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TEC21 2009|11
Natur in der Stadt
TEC21 2009|11
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Artenvielfalt erwünscht

Städte werden oft als das Gegenteil von Natur wahrgenommen. Dabei weisen städtische Grünräume eine erstaunlich hohe Vielfalt an Tierarten auf, wie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt in drei Schweizer Städten zeigte. Es untersuchte, von welchen Faktoren die Artenvielfalt in den sehr unterschiedlichen städtischen Grünräumen abhängt. Ausserdem wollte man wissen, ob sich eine grosse Artenvielfalt auch mit den Wünschen der Bewohner an ihre grüne Umgebung deckt.

13. März 2009 - Claudia Carle
Natur in der Stadt hat viele Gesichter: Sie reicht von exakt geschnittenen Rasenflächen bis zu wild wucherndem Grün auf ungenutzten Bahnarealen, von Einzelbäumen am Strassenrand bis zu grossflächigen Parks, von der neu gestalten Grünanlage bis zu uralten Villengärten. Teilweise nehmen wir diese Flächen mehr als grüne Dekoration denn als Lebensräume für Pflanzen und Tiere wahr. Aber auch diese vom Menschen oft stark beeinflussten Orte dienen einer erstaunlich vielfältigen Artengemeinschaft als Lebensraum. «Wir waren überrascht, wie viele Arten selbst an unattraktiven Standorten in der Stadt leben», sagt Fabio Bontadina von der Zürcher Arbeitsgemeinschaft SWILD. Zusammen mit Projektpartnern von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), den Universitäten Bern und Zürich sowie dem Planungsbüro Studi Associati SA aus Lugano untersuchte er im Rahmen des Forschungsprojektes «BiodiverCity»[1] die Artenvielfalt in städtischen Grünräumen und die Erwartungen der Bevölkerung an diese Räume. Beantwortet werden sollte dabei die Frage, wie aus Sicht der Bevölkerung bzw. unter dem Aspekt der Artenvielfalt der optimale Grünraum aussieht und ob sich diese Ansprüche zur Deckung bringen lassen.

Erhebung von Artenzahlen und Eigenschaften der Grünräume

Um die Artenvielfalt und die massgeblichen Einflussfaktoren zu bestimmen, wurden in den Städten Lugano, Luzern und Zürich die Artenzahlen von Vögeln, Fledermäusen sowie Insekten und Spinnen erhoben. Dafür wurden in jeder der drei Städte 32 Unter suchungspunkte festgelegt. Innerhalb eines Radius von 50 Metern um diese Punkte wurden mögliche Einflussfaktoren für die Artenzahlen erfasst: der Versiegelungsgrad, das Alter des Grünraumes und die Häufi gkeit der Rasenschnitte als Mass für die Bewirtschaftungsintensität. Um ein Mass für die Vielfältigkeit innerhalb der Untersuchungsflächen zu erhalten, wurde auch erhoben, aus welchen verschiedenen Lebensraumtypen wie Wiesen, Bäumen oder Sträuchern sie sich zusammensetzen und wie diese räumlich angeordnet sind, das heisst, ob es sich um jeweils grosse Flächen oder ein kleinteiliges Mosaik handelt.

«Die Artenvielfalt, die wir an einem bestimmten Punkt vorfi nden, wird auch durch die Eigenschaften der Umgebung bestimmt», erläutert Thomas Sattler von der WSL. «Je isolierter und je schwerer zugänglich ein Grünraum ist, desto weniger Arten können von benachbarten Grünflächen einwandern bzw. desto grösser ist die Gefahr, dass eingewanderte Arten wieder aussterben.» Dieser Effekt ist unterschiedlich stark, je nachdem wie mobil eine Art ist. Für flugunfähige Insekten ist die Umgebung in einem viel kleineren Radius relevant als für Vögel oder Fledermäuse.

Um den Einfluss der Grünraumeigenschaften auf die Artenzahlen berechnen zu können, wurden die Untersuchungspunkte so ausgewählt, dass sie eine möglichst grosse Bandbreite erfassen: von ganz neu angelegten Grünarealen bis zu über 150 Jahre alten, von nahezu unversiegelten Flächen bis hin zu Bereichen mit 92 % Versiegelungsgrad und von Gelände, das nicht bewirtschaftet wird, bis hin zu alle zehn Tage gemähten Rasenflächen.

