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TEC21 2008|09
Mustersiedlungen
TEC21 2008|09
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Inspirationsquelle

Die Zersiedlung der Landschaft in der Schweiz ist zu einem nationalen Politikum geworden. Der Ruf nach starker Verdichtung und nach der kompakten Stadt ist allgegenwärtig. Dass grosszügiges Wohnen ohne Zersiedlung und mit guter ÖV-Anbindung möglich ist, zeigen die so genannten Vinex-Stadterweiterungen in den Niederlanden. Nachdem sie aufgrund verschiedener Anfangsfehler als Schreckgespenst galten, sind die Grundprinzipien dieser Stadterweiterungen inzwischen in vielen Ländern zur Inspirationsquelle geworden.

3. März 2008 - Han van de Wetering
In der Fachdiskussion über die Zersiedlung wird oft vergessen, dass eine Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Einwohner von zentraler Bedeutung ist, will man die Siedlungserweiterung effektiv beschränken. Nach wie vor meiden viele Menschen dichte Stadtgebiete. Sie bevorzugen ein Haus im Grünen und nehmen dafür in Kauf, dass sie weit entfernt von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen wohnen und auf das Auto angewiesen sind. Die Resultate sind bekannt: Zersiedlung des periurbanen Raumes mit Einfamilienhausquartieren und starke Zunahme des Autoverkehrs. Auch die Niederlande sehen sich seit längerem mit diesen Problemen konfrontiert. Der ungünstigen Entwicklung wird dort mit einem von der Regierung initiierten landesweiten Programm entgegengewirkt: «Vinex» (Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra, übersetzt: Zusatzprogramm zum vierten Raumordnungsbericht).

Kompakte Gartenstädte

Anfang der 1990er-Jahre haben die Planungen für dieses Programm begonnen. Es legte fest, dass als Reaktion auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum und die grassierende Wohnungsknappheit innerhalb von 15 Jahren Stadterweiterungen mit insgesamt über einer Million Wohnungen zu bauen sind. Wichtig war, die mittleren und oberen Bevölkerungsschichten in den Städten zu halten. Dafür brauchte es geräumige und familienfreundliche Quartiere mit grossen Wohnungen und privatem Grünraum. Um eine soziale Segregation zu verhindern, sollten mindestens 30 % der Überbauungen als Sozialwohnungen ausgebaut werden. Um ein günstiges und kontrolliertes Wachstum zu fördern, mussten die Vinex- Quartiere eine Mindestdichte und eine gute ÖV-Erschliessung aufweisen. Um das Wohnungsbauprogramm zu realisieren, schied die Regierung nahe den Städten grossräumige Bauzonen aus. Darauf wurden Siedlungen in einer Art kompakter Gartenstädte mit minimal 30 Wohnungen pro Hektare erstellt. Die Dichte der Vinex-Quartiere bei grossen Städten liegt hingegen bei 55 bis 75, diejenige der kleineren Provinzstädte bei etwa 40 Wohnungen pro Hektare. Die Grösse der Stadterweiterungen reicht von 700 («Stellinghof » bei Haarlem) bis zu 35 000 Wohnungen («Leidsche Rijn» bei Utrecht).

Qualitätsmängel

Als zu Beginn der Planung die genaue Lage der Vinex-Quartiere defi niert war, entbrannte ein Streit um die Grundstücke, die in den Niederlanden im Gegensatz zur Schweiz meist kommunales Eigentum sind. Die Lösung für viele überforderte Gemeinden war der Verkauf der Gebiete an Generalunternehmer. Später würden die Gemeinden sie für den gleichen Betrag wieder zurückkaufen. Die Unternehmer waren nur verpfl ichtet, die Wohnungen zu bauen und zu verkaufen – für sie ein lukratives Geschäft. Mit minimalem Aufwand und in minimaler Qualität erstellten sie die Gebäude und verkauften sie anschliessend mit grossem Gewinn – gestützt durch die dazumal grosse Wohnungsnachfrage. Die Regierung liess die Unternehmer gewähren, da sie lange Zeit von einem anhaltenden allgemeinen Wohnungsmangel ausging und es ihr deshalb hauptsächlich darum ging, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele und günstige Wohnungen zu errichten. Der einseitige Fokus auf billige Familienwohnungen führte jedoch zur Entstehung von Wohnghettos – typischen Pendlerquartieren, deren Dienstleistungen auf Doppelverdiener mit kleinen Kindern ausgerichtet sind: Es gibt zwar Kinderkrippen und Spielplätze, aber Cafés oder Kulturangebote sucht man vergeblich. Das inzwischen 50 000 Einwohner zählende «Leidsche Rijn» wirkt ausserhalb der Stossverkehrszeiten wie eine Geisterstadt.

