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hochparterre 11|2007
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 11|2007
zur Zeitschrift: hochparterre

Das ‹neue Moskau› wird fünfzehn

Seit 15 Jahren ist in Moskau Bürgermeister Jurij Lushkow an der Macht. In dieser Zeit hat der Kapitalismus Einzug gehalten und aus der tristen Sowjetmetropole ist eine glitzernde Boomtown geworden. Es wird tüchtig gebaut und noch tüchtiger verdient an der Moskwa.

6. November 2007 - Werner Huber
«So etwas gab es noch nie in der Geschichte unseres Staates, in der Geschichte unserer Architektur und in der Geschichte unserer Stadt», sprach der Moskauer Bürgermeister Jurij Michajlowitsch Lushkow am 18. September anlässlich der Grundsteinlegung des Turms ‹Rossija›. 612 Meter hoch, so hoch wie kein anderes Gebäude in Europa, wird der von Norman Foster geplante und von Lushkow-Freund Schalwa Tschigirinskij bezahlte Bau aufragen! Das Internationale Moskauer Geschäftszentrum MMDZ ‹Moskwa-City›, in dem Lushkow den Grundstein des ‹Rossija›-Turms legte, liegt rund fünf Kilometer westlich des Kremls an der Moskwa. Auf einem Areal von 90 Hektaren soll im Endausbau für 10 bis 12 Milliarden Dollar eine Geschossfläche von 2,5 bis 3 Millionen Quadratmetern entstehen. Bereits hat die Stadt zwei Metrostationen gebaut, und die Automobilisten gelangen über den dritten Verkehrsring direkt ins MMDZ – falls sie nicht in einem der endlosen täglichen Staus stehen. 1991 genehmigte der damalige Bürgermeister Popow das Konzept der ‹Moskwa-City›, und im Frühjahr 1993 tauchten an den spärlichen Plakatwänden Moskaus Affichen auf, die für Aktien der ‹City› warben. Die Skizze einer Hochhausschar zeigte, worum es ging. Die Leute schüttelten den Kopf über ein solches Hirngespinst, doch die Promotoren meinten es ernst: Am 1. Dezember 1995 legte Premierminister Tschernomyrdin den Grundstein des MMDZ. In die ‹Baschni na Nabereshnoj› (Türme am Ufer) sind die ersten Mieter eingezogen, und auch das Geschäftshaus ‹Federazija› gehört zu den Pionieren der ‹Moskwa-City›. ‹Gorod Stoliz›, die Stadt der Hauptstädte, illustriert das russische Flair für bedeutungsschwere Namen: Die Überbauung besteht aus den Türmen ‹Moskau› und ‹St. Petersburg›, und es ist klar, welcher der grössere ist: ‹Moskau› mit 73 Geschossen stellt ‹St. Petersburg› mit bloss 62 in den Schatten. Auch der Turm ‹Rossija› hat bildliche Bedeutung: «Dieser Turm wird zum Symbol Russlands, das in die Zukunft, nach oben, gerichtet ist», sprach Jurij Lushkow, und Metropolit Kliment segnete die Baugrube.