Überraschend hohe Artenvielfalt

Trotz dieser grossen Bandbreite sind die Artenzahlen relativ homogen. Zum einen fanden die Forschenden in allen drei Städten durchschnittlich etwa gleich viele Arten pro Standort (Abb. 3). Ausserdem unterscheiden sich die Artenzahlen zwischen den artenärmsten und den artenreichsten Standorten weniger stark als von den Forschern erwartet. Insgesamt beherbergen alle drei Städte eine «überraschend hohe Artenvielfalt», schreiben die Forscher. Bei den Insekten und Spinnen liegt sie beispielsweise in der gleichen Grössenordnung wie in Landwirtschafts- und Waldgebieten (Abb. 5). Es wurden auch mehrere Arten gefunden, die bisher in der Schweiz noch nie beobachtet wurden. Grösstenteils sind dies mediterrane Arten, denen Städte als Wärmeinseln das Überleben auch ausserhalb ihres angestammten Verbreitungsgebietes ermöglichen.

Gestaltung einer Grünfläche entscheidend für Artenvielfalt

Wenig überraschend ist hingegen, in welchen Grünräumen die höchsten Artenzahlen vorkommen (Abb. 4): Je älter eine Grünfläche ist und je mehr Strukturvielfalt sie aufweist, desto mehr Insekten- und Spinnenarten leben dort. Je stärker versiegelt hingegen eine Fläche ist und je häufi ger sie bewirtschaftet wird, umso weniger Insekten und Spinnenarten fühlen sich dort wohl. Für Vögel ist vor allem die Strukturvielfalt und hier besonders die Anzahl an Bäumen entscheidend: Je mehr Bäume, desto mehr Vogelarten, wobei eine Mischung aus Laub- und Nadelbäumen optimal ist. Für die Fledermäuse werden die Auswertungen erst im Herbst 2009 abgeschlossen.

Die Botschaft der Biologen lautet also, dass die wichtigsten Entscheidungen für die Artenvielfalt eines Grünraumes bei dessen Gestaltung getroffen werden: über den Versiegelungsgrad, die Vielfalt an Strukturen und die Anzahl an Bäumen. «Das sollten Grünraumplaner neben den ästhetischen Kriterien mit berücksichtigen», wünscht sich Fabio Bontadina. Ist die Gestaltung einmal festgelegt, hat aber auch die Bewirtschaftungsintensität einen grossen Einfluss. «Auch in eher stark versiegelten Flächen kann bei extensiver Bewirtschaftung die Artenvielfalt relativ hoch sein», heisst es im Ergebnisbericht von BiodiverCity.

Grün ist wichtig für städtische Lebensqualität

Aber wünschen sich die Stadtbewohner überhaupt artenreiche Grünräume? Oder haben sie ganz andere Prioritäten? Und welche Bedeutung hat das städtische Grün für ihre Lebensqualität? Diesen Fragen ging man im sozialwissenschaftlichen Teil des Forschungsprojekts nach. Dafür wurden 7000 Fragebogen an einen repräsentativen Querschnitt der Schweizer Bevölkerung verschickt. Befragt wurden somit nicht nur Stadt-, sondern auch Bewohner nichtstädtischer Gebiete. Der Rücklauf an Fragebogen war mit 26% erstaunlich hoch. «Es zeigte sich sehr deutlich, dass Grünräume ein wichtiger Teil der Lebensqualität sind», erklärt Robert Home von der WSL. Dabei messen Stadtbewohner den Grünräumen eine grössere Bedeutung zu als die Landbewohner. Insgesamt schätzen Stadtbewohner ihre Lebensqualität niedriger ein als Landbewohner. «Das zeigt, dass Natur in der Stadt von spezieller Bedeutung ist, weil sie einen Kontrast zum gebauten Umfeld bildet», so Robert Home. «Offensichtlich scheint bei den Städtern das Gefühl eines Mangels die Wichtigkeit von Grünräumen zu erhöhen.» Von dieser These sei man zwar immer ausgegangen, wissenschaftliche Belege habe es dafür aber bisher nicht gegeben.

