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Metamorphose 04/09
Wiederaufbau
Metamorphose 04/09
zur Zeitschrift: Metamorphose
Fokus: Wiederaufbau

„Tradition ehren wir, indem wir sie weiterentwickeln.“ (Gottfried Böhm, 1988 [1])


Wenn Krieg, Feuer oder Verfall Teile eines Gebäudes zerstört haben, stellt sich die Frage nach dem Wiederaufbau. In welcher Gestalt soll das Verlorene neu erstehen? Immer mehr Architekten verlassen die sicheren Pfade: Weder versuchen sie, das Alte einfach originalgetreu wiederherzustellen, noch ersetzen sie es durch eine plakativ moderne Form. Immer öfter gelingt stattdessen der schwierige Versuch, das Verlorene neu zu interpretieren und weiterzudenken.

Es ist eine Frage der Haltung: Wie sollen verloren gegangene Bauteile, die wieder neu in ein Gebäude eingefügt werden, gestaltet werden? Sollen sie die Formensprache des Originals aufgreifen? Sie kopieren? Weiterentwickeln? Oder sollen sie sich eindeutig als neu zu erkennen geben? Die Antwort scheint klar, nach der herrschenden Meinung in Fachkreisen muss Neues stets deutlich ablesbar sein. Alte Formen für neue Bauteile sind verpönt und werden schnell mit Begriffen bedacht, die eine moralische Komponente enthalten: Unaufrichtigkeit, Plagiat, Abklatsch. Doch Hand aufs Herz: Der Versuch, neu eingefügte Elemente durchgängig als neu kenntlich zu machen, stößt irgendwann an Grenzen. Nicht jede Reparatur, nicht jeder ausgetauschte Backstein muss sich in den Vordergrund drängen und auf den ersten Blick als spätere Zutat zu erkennen geben; vielmehr wird häufig ein homogener Raumeindruck angestrebt, bei dem Neues sich auch einmal tarnen darf.

Denn ein dezidiert modernes Implantat kann ein hohes Maß an Unruhe in einen Raum bringen. Es lässt die Architektur laut vernehmlich, vielleicht überlaut von sich selbst erzählen, von der Fügung der Bauteile, vom Aufeinandertreffen der Zeitschichten. Architekten und Denkmalpfleger mag diese Erzählung interessieren, doch Nutzer haben vielleicht ganz andere Interessen. Im Grunde geht es um die Frage, die schon die Postmoderne umtrieb: Welche Aussage soll ein Bauwerk treffen? Damit werden die Gedanken Robert Venturis wieder aktuell, der Gebäude anprangerte, die über einen ausschließlich architekturbezogenen Gehalt verfügen, die nur über ihre Konstruktion, Struktur oder Bauweise sprechen und deshalb von Nicht-Architekten weder verstanden noch gemocht werden. Laut Venturi haben die meisten Menschen eher „Freude an einer Architektur, die sie auch an etwas anderes als eben nur an Architektur erinnert.“ [2]

Überträgt man dies auf das Einfügen neuer Bauteile in alte Gebäude, so liegt es nahe, statt einer Betonung des Bruchs, der Fuge zwischen Alt und Neu, einen etwas homogeneren Raum zu schaffen, der sich nicht aufzwingt, sondern dezent im Hintergrund bleibt. Ein einheitlicheres Erscheinungsbild wird den Wünschen der Nutzer möglicherweise eher gerecht, so dass sich neue Bauteile stärker an die Formen der alten anlehnen müssten. Damit soll beim Einfügen neuer oder beim Wiederherstellen zerstörter Elemente nicht einer simplen Nostalgie-Architektur oder einer unbedingt wörtlichen Rekonstruktion das Wort geredet werden, sondern einer subtilen, differenzierenden Neuinterpretation des Alten: Sanfter Übergang statt hartem Bruch, Kontinuität statt Kontrast.

Viele Entwürfe setzen stattdessen auf maximalen Gegensatz zum Bestand, haben doch Architekten wie Carlo Scarpa und Karljosef Schattner wunderbar vorgeführt, wie sich Altes und Neues durch die Kontrastwirkung gegenseitig aufwerten. Der Gegensatz schärft den Blick für das Vorhandene und inszeniert den Bestand.

So überzeugend die Antworten waren, die Scarpa und Schattner für die Bauaufgaben ihrer Zeit fanden, so wenig eignen sie sich jedoch für viele Herausforderungen von heute. Während die beiden Architekten es mit wertvoller, recht alter Substanz zu tun hatten, die sie gerade durch das Hinzufügen deutlich modernerer Formen in Szene setzen, stellen sich inzwischen ganz andere Aufgaben: Den größten Anteil des heutigen Baubestands nehmen Gebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren ein, keine andere Epoche hat uns so viel Bausubstanz hinterlassen. Und nicht alles davon zählt zu den Höhepunkten der Architekturgeschichte. Wird ein belangloses Gebäude durch die Betonung des Gegensatzes von Alt und Neu nicht über Gebühr inszeniert? Und lässt sich zu der Architektur der Boomjahre überhaupt ein wirkungsvoller Kontrast entwickeln? Bietet es sich nicht vielmehr an, die Formensprache der Entstehungszeit fortzuschreiben, weiterzuentwickeln, da sie noch nicht in gleichem Maße veraltet ist wie bei Gebäuden früherer Epochen?

Die Zeit ist reif für einen dritten Weg zwischen Kontrast und Kopie, der noch viel zu selten beschritten wird. Die Kunst besteht darin, sich anzupassen, ohne sich anzubiedern, Vorhandenes zu komplettieren, ohne es zu kopieren.

Christian Schönwetter


Anmerkungen:
[01] Erna Lackner: Wie kann man Seele bauen? [Interview], in: FAZ-Magazin Nr. 458, 1988. S.78–89; zitiert nach: Frank Dengler: Bauen in historischer Umgebung. Die Architekten Dieter Oesterlen, Gottfried Böhm und Karljosef Schattner. Hildesheim 2003. S. 512
[02] Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Bd 53: Bauwelt-Fundamente. Braunschweig, Wiesbaden 1979. S. 86

Bestandsaufnahme
06-09 | Zurück ans Licht: Arabische Bäder in Baza, Andalusien (E)
10-21 | Projekte, Bücher, Bauwirtschaft, Termine

22-23 | Wiederaufbau
24-27 | Minenfeld Rekonstruktion: Originalgetreue Wiederherstellung zerstörter Gebäudeteile – Fluch oder Segen?
28-37 | 01 Beredtes Denkmal: Neues Museum, Berlin
38-45 | 02 Vorbehaltlos, beinahe zärtlich: Schweizerisches Landesmuseum, Zürich
46-51 | 03 Fließender Übergang: Hotel Imhofhaus in Binningen (CH)

Technik
52-55 | Wurzelbehandlung: Abdichtung erdberührter Fassadenbauteile im Bestand
56-57 | Putzdienst: Auffrischung und Sanierung von Fassadenputzen

Produkte
58-59 | Farbe und Beschichtungen