Aufschwung und Krise

Die Zeremonie in den Fundamenten am Ufer der Moskwa war ein weiterer Höhepunkt in Lushkows Karriere. Diese dauert nun schon 15 Jahre, in denen der Bürgermeister seine Stadt geprägt hat wie kein anderer Magistrat in Europa. Dabei hatte damals, als er die Nachfolge des Glasnost- und Perestrojka-Reformers Gawriil Popow antrat, nichts nach einer Erfolgsgeschichte ausgesehen. Die Sowjetunion war soeben auseinandergebrochen, die Wirtschaft lag am Boden. Schon seit dem Beginn seiner Amtszeit macht sich Bürgermeister Lushkow jeweils samstags auf den Weg, um die Baustellen in seiner Stadt zu besuchen und korrigierend einzugreifen. In den ersten Jahren umfasste diese Fahrt wenige Stationen, die Neubauten liessen sich an einer Hand abzählen; nach dem Zusammenbruch der UdSSR mussten erst das wirtschaftliche und das politische System neu eingerichtet werden. Der Tiefpunkt war im Oktober 1993 erreicht, als Präsident Boris Jelzin das noch aus der Sowjetzeit stammende Parlament mit Panzern aus dem ‹Weissen Haus› vertrieb. Bürgermeister Lushkow kurbelte die Entwicklung seiner Stadt nach Kräften an. Mit der grossen Kelle richtete er im Vorfeld der 850-Jahr-Feier Moskaus an, die 1997 ins Haus stand. Er liess die unter Stalin gesprengte Christi-Erlöser-Kathedrale neu aufbauen und unter dem Manegeplatz ein dreigeschossiges Einkaufszentrum anlegen; der Zoo erhielt einen neuen Eingang und neue Tiere. Der Feier vom Herbst 1997 folgte im nächsten Sommer der Kater, als die Wirtschaft zusammenbrach. Doch nach dieser ‹Krisis› fasste die russische Wirtschaft bald wieder Tritt. Der von Präsident Jelzin als Nachfolger vorgeschlagene Wladimir Putin versucht bis heute Russland den Grossmachtstatus zurückzugeben. Die Russinnen und Russen danken es ihm mit Zustimmung, denn jetzt haben sie endlich das, was sie während der Neunzigerjahre so vermissten: Stabilität. Aus der abgehalfterten Sowjetmetropole von einst ist die überbordende Boomtown des kapitalistischen Russland geworden. Jurij Lushkow, dem Präsident Putin kürzlich den Segen zu einer weiteren – seiner fünften – Amtszeit gegeben hat, muss sich auf seinen Samstagsausflügen auf die wichtigsten Brennpunkte konzentrieren.

Viel Gebautes – wenig Architektur Anders als vor neunzig Jahren, als die Oktoberrevolution Architekten und Künstler zu Höchstleistungen beflügelte und Russland zu einem Brennpunkt des konstruktivismus wurde, sind heute in der Architektur kaum neue Impulse auszumachen. Kein Wunder, geht es doch heute nicht darum, eine grundlegend neue Welt zu erschaffen. Vielmehr sucht die russische Nation nach alten Traditionen und alter Grösse und bedient sich dabei einmal in der Zarenzeit, ein andermal in der Stalinzeit.

Moderne Architektur hatte in Russland schon immer einen schweren Stand, selbst der Konstruktivismus war ein Phänomen, das nur wenige Architekten praktizierten. Der sozialistische Realismus mit seinen Palästen für das Volk traf den Geschmack der Masse viel besser. Damit war aber 1955 Schluss, und die Architekten waren gezwungen, in modernen Formen Massenware zu produzieren. Dieser Druck liess Ende der Achtzigerjahre nach, das Pendel begann in die andere Richtung auszuschlagen. So war den Behörden die Unterstützung gewiss, als sie in den Neunzigern für Bauten in der Innenstadt den ‹Moskauer Stil› forderten – was immer auch darunter zu verstehen war. Einen Höhepunkt dieser Strömung markiert der ‹Triumph-Palast›, eine 265 Meter hohe schlechte Kopie eines der sieben stalinistischen Zuckerbäckerhochhäuser.

Seit einigen Jahren ist das Spektrum breiter geworden.

Architekturbüros wie ABD von Boris Lewjant oder Sergej Kiseljow und Partner (HP 3/02), die als kleine Kooperativen begannen, zählen heute über fünfzig Mitarbeiter und sind zu Garanten für Qualität geworden. Zudem rückt eine junge Architektengeneration nach, die von der Reisefreiheit Gebrauch macht und über das Internet kommuniziert. Diese Leute wissen, was sich auf dem internationalen Architekturparkett abspielt und lassen sich nicht durch ein Stildiktat einschränken. Allmählich dringen sie auch ins Stadtgebiet innerhalb des Gartenrings vor. So entdeckten die Projektentwickler die Qualitäten des zentral, aber dennoch ruhig gelegenen Ostoshenka-Quartiers, das zur ‹Goldenen Meile› avancierte. Hier entstanden für Gutbetuchte zeitgenössische Wohnbauten, frei von jeder russischen Dekoration und ein Zeichen dafür, dass die russische Architektur die Zeiten der Extreme hinter sich lässt.

