Zeitschrift

TEC21 2008|16
Kunst und Ingenieur
TEC21 2008|16
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Gleichgewicht

Seit mehr als 30 Jahren arbeiten der Künstler Jürg Altherr und der Bauingenieur Peter Osterwalder zusammen an Kunstobjekten. Dabei quantifiziert der Ingenieur die Kräfte, die in den beweglichen Gleichgewichtssystemen des Künstlers wirken. Er bedient sich dabei nicht nur des leistungsstarken Computers, sondern in grossem Umfang auch der traditionellen Bemessungshilfsmittel. Dem Artikel liegt ein Gespräch mit Altherr und Osterwalder zu Grunde, in dem sie über realisierte und geplante Werke philosophierten.

Der Umgang mit der Baustatik und den statischen Bemessungen von Tragwerken hat sich über die letzten Jahrzehnte mit der Entwicklung der Rechenleistung der Computer stark verändert. Selten arbeiten Bauingenieure heute ohne Softwareprogramme. Auf der Grundlage der Finite-Elemente-Methode (FEM) erhalten die Anwender schnell alle Schnittkräfte und Verformungen von komplizierten statischen Systemen an beliebiger Stelle. Sie können komplexe Tragwerke innert nützlicher und wirtschaftlicher Frist dimensionieren. Früher quälten sich Bauingenieure beispielsweise tagelang mit der Dimensionierung einer Flachdecke. Sie mussten den realen Zustand abstrahieren und vereinfachen, damit sie überhaupt eine Bemessung vornehmen konnten. Flächentragwerke führte der Statiker auf lineare Systeme zurück und näherte sich sodann von Hand mit grafischen Methoden, iterativen Prozessen und dem Rechenschieber der Lösung. Oft kamen Modelle zum Einsatz, wodurch das Gesamtverständnis für die Konstruktion und deren Tragweise geschult wurde.

Diskretisierung

Nach wie vor stellt die Abstraktion von realen Zuständen in statische Systeme eine Hauptaufgabe des Ingenieurs dar. Die Flachdecke, um beim Beispiel zu bleiben, als hochkomplexes System ist jedoch kaum mehr als solches erkennbar, da der Computer den Rechenaufwand für die Ermittlung von aussagekräftigen Schnittkräften und Verformungen (es müssen zahlreiche Differenzialgleichungen gelöst werden) innerhalb sehr kurzer Zeit meistert. Mit der Fokussierung auf die massgeblichen Punkte hält man die Resultatmenge in Grenzen und reduziert somit den Interpretationsaufwand der Datenmenge. Varianten sind dann tatsächlich innerhalb nützlicher Frist studiert und Anpassungen rasch berücksichtigt. «Den Softwarehilfsmitteln gewinne ich durchaus etwas Positives ab», so Bauingenieur Peter Osterwalder, der über 35 Jahre ein eigenes Büro geführt hat. Für den täglichen Gebrauch, insbesondere bei komplizierten und schwierigen Tragsystemen, sei der leistungsfähige Computer für den Statiker eine enorme Erleichterung. Es sei möglich, immer komplexere Systeme wirklichkeitsnah zu erfassen und zu realisieren. Häufig greifen laut Osterwalder die Statiker heute aber zu rasch zu Statikprogrammen. Sie nähmen sich oft zu wenig Zeit, sich konzeptionell über das Tragwerk und den Kräftefl uss Gedanken zu machen, bevor sie die Daten des zu berechnenden Systems in die Masken des Programms eingeben. Während früher eine nicht dauernd kontrollierte Rechnung normalerweise falsch war, betrachte man heute die Computerresultate oft als unfehlbar.

FE-Berechnungen basieren auf Annahmen und Vereinfachungen, die bei der Anwendung unbedingt berücksichtigt werden müssen und die der Statiker als Voraussetzung für die Interpretation der Resultate kennen muss. Nähert sich das Rechenverfahren asymptotisch von der unsicheren Seite der Lösung? Die Eingabe des Tragsystems und der Belastung mit Hilfe einer grafischen Benutzeroberfl äche setzt somit eine hohe technische Kompetenz voraus. Einschlägige Literatur [1] weisst darauf hin, dass ein gesundes Misstrauen gegenüber den ermittelten Resultaten stets angebracht sei. So stellen zum Beispiel Betonplattenelemente nur ein numerisches Modell einer realen Platte dar. In die Elementsätze gehen Annahmen bezüglich des Dehnungszustandes und der Verformungsfreiheitsgrade ein. Daraus folgt, dass das Programm Normalspannungen in der Plattenmittelebene, die beispielsweise aus behinderten Verformungen entstehen können, nicht darstellen kann. Gerade aus solchen und analogen Gründen ist die Handrechnung nach «traditioneller» Art neben dem Computereinsatz immer noch notwendig, ebenso natürlich die Kontrolle auf zweitem Weg.