Wegen des leblosen Erscheinungsbilds werden die in den 1990er-Jahren entstandenen Vinex- Quartiere kritisiert. Sie stehen für Durchschnitt und Langeweile. Als problematisch erweist sich vor allem die Infl exibilität der städtebaulichen Entwürfe. Die Planer konzipierten sie als komplette Anlage – Raum für natürliches Wachstum oder Veränderungen war nicht vorgesehen. So basieren die architektonischen Gestaltungspläne zwar manchmal auf interessanten und experimentellen Entwürfen, oft lassen sie aber keinen Spielraum für individuelle Anpassungen. In vielen Quartieren ist beispielsweise bis ins Detail bestimmt, welche Aussenbeleuchtung, welche Farbe für die Vorhänge oder welche Türgriffe erlaubt sind. Das architektonische Gesamtbild soll keinesfalls gestört werden.

Die strengen niederländischen Raumplanungsgesetze verhinderten jegliche Art der Selbstregulierung in den neuen Stadtquartieren. Heikel war diesbezüglich die strikte Funktionstrennung. Die Vinex-Quartiere waren reine Wohngebiete, klar von Gewerbezonen abgegrenzt. Es war kaum möglich, Wohnen und Arbeiten zu kombinieren. Die Zonenpläne waren statisch und nur schwer anzupassen. Gewerbezonen konnten zum Beispiel nicht in Misch- oder Wohnzonen umgewandelt werden. Für Läden oder Restaurants gab es in kleinen Vinex-Quartieren zwar von Anfang an eine Nachfrage, aufgrund der dazumal gültigen Zonenregelung war deren Erstellung aber nicht möglich. Als Folge mussten einige Bewohner bis zu 15 Minuten mit dem Auto fahren, um von ihrer Wohnung zur nächsten Bäckerei oder zum nächsten Kiosk zu gelangen.

Grundgebundenes Wohnen

Trotz diesen Mängeln ist das Grundkonzept der Vinex-Quartiere erfolgreich und widerspiegelt sich im Wachstum der Siedlungsfl ächen. Obwohl das Bevölkerungswachstum in den Niederlanden und der Schweiz im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtbevölkerung ähnlich gross ist (in beiden Ländern rund 5 % in den letzten 12 Jahren), ist die Zunahme der totalen Siedlungsfl äche sehr unterschiedlich: In den Niederlanden wuchs sie um 6 %, in der Schweiz um 13 %. Ausserdem konnte in den letzten Jahrzehnten in den Niederlanden eine breitere Schicht gut verdienender Einwohner in den Städten gehalten werden. Wie Umfragen zeigen, sind die meisten Bewohner mit ihrer Wohnsituation zufrieden, obwohl die Quartiere unter Fachleuten umstritten sind. Ein Grund dafür ist, dass in den Vinex-Quartieren grundgebundenes Wohnen (jede Wohneinheit hat ihr eigenes Grundstück) möglich ist. Es herrscht zwar eine grosse Diversität an Wohnungstypen vor – man fi ndet die Geschosswohnung sowie das Doppeleinfamilienhaus, die Sozialwohnung und auch das Eigentumshaus –, die städtebauliche Grundform bilden aber die Reihenhäuser. Diese für die Schweiz ungewöhnliche Parzellierungsform lässt zu, eine kompakte Siedlungsstruktur mit grosszügigen Wohnformen zu kombinieren. Mit ihr erreicht man eine ähnliche bauliche Dichte wie mit herkömmlichen Appartementblocks, wie sie in vielen Aussenquartieren und Vororten in der Schweiz zu fi nden sind. Im Gegensatz zu den gestapelten Geschosswohnungen sind Reihenhäuser vertikal unterteilt. Jede Wohneinheit besitzt einen eigenen Eingang, eine eigene Garage und, für viele Bewohner sehr wichtig, einen eigenen Garten. Die Bewohner erhalten mit einem bis zu dreigeschossigen Reihenhaus zudem mehr Wohnfl äche (durchschnittlich 110 m²) als mit einem vergleichbaren Schweizer Appartement (durchschnittlich 80 m²). Nicht zuletzt ist das Bauen von Wohnungen in Serie relativ günstig. Im Rahmen der Globalisierung und der steigenden Konkurrenz mit anderen Städten ist dies für die Schweiz als Hochpreisland besonders interessant.

