Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 04|2009
Europäische Stadtquartiere
db deutsche bauzeitung 04|2009

Aufbruch durch Abbruch?

Bavaria-Quartier in Hamburg St. Pauli

Durch das neue Quartier auf dem Gelände der ehemaligen Bavaria St. Pauli Brauerei werden die Gegensätze im südlichen St. Pauli durchaus noch verschärft: Nischenexistenzen und kleinteilige Arbeiterwohnhäuser der Gründerzeit prallen auf Hochhaustürme und Wohnungen für Besserverdienende. Sowohl menschlich als auch architektonisch sind interessante, aber nicht immer spannungsfreie Nachbarschaften entstanden.

1. April 2009 - Claas Gefroi
Als vor Kurzem Hamburgs bekannteste Prostituierte, Domina und Sozialarbeiterin Domenica Niehoff starb, gab es einen Trauermarsch, wie ihn die Stadt noch nicht erlebt hatte: Ein buntes Volk von Huren, Milieugrößen, Künstlern aber auch ganz normalen Bürgern gab der guten Seele des Kiezes zu den Klängen von »La Paloma« in einer traurig-fröhlichen Prozession durch St. Pauli das letzte Geleit. Als der Zug die berühmte Herbertstraße durchschritt, da wurde wohl allen klar, dass nicht nur die letzten Kiez-Originale sterben, sondern auch das alte St. Pauli langsam verschwindet: Gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Davidstraße, überragen seit Kurzem Hochhaustürme die bescheidenen Arbeiterwohnhäuser der Gründerzeit. Sie markieren das Bavaria-Quartier, ein Neubauviertel im Herzen des Stadtteils auf dem Gelände der einstigen, heute ausgelagerten Bavaria St. Pauli Brauerei.

Die Aufgabe des Standorts im von hohen Mauern umschlossenen dreißig Hektar großen Komplex bedeutete für St. Pauli eine große städtebauliche Chance.
Das abgeriegelte Gelände konnte geöffnet und alte Wege- und Straßenverbindungen wiederhergestellt werden. Doch dies sollte der einzige Anknüpfungspunkt an den Genius Loci bleiben. Man plante hier nicht die Fortsetzung kleinbürgerlicher Milieus, sondern den Beginn eines grundlegenden Wandels: St. Pauli, das alte Arbeiterquartier, Hamburgs ärmster Stadtteil, sollte neue Dynamik, solvente Bewohner und zusätzliche Wirtschaftskraft erhalten – eine gezielte Gentrifizierung also. Und die Investoren standen Schlange: St. Pauli besitzt noch immer eine Attraktivität und Sogkraft, der sich kaum jemand entziehen kann. Es ist dies Deutschlands vielleicht einziger echter Schmelztiegel, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, Schichten und Couleur auf engstem Raum wohnen, arbeiten, sich vergnügen. Hier herrscht ein Geist aus Offenheit und Toleranz, gepaart mit einem speziellen rauen Charme. Von dieser Atmosphäre will das neue Quartier profitieren, ohne selbst Teil des Kiezes zu werden. Denn die sich hier einquartierenden Besserverdiener und Luxushotelgäste sollen das Prickeln des Ortes spüren, ohne von den unangenehmen Nebenwirkungen wie Armut, Kriminalität oder Drogenproblemen belästigt zu werden.

Abgrenzung, nicht Integration

Nein, Grenzen und Barrieren gibt es nicht; das Quartier isoliert und separiert sich auf eher unterschwellige Art, gibt sich kühl und distanziert inmitten des pulsierenden Stadtteils. Selbst an den Wochenenden, wenn die umliegenden Straßen schier bersten vor Vergnügungssuchenden, verirrt sich nur selten jemand hierher. Städtebau, Freiraumplanung und Architektur des neuen Viertels tragen das Ihre dazu bei: Identitätsstiftende Überbleibsel aus der industriellen Zeit sind nirgends auszumachen und waren nicht gewollt. Selbst der bekannte »Astra-Turm«, das Brauerei-Verwaltungsgebäude der Architekten Carl Friedrich Fischer und Horst von Bassewitz mit seiner markanten Stempelkonstruktion und Biertulpenform wurde abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt, das mit dem Vorgänger nur den Namen gemein hat. Auch die ortstypische Kleinteiligkeit mit hoher Dichte bei moderaten Gebäudehöhen wird nicht weitergeführt. Die klare städtebauliche Figur des 19. Jahrhunderts mit Läden im Erdgeschoss und darüber liegenden Wohnungen fand keinen Widerhall. Gassen, Wege und Plätze zwischen den Neubauten sind zwar aufwendig gepflastert, wirken aber leblos, weil es keine Möglichkeit zum Verweilen gibt. Parkbänke fehlen – wohl, damit sich niemand dauerhaft auf ihnen niederlässt. Ins Bild passt, dass es statt eines Spielplatzes nur wenige verwaiste Spielgeräte gibt, die verstreut im Gebiet liegen.