Moskau in Gefahr!

Der Nachholbedarf an Geschäftsräumen liess die Mietpreise im Zentrum explodieren. Diesem Druck können die alten Häuser nicht standhalten, und der Denkmalschutz kann das Abbruchfieber nicht stoppen. Die russische Bauordnung beruht ebenso stark auf Beziehungen wie auf Paragrafen (HP 4/02), und schliesslich profitiert auch die Stadtkasse vom Boom. Dieser hat Elena Baturina, die Besitzerin der Immobilien- und Baufirma Inteko, zur reichsten Frau Russlands gemacht. Ihr Vermögen beträgt 2,3 Milliarden Dollar, ihr Ehemann heisst – Jurij Lushkow. Die ‹Chronik der Vernichtung des alten Moskau 1990–2006› verzeichnet 650 Bauten. Mancherorts steht nun ein Neubau, der alt tut, doch beliebt ist auch die Formel von Abriss und ‹verbessertem› Neubau. Diese kam beim Kaufhaus ‹Woentorg› von 1913 zur Anwendung, dessen neue Fassaden eine schlechte Mischung aus dem Altbau und den beliebten ‹neo-neoklassizistischen› Zutaten sind. So erging es auch dem Hotel ‹Moskwa›, das 1935 die Sowjetarchitektur einläutete. Angeblich wegen Baufälligkeit hat man das Gebäude platt gewalzt und baut es ‹verbessert› wieder auf. In Trümmer fielen auch das ‹Intourist›, das dem ‹Ritz-Carlton› Platz machte, und als grösstes das ‹Rossija›. Falls die Gerichte den Landhandel nicht stoppen (HP 1-2/07), wird auf dem Areal des grössten Hotels Europas die gleiche Trojka wie beim Turm ‹Rossija› – Bürgermeister Lushkow, Investor Tschigirinskij und Norman Foster – den Grundstein für ein neues Stadtquartier legen.


Architekturführer Moskau
Der Hochparterre-Redaktor Werner Huber hat 1992–1994 in Moskau gelebt und seither das Geschehen in der russischen Hauptstadt nicht aus den Augen gelassen. Sein Buch ‹Moskau – Metropole im Wandel› beleuchtet die städtebauliche und architektonische Entwicklung der Stadt von den Anfängen bis heute. Das Schwergewicht liegt dabei auf den Jahren nach 1935, als der Stalin-Plan den Grundstein für den Umbau der Stadt legte. Besondere Aufmerksamkeit wird zudem der Entwicklung der letzten 15 Jahre zuteil, in denen aus der sozialistischen eine kapitalistische Metropole wurde.
--› Werner Huber: Moskau – Metropole im Wandel, Böhlau Verlag, Köln 2007, CHF 35.40
--› Bestellung: 044 271 25 00, info@hochparterre-buecher.ch
--› Buchpräsentation: Hochparterre Bücher, Gasometerstrasse 28, 8005 Zürich, Donnerstag, 22. November 2007, 18 Uhr

Das Zentrum Moskaus
Neubauten und Rekonstruktionen:
1 MMDZ ‹Moskwa-City›
2 Christi-Erlöser-Kathedrale
3 Manegeplatz
4 Zoo
5 Wohnhaus ‹Triumph-Palast›
6 Ostoshenka-Quartier
7 Ehemaliges Kaufhaus ‹Woentorg›
8 Hotel ‹Moskwa›
9 Hotel ‹Ritz-Carlton› (ehem. ‹Intourist›)
10 Ehemaliges Hotel ‹Rossija›
Historisches:
11 Kreml
12 Roter Platz
13 Bolschoj-Theater
14 Zentrosojuz (Le Corbusier)
15 Neuer Arbat (ehem. Kalininprospekt)
16 Gartenring

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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