Dass im Allgemeinen viele Reihenhausquartiere monoton wirken und es meistens wenig Nutzungsdurchmischung gibt, hat nur bedingt mit der Typologie an sich zu tun. Ältere Reihenhausquartiere in London sind dank liberalen Gestaltungs- und Zonenplänen dynamisch und durchmischt. Auch die Form der Wohnungen und die Struktur der Siedlungen bergen Möglichkeiten, dem langweiligen Charakter des Reihenhauses entgegenzuwirken. Dank einer originellen Architektur, einem soliden städtebaulichen Entwurf und den grosszügigen Freifl ächen sind Reihenhäuser in einigen Vinex-Quartieren gar nicht mehr als solche erkennbar.LÄNDLICHKEIT Aus Sicht der Bewohner sind eine ruhige Umgebung und das Gefühl, auf dem Land zu wohnen, zentral bei der Beurteilung der Wohnqualität. Die grosszügigen öffentlichen Freifl ächen in den Vinex-Quartieren berücksichtigen dieses Bedürfnis: Die Gestaltungsvorschriften geben vor, dass in unmittelbarer Umgebung pro Wohnung 75 m² grüner öffentlicher Raum zur Verfügung stehen muss, was im Vergleich zu vielen neuen Wohnüberbauungen in der Schweiz sehr viel ist. Zudem ist die Gestaltung des öffentlichen Raumes den lokalen Anliegen angepasst. Zwischen den Häusern ist der öffentliche Raum gepfl egt, grün, kinderfreundlich und ergänzt den oft relativ kleinen privaten Grünraum. Am Siedlungsrand hingegen ist der öffentliche Raum bewusst naturnah gestaltet. Er vermittelt, trotz meist stark urbanisierter Umgebung, einen Eindruck von Ländlichkeit und Naturnähe.

Neuorientierung

Mit der Stagnation des Bevölkerungswachstums ab dem Jahr 2000 sah sich die Regierung mit einem Rückgang der Nachfrage nach Wohnungen konfrontiert. Das aktuelle Problem war nicht mehr, den quantitativen Wohnungsbedarf raschmöglichst zu decken, sondern die gestiegene Nachfrage nach Bauqualität zu befriedigen. Grössere Wohnungen mit fl exibleren Grundrissen waren gefragt. Mit dem Projekt «Vinac» (Actualisering Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra, übersetzt: aktualisiertes Zusatzprogramm zum vierten Raumordnungsbericht), bei dem noch nicht gebaute Vinex-Quartiere aktualisiert werden (von der geplanten Million Wohnungen sind bis jetzt etwa 650 000 gebaut), versuchen die Stadtplaner auf die veränderten Qualitätsanforderungen und auf die Fehler zu reagieren. In den Quartieren, die in den nächsten zehn Jahren entstehen sollen, bieten lockerere Gestaltungs- und Zonenpläne den Bewohnern mehr Spielraum bei Anpassungen an ihren Häusern und schaffen Möglichkeiten zur Nutzungsdurchmischung. Eine bessere Koordination bei der Realisierung von ÖV-Projekten soll zudem zu einem höheren Anteil des öffentlichen Verkehrs am Modal-Split führen.

Suburbanes Gebiet in der Schweiz

Auch in der Schweiz muss man sich in den grossen Agglomerationen Gedanken machen, wie und wo man auf die steigende Nachfrage nach Wohnraum reagiert. Wie soll man der Zersiedlung und der extensiven Raumnutzung im periurbanen Raum entgegenwirken? Im direkten Zusammenhang stellt sich die Frage, wie in Zukunft der suburbane Raum aussehen könnte. Da die Wohnbedürfnisse der Familien vor allem im Stadtgebiet kaum befriedigt werden, überrascht es wenig, dass im schwer kontrollierbaren periurbanen Raum im grossen Stil raumextensive Einfamilienhaussiedlungen gebaut werden, wo geräumige und bezahlbare Familienwohnungen mit Garten realisiert werden könnten. Mit einer Dichte von 5 bis 20 Wohnungen pro Hektare sind sie aber der Inbegriff von Zersiedlung. Die kompakten Gartenstädte des Vinex gehen viel sparsamer mit der Landschaft um. Ohne raumplanerische Antwort auf die Nachfrage nach Familienwohnungen mit einer attraktiven Wohnumgebung in Stadtnähe kann der Zersiedlung nicht begegnet werden – mit Folgen für Landschaft und Verkehr.

Mit der Verdichtung bestehender Gewerbegebiete, wie Neu-Oerlikon und Zürich West, stand in den letzten zehn Jahren eine urbane Stadtentwicklung im Mittelpunkt der Schweizer Raumplanung, die nun ausgereizt scheint. Trotzdem sind viele neuere Stadterweiterungen, beispielsweise in Zürich Affoltern oder im Glattal, immer noch städtisch und richten sich nach wie vor stark an einem urbanen Lebensstil aus. Gerade diese Flächen im suburbanen Raum würden sich aber für weniger urbane Siedlungsformen im Stil der Vinex-Quartiere anbieten. Sie sind ideal für familienfreundliches Wohnen und liegen unweit von Naherholungsgebieten. Kombiniert mit der guten ÖV-Planung und den liberaleren Raumplanungsgesetzen in der Schweiz liessen sich (z. B. für Bernex bei Genf, Morges Ouest bei Lausanne, Köniz bei Bern, Uster bei Zürich oder die letzten Flächen in Zürich Affoltern) aus den Vinex- Quartieren interessante Konzepte entwickeln.

[ Han van de Wetering, Dipl. Ing. TU Städtebau/SIA, Mitentwickler verschiedener Vinex-Quartiere, Van de Wetering Atelier für Städtebau, Zürich ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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