Konkretisierung

Der schnelle Griff zum Computer, bemerkt Osterwalder, wäre bei aussergewöhnlichen Projekten, die in sich beweglich sind und grosse Verformungen aufweisen, inneffizient, unwirtschaftlich, ja gar gefährlich. Für diese sehr schlanken Systeme müssen Stabilitätsprobleme oder komplizierte Seilstatik gelöst werden. Dafür seien die üblichen und alltäglich verwendeteten Statikprogramme nicht geeignet. Es werde deshalb meist zuerst versucht, die Kräfte «von Hand» abzuschätzen und die grossen, durchaus erwünschten Bewegungen der Seilwerke an Modellen zu veranschaulichen. Teilweise ermittelt man die Grösse der Kräfte direkt mittels dieser Modelle. Die Kunstwerke von Jürg Altherr (TEC21 6/2008, Artikel «Schwerter und Seile») gehören zu diesen komplexen Tragsystemen. Osterwalder geht darum mit traditioneller Handarbeit an die Bemessung der Tragsysteme heran. Viel Gespür für den Kräftefl uss und Neugier für die realisierbare Lösung sind für die Umsetzung not - wendig. Jürg Altherr war zu Beginn der Zusammenarbeit überrascht: «Ich erhielt keine wissenschaftlichen Erklärungen über das Wesen der Kräfte, sondern nur über das Funktionieren der Kräftebeziehungen.» Die Kunstobjekte, die Altherr umfassend und bezeichnenderweise als «Organisation der Leere» bezeichnet, setzen sich aus Pendelstützen und Drahtseilen zusammen. Diese Bezeichnung sei zwar in sich ein Widerspruch, meint der Künstler, dieser Name beschreibe aber, was die Tragwerke im Raum bewirken und wie sie ihn für die Benutzer erlebbar machen. Um diesen Zwischenraum zu definieren und zu realisieren, brauche es sowohl ihn als Künstler als auch den Bauingenieur, der die auftretenden Kräfte «lothartauglich» und ästhetisch überzeugend quantifiziert, ohne dabei das Konzept des Künstlers zu zerstören.

Die Durchführbarkeit stand nie grundlegend zur Diskussion, meinen der Künstler und der Bauingenieur einstimmig – die Art und Weise, das System zu beherrschen, war das Entscheidende. Dabei ist der Rationalisierungsprozess, der bei jedem Kunstwerk diskutiert wird, für Altherr eine wertvolle Bereicherung und gleichzeitig eine Steigerung der Komplexität und Aussagekraft. Das System vereinfache sich und erhalte eine klare Präsenz, wodurch die Kunst – der Zwischenbereich – mehr Raum einnehme. Gleichzeitig erhalten die Projekte durch Osterwalders Einfl uss die nötige Sicherheit. Die Ähnlichkeit zur Zusammenarbeit von Bauingenieuren mit Architekten ist offensichtlich – nur die Zweckgebundenheit der Architektur unterscheidet sie hier von der Kunst.

Schnittmenge zweier Disziplinen

Durch den Dialog zweier Fachdisziplinen entsteht etwas Drittes. Diesen Aspekt nimmt Altherr in seinen Arbeiten auf. Dabei ist die Statik die Sprache des Kunstwerks und übernimmt damit die verbindende Ebene der Disziplinen. Neben der klaren Lesbarkeit der Statik haben die Kunstwerke eine sinnliche Ebene, die jede Person anders erlebt. Die Skulptur auf dem Waffenplatz Frauenfeld (Bild 4), die Altherr für sich «Verhängnis» nennt, von den Benutzern aber «Bedrohung» genannt wird, wirkte auf die Rekruten sowohl erstaunlich (kein Nutzen für den Soldaten – also sinnlos) als auch gefährlich (unter hängenden Lasten lauert der Tod). Viel einfacher und klarer noch wirkt das Tragwerk «Equilibre» in Biel (Bild 1). Das höchst simpel erscheinende Seiltragwerk ist de facto relativ komplex. Das System ist wegen der geometrischen Anordnung der Druck- und Zugelemente und der Spannung im Seil stabil, nicht aber wegen der Wirkung der Schwerkraft. Das Seil wird von den Fundamenten her gespannt. Altherr sucht eine weitere Möglichkeit, dieser Skulptur sein bewegliches Gleichgewicht zu geben: Aus der Kunst soll eine Brücke werden (Bild 2). Als solche ist das System dann sehr wohl von der Schwerkraft abhängig: Das Gewicht der Gehwegplatte bringt die notwendige Seilspannung in das System. Altherr entfernt sich mit diesem Brückenprojekt aus dem Kunstbereich hinein in die Zweckgebundenheit. Für Osterwalder stellt sich eine weitere schwierige Frage: Die Brücke bewegt sich unter der Belastung der Fussgänger. Wie sie trotzdem sicher und ohne beängstigende Schwingungen realisiert werden kann, ist offen. Er meint: «Auch die Lösung dieser Aufgabe stellt eine neue Herausforderung dar.» Aktuell beschäftigt sich das Team ausserdem mit einer Skulptur in Hueb bei Wald (Bild 3). Ab Frühling 2009 soll eine Pendelstütze mit angehängten Seilen ihr bewegtes Gleichgewicht finden und den neu gestalteten Aussenraum der dann umgebauten Weberei definieren. Die Seile sollen dabei genügend schwer sein, sodass sie durch die Belastung nie voll gespannt werden, gleichzeitig aber so leicht, dass sie filigran wirken und als Tragelemente nicht viel Raum einnehmen.
Literatur
[1] Anwendung der FE-Methode im Betonbau – Fehlerquellen und ihre Vermeidung.
2. Auflage, Ernst & Sohn

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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