Zeitschrift

hochparterre 04|2009
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 04|2009
zur Zeitschrift: hochparterre

Alles oder nichts

Der Künstler Not Vital hat in Sent ein Haus gebaut, das auf Knopfdruck in der Erde verschwindet.

6. April 2009 - Roderick Hönig, Annina Weber
Not Vital verwirklicht einen Bubentraum nach dem anderen. Letztes Jahr hat der international erfolgreiche Künstler aus Sent im Unterengadin eine Insel im chilenischen Patagonien gekauft, in die er ein Höhlensystem graben will. Im italienischen Carrara höhlen seit über einem Jahr zwei Steinmetze in seinem Auftrag ein 9x2x2 Meter grosses Marmorstück aus — daraus entsteht eine begehbare Turmskulptur für einen belgischen Sammler. Auch in der afrikanischen Wüstenstadt Agadez baut der Künstler.

Seit 2000 erstellt er dort Lehm-Skulpturen — eine Schule oder ein Haus, das nur dazu dient, den Sonnenuntergang zu beobachten siehe HP 11 / 06. 1999 kaufte er den unfertigen Traum eines Anfang letztes Jahrhundert ausgewanderten Senters, einen Park, den der Industrielle am Eingang zu seinem Heimatdorf zwischen den Weltkriegen anlegen liess. Vital hat ihn in die Stiftung «Parkin Not dal mot» überführt und in jahrelanger Arbeit zusammen mit seinem Bruder Duri renoviert. 14 Skulpturen und Installationen hat er bis anhin darin realisiert. Unter anderem ein Haus aus Glas, eine Holzhütte am Wasserfall, zwei Eselsbrücken aus Aluminium, einen Turm der Stille.

Ein Bubentraum

Seinen Hang zum Bauen erklärt der Künstler mit seiner Lebensgeschichte, schon als Kind baute er Hütten im Wald: «Die Sommer in Sent waren lang, die Schulen fünf Monate geschlossen. Was mit der vielen Freizeit anfangen», fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: «Hütten bauen!» Zusammen mit den anderen Dorfbuben, aber auch alleine konstruierte er aus Abfallholz und Fundstücken Baumhütten, Unterstände, kleine Refugien. «Ich wollte schon immer meine bauen», so der heute 61-Jährige. Sein internationaler Erfolg als Plastiker, Zeichner oder Kupferstecher erlaubt es ihm nun, an seine Bubenträume anzuknüpfen und sie rund um die Welt und im grösseren Massstab zu verwirklichen. So hat sich das Haus als Skulptur als wichtiger Zweig in Vitals vielseitigem Schaffen etabliert.

Rauf und runter

Sein neustes Werk ist «Josüjo» («Runter-Rauf-Runter»in Rumantsch). Er hat es mit seinem Assistenten Mitsunori Sano entwickelt und in den «Parkin» gebaut. Es ist ein Einraum-Stahlhaus — ein «Teepavillon», wie Vital sagt — der auf Knopfdruck in der Erde verschwindet. «Ich wollte eine neue Skulptur in den bauen, aber den Gesamteindruck, die ausgewogene Verteilung der bisherigen Werke im Gelände, nicht in Frage stellen», erklärt Vital sein Dilemma rückblickend. «Das führte schliesslich zur Idee von , einem Haus, das da und dann wieder weg ist.» Form und Ausführung waren schnell klar: Das «Haus» sollte aus 10 Millimeter dicken Stahlplatten gebaut sein, im steilen Hang unterhalb der Strasse liegen und die Form eines Kuchenstücks haben.