Die städtebauliche Struktur des Areals ist heterogen und indifferent. Es fehlt eine eindeutige Einteilung in private und öffentliche Bereiche und klare räumliche Gefüge. Die Erdgeschosszonen der Büro- und Wohnhäuser werden kaum für belebende Geschäfte genutzt; gerade einmal ein Discounter, eine Apotheke und ein Backshop tragen zur Nahversorgung bei. Bei den Gebäudetypologien geht es auf engem Raum wild durcheinander: Zeilen, eng aneinandergerückte Punkthäuser, Block, Hochhäuser, dazu ein unübersichtlicher Bürokomplex. Verstärkt wird das disparate Nebeneinander durch in Form, Farbe und Material völlig unterschiedliche Fassaden. Von der ursprünglichen Absicht, hier dem dunkelroten Ziegel der nahen Schumacher-Bauten des Tropeninstituts die Referenz zu erweisen, ist nicht viel übrig geblieben: von weiß über hell- bis dunkelrot und dunkelbraun reicht das Farbspektrum. Es gab kaum gestalterische Einschränkungen, mit dem Ergebnis, dass sich die Bauten und Freiräume nicht zu einem Ganzen fügen – im Unterschied zu den unspektakulären Gründerzeithäusern ringsum, die innerhalb eines strengen Rahmens variieren.

Architektonisches Patchwork

Das Viertel ist auch deshalb so unterschiedlich geraten, weil eine Vielzahl von Bauherren und Architekten am Werk waren. Die Wohnhäuser wurden von zwei Genossenschaften errichtet, die sich vom Bauen in exponierter Lage einen Imagegewinn versprechen. An der Hopfenstraße im Norden des Quartiers planten PFP Architekten für die Baugenossenschaft Bergedorf-Bille vier eng aneinandergestellte, mit roten Kunststoffplatten verkleidete Häuser, deren unterschiedlich modellierte Körper zu einem Ensemble zusammenklingen. Sie besitzen unterschiedliche Winkel, Höhenstaffelungen und Auskragungen, variieren zudem in der Anordnung von Fenstern, Balkonen und Loggien. Die Wohnungen liegen jeweils in einer Ecke und werden somit übereck gelüftet. Sie sind nicht üppig dimensioniert, aber praktisch geschnitten, jedoch erhalten die zur Straße gelegenen Wohnungen durch ihre Nordost- oder Nordwestlage recht wenig Licht. Östlich davon baute Jan Störmer für denselben Auftraggeber eine rhythmisch gegliederte, zur Straße weiß verputzte und zum Quartier nach Süden hin verglaste Wohnzeile, deren 48 Etagenwohnungen mit ihren zweieinhalb bis fünf Zimmern zumeist gut nutzbare Grundrisse aufweisen. So gibt es genügend Stauräume, Flure zur Abtrennung der Bäder von den Wohnräumen und für jede Wohnung eine Loggia, die Frischluftfreunde vor dem beständigen Wind schützt. Zu bemängeln sind jedoch kleine Schlafräume, manchmal nur 2,50 Meter schmale Zimmer und einseitig nach Norden orientierte Zwei-Zimmer-Wohnungen. Ein echtes Plus sind die eingeschobenen Dachterrassen, die von allen Mietern genutzt werden können.