Naturnah, aber gepflegt

Wie diese Grünräume aus Sicht der Bevölkerung konkret aussehen sollen, wurde neben dem Fragebogen auch mit computergenerierten Fotos untersucht, die einen städtischen Grünraum in verschiedenen Gestaltungsvarianten zeigen (Abb. 6 bis 9). Bevorzugt wurden von den Befragten jene Varianten, die relativ komplexe, also abwechslungs- und strukturreiche Grünräume zeigen. «Es wurden viel komplexere Grünräume bevorzugt, als wir erwartet hatten», so Robert Home. Nach Wildwuchs darf es aber trotzdem nicht aussehen: Die Befragung zeigte, dass die Grünflächen zwar naturnah sein dürfen, aber gleichzeitig gepflegt aussehen müssen. «In der Praxis könnte das zum Beispiel bedeuten, dass man der Begehbarkeit zuliebe Wiesenflächen nur am Rand schneidet und in der Mitte das Gras stehen lässt (bei Spielwiesen umgekehrt). Die Übergangsbereiche zwischen geschnittenen und ungeschnittenen Bereichen können auch ökologisch wertvoll sein. Zusätzlich könnte man auf Schildern erläutern, warum das Areal so gestaltet wurde.»

Angebote für verschiedene Nutzer

Die Auswertung zeigte auch, dass die Bevölkerung Natur nicht nur um der Natur willen möchte, sondern die Grünräume zugänglich und nutzbar sein sollen – auch für diejenigen, die sie real gar nicht nutzen. Das heisst, dass sie in relativ kurzer Zeit erreichbar sein müssen und Möglichkeiten für verschiedene Nutzerinteressen anbieten sollten, beispielsweise Wege, Bänke und Spielmöglichkeiten. Zum Wunsch nach Zugänglichkeit gehört auch, dass man sich in den Grünanlagen sicher fühlen muss. Hier ortet Fabio Bontadina eine mögliche Schwäche des Forschungsprojektes. Die Fotomontagen zeigen die Grünräume an einem hellen, sonnigen Tag. «Wir haben uns gefragt, ob die Leute bei der Betrachtung der Bilder immer alle Konsequenzen bedacht haben. Würden sie in einer Nachtsituation immer noch die strukturreichen Grünräume bevorzugen, wenn Bäume und Sträucher die Sicht einschränken? Oder wie sieht es aus, wenn sich der unbefestigte Weg an einem Regentag in Matsch verwandelt?» Vom Umfang des Forschungsprojektes her waren hier aber Grenzen gesetzt.

Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit?

Vergleicht man die in der Untersuchung geäusserten Wünsche der Bevölkerung mit den Anforderungen an möglichst artenreiche Grünräume, dann decken sich beide Ansprüche zu einem überraschend grossen Teil. «Sind Grünräume so gestaltet, wie sie sich die Bevölkerung gemäss unseren Untersuchungen wünscht, ist man vom Optimum aus Sicht der Biodiversität gar nicht so weit weg», meint Fabio Bontadina. In einem Nachfolgeprojekt soll untersucht werden, ob die Stadtbewohner eine naturnahe Gestaltung von Grünanlagen noch stärker unterstützen, wenn dadurch bestimmte Tierarten neuen Lebensraum erhalten. Erste Analysen haben gezeigt, dass beispielsweise der Buntspecht sowohl ein Indikator für eine hohe Biodiversität im Siedlungsgebiet ist als auch bei der Bevölkerung sehr beliebt ist. Die Forscher stellen sich vor, dass solche Sympathieträger als Botschafter für naturnahe Aufwertungen dienen und damit mehr Natur im Siedlungsraum ermöglichen könnten. «Wenn man sich andererseits anschaut, wie Grünräume heute tatsächlich gestaltet sind, hat man den Eindruck, dass die Planer die Bedürfnisse der Bevölkerung falsch einschätzen», so Bontadina. Man wolle daher in einem Nachfolgeprojekt die gleiche Befragung mit Grünraumplanern durchführen, um hier mögliche Unterschiede zwischen den Wünschen der Bevölkerung und der Einschätzung durch Experten aufzudecken. Damit die Ergebnisse des Forschungsprojektes Eingang in die Praxis finden, ist ausserdem geplant, konkrete Empfehlungen für Grünraumplanung und -bewirtschaftung zu erarbeiten, mit denen die Biodiversität städtischer Grünräume erhöht werden kann.

Anmerkung:
[1] Das Projekt «BiodiverCity» ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 54 «Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung» und wurde von folgenden Personen durchgeführt: Marco Moretti (WSL, Projektleiter), Nicole Bauer (WSL), Fabio Bontadina (Uni BE, SWILD), Paolo Della Bruna, (Studi Associati SA), Peter Duelli (WSL), Sandra Gloor (SWILD), Robert Home (Uni ZH, WSL), Marcel Hunziker (WSL), Martin Obrist (WSL), Thomas Sattler (Uni BE, WSL), Simone Fontana (WSL, Uni BS); www.nfp54.ch; www.biodivercity.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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