahren – wieder aufgegriffen von Xavier Gonzales (Bild 13) – überlagert den Wunsch der Menschen nach Individualität à la Gartenhäuschen, mit der Architektur des Mietwohnungsbaus. Weniger radikal, nur mit der gleichen Technik der Collage, stellt sich der Wohnungsbau «Silodam» im Amsterdamer Hafen von MVRDV dar – wenn auch hier die Individualität nur noch aus einem bestehenden Angebot gewählt werden kann (Bild 14). Ähnlich ist es mit dem hochgradig ästhetisierten Konzept des auf der Möbelmesse in Köln vorgestellten «Ideal House» von Zaha Hadid. Raum und Möbel werden zu einem Kontinuum von höhlenartigen Konfigurationen komponiert. Es mag auf dem gleichen Misstrauen gegenüber funktionalistischen Standardformen gründen, die Friedrich Kiesler zu seinem «Endless House» führten. Dessen Innenräumen ähnelt Hadids Entwurf auffällig. Kiesler konnte sein Projekt nie verwirklichen, es war aber als Gegenteil einer Lösung gedacht, das dem Benutzer die Auseinandersetzung mit sich selbst abnimmt. Zaha Hadid hingegen liefert die vollendet inszenierte Lösung (Bilder 15, 16).

Auch in der Architektur stellt sich die Frage: Hat der Röhrenverstärker oder der New Beetle Pate gestanden? Orientiert sich der retrospektive Bau am Topos bzw. am Motiv des «Vor-Bilds» und verleiht ihm eine neue Bedeutungsebene, oder reduziert die Retro-Variante es auf die Phrase bzw. das Cliché?
Anmerkung
[1] Eisinger, Angelus: Die Stadt der Architekten. Anatomie einer Selbstdemontage. Gütersloh / Berlin und Basel / Boston / Berlin, 2006, S. 149.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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