Von steidle architekten stammt ein strenger Wohnblock an der Bernhard-Nocht-Straße für die Hansa Baugenossenschaft. Der Komplex mit seinen 120 frei finanzierten Wohnungen wird geprägt durch die wechselseitige Durchdringung von liegenden und lotrechten Baukörpern. Diese Achtgeschosser stehen sich, getrennt nur durch den zwanzig Meter breiten Innenhof, sehr nah gegenüber. Aber diese hohe Dichte passt durchaus zum engen, verwinkelten St. Pauli. Der Blick in den engen Hof ist eigentümlich: kleine Mietergärtchen im Vordergrund, hinter denen sich die in der Sonne glänzenden Hochhaustürme erheben. Dieser Maßstabssprung erzeugt eine großstädtische Spannung, wie man sie in Hamburg bisher nicht kannte. Im Inneren reihen sich die vorwiegend nach Norden und Süden orientierten Wohnungen entlang eines durchlaufenden innenliegenden Flurs. Die quergestellten Treppen der Maisonettewohnungen liegen ebenfalls in diesem inneren, dunklen Bereich. Neben den Zwei- bis Vier-Zimmer-Maisonette-Typen gibt es noch Etagenwohnungen mit zwei bis vier Zimmern und Atelierwohnungen mit bis zu 175 Quadratmetern. Familien finden hier also genauso Platz wie Singles und Paare. Die Mietpreise zwischen 9,60 und 11 Euro (netto kalt) machen die Wohnungen für breite Bevölkerungsschichten interessant, liegen freilich dennoch über dem für St. Pauli üblichen Niveau. Unverständlich bleibt, warum man die südwestliche Ecke mit einem Bürogebäude besetzte: Die gestalterische und funktionale Integrität des Blocks wurde so unnötigerweise aufgegeben. Das mit dunkelbraunen, fast schwarzen Ziegeln verkleidete »Holland Haus« von coido architects ist jedoch ein schön anzuschauender, skulpturaler Baukörper mit Lufträumen, An- und Einschnitten, die geschickt zwischen den unterschiedlichen Gebäudehöhen der Umgebung vermitteln. Der im Westen angeschnittene, gläserne Sockel ist eine geschickte Inszenierung des seitlich liegenden Eingangs. Die beiden Dachterrassen sind für die Büroangestellten ein Zugewinn, für die Bewohner des Steidle-Blocks jedoch eher eine Störung der Privatsphäre. Östlich des Wohnblocks erhebt sich der Nachfolger des Astra-Turms, ein 68 Meter messendes Hochhaus von KSP Engel und Zimmermann, das weit weniger originell als sein Vorgänger daherkommt, dafür aber eine vornehme Zurückhaltung ausstrahlt. Die abgerundeten Ecken und die schön irisierenden keramischen Brüstungstafeln geben dem 18-Geschosser eine noble Note, die hier, auf dem Kiez, allerdings etwas deplatziert wirkt. Schräg gegenüber haben Axthelm Architekten aus Potsdam ein Büro- und Gewerbegebäude gebaut, das einen kleinen, offenen Hof umschließt. Die Einzelhandelsflächen im Erdgeschoss sind einem kleinen, leider zugigen Platz zugewandt, der das Zentrum des Quartiers bildet. Freilich kann die Architektur des Gebäudes der Bedeutung des Ortes nicht entsprechen. Zu simpel werden die Etagen aufeinandergeschichtet und an der Fassade durch den monotonen Wechsel zwischen Fenster- und Brüstungsbändern abgebildet. Östlich des wiederbelebten, das Areal diagonal durchschneidenden Zirkuswegs liegt das Atlantic Haus, ein riesiger Bürokomplex aus drei Achtgeschossern und einem zentralen Hochhaus mit 21 Geschossen. Man mag es kaum glauben, dass als Architekten Thomas Herzog (Planung und Regeldetails) und gmp (Realisierung) genannt werden, denn die äußere Erscheinung ist recht beliebig und schwach geraten. Der Einzige Hingucker bleiben die hinter den gläsernen Schmalseiten des Hochhauses in Szene gesetzten gigantischen Aussteifungskreuze.

Hamburger Understatement

Wie man es besser macht, zeigt am entgegengesetzten, westlichen Ende David Chipperfield. Sein »Empire Riverside Hotel« ist nicht nur architektonisch, sondern auch städtebaulich bemerkenswert. Auf 3800 Quadratmetern Grundfläche entstand ein Ensemble aus Sockelgebäude, 65 Meter hohem Hotelturm und Bürohaus. Geschickt werden hier durch Faltungen an der Fassade differenzierte öffentliche Räume geschaffen und dem Hochhaus mit seinen 22 Geschossen und 328 Zimmern die Wucht genommen. Die Bronzefassade wirkt ungewohnt und passt mit ihrer unregelmäßigen rotbraunen Farbe und matten Oberfläche doch äußerst gut ins raue St. Pauli. Was mindestens genauso wichtig ist: Das ganze Haus ist wunderbar lebendig. An die vier Geschosse hohe Lobby mit ihrer Rezeption grenzen offene Galerien, eine Lounge, ein Café, ein Restaurant, Konferenzräume und ein Ballsaal. Chipperfield durchbricht die rationale Strenge des Gebäudeinneren mit kleinen Lockerungsübungen: warme, holzgetäfelte Wände und Chesterfield-Sessel, denen durch knallbunte Farben jede Spießigkeit ausgetrieben wurde. Und in der obersten Etage liegt eine wirklich mondäne Bar mit spektakulärem Blick über die Stadt. Wenn man dort bei einem Getränk hinunterschaut, wird einem erst so recht bewusst, wie sehr das neue Quartier ins gewachsene St. Pauli eingreift. Und das war erst der Anfang: An der Reeperbahn werden demnächst die »tanzenden«, weil leicht geknickten Zwillings-Bürotürme von BRT Bothe Richter Teherani gebaut, der Stadtteil also von einer weiteren Seite in die Zange genommen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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