Hydraulische Hebeanlage

Mit diesen wenigen Vorgaben ging Vital zum Ingenieur Jürg Buchli, der schnell Feuer fing für das Projekt. «Anfangs haben wir noch Ideen verfolgt, das Haus mit Luftkissen oder Wasserdruck zu heben. Wir haben aber schnell gemerkt, dass solche Lösungen das Budget sprengen. Deshalb haben wir uns für eine konventionelle hydraulische Hebeanlage entschieden. Sie lässt heute das über zehn Tonnen schwere Gebilde rauf- und runterfahren», so der Ingenieur aus Haldenstein. Das Projekt musste zwei grosse Hürden nehmen: Das schwierige Gelände und Kosten, die sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Denn die Betonwanne, in der der Stahlkörper rauf und runter fährt, liegt in einem Grund, der nicht sehr stabil ist und erst noch Wasser führt. Deshalb mussten die Arbeiter eine ziemlich grosse — und damit teure — Baugrube für die über fünf Meter tiefe Betonwanne ausheben. Aushub und Wanne machen rund die Hälfte der Baukosten aus, erklärt Jürg Buchli. Die hohen Kosten der Arbeit unter der Erde schränkten die Raffinesse der Hebeanlage ein. Deshalb liegen die drei Hubzylinder für den Betrachter unsichtbar in den Ecken des Innenraums und nicht wie erwartet zwischen Betonwanne und Haushülle. «Eigentlich ist die Hebeanlage nicht mit einem Lift, sondern eher mit der Kippanlage eines Lastwagens vergleichbar», schmunzelt der Ingenieur.

Kunst und Architektur

Not Vital selbst klassiert «Josüjo» als Architektur- und Kunstwerk. An seinem jährlichen «Parkin»-Fest präsentierte der Bündner das Haus zum ersten Mal einer grösseren Öffentlichkeit. Geladen waren viele Architekten und Künstler.

Die Reaktionen gingen von Begeisterung bis hin zur Irritation. «Mich erinnert das Haus an Filmsets von Ken Adam», sagt der Lausanner Künstler Karim Noureldin, «besonders interessant finde ich aber auch, wie sich das Haus wortwörtlich an der Schnittstelle von Skulptur und Architektur bewegt. Selten nähert sich eine Plastik derart an ein Gebäude an, ein bewohnbares Haus, das gleichzeitig nur Zeichen, Bild und Kunstwerk ist.» Robert Obrist sieht das Haus weniger als Architekturobjekt, denn als begehbare Plastik: «Für mich ist vor allem ein wichtiger Diskussionsanstoss», meint der St. Moritzer Architekt, «es wäre doch elegant — und meiner Meinung nach technisch durchaus machbar —, wenn man alle Zweitwohnungsbauten im Engadin auf Knopfdruck verschwinden lassen könnte. Doch leider ist die rege städtebauliche Diskussion verstummt, die an Vitals Fest entbrannte.»

Für Christoph Gantenbein stellt das Haus grundsätzliche Fragen ans Bauen und die Architektur: «Für uns Architekten ist es das tägliche Brot, anstelle des Nichts etwas zu schaffen», so der Partner bei Christ & Gantenbein. «Not Vital kehrt dieses Prinzip um: Er lässt ein Haus einfach wieder verschwinden.»

Aus dem Nichts ins Nichts

Ob Kunst- oder Architekturwerk — «Josüjo» kann durch sein quasi spurloses Verschwinden auf Knopfdruck als subversive Kritik an der Architektur verstanden werden. Denn wenn das Haus versenkt und der Lärm der Hydraulik verhallt ist, bleibt nur noch scheinbar unberührte Landschaft übrig. Dadurch, dass der Ort gleichzeitig mit und ohne Haus erlebbar ist, sozusagen das Vorher und Nachher gleichzeitig abrufbar sind, schärft Vital unsere Wahrnehmung und den Blick auf die Landschaft. Damit ist die Skulptur trotz ihrer rohen Umsetzung radikaler als manches ausgefeilte Bauwerk: Sie stellt nicht die Frage nach der Art der Architektur, sondern ob es sie überhaupt braucht.

Skulpturenpark Sent

Den Skulpturenpark «Not dal mot» am Dorfeingang von Sent kann man im Sommer besichtigen. Not Vital hat den historischen Park gekauft, ihn zusammen mit seinem Bruder Duri ausgeräumt und darin unter anderem eine Baumhüt-te platziert, einen Turm der Ruhe, eine Esels-brücke, ein Haus aus Glas und ein Haus, um den Wald anzuschauen. Vitals neuste Arbeiten sind «Josüjo» und die Spiegelbrücke «Punt». Im Sommer veranstaltet Sent Tourismus jeden Freitag Führungen durch den Park.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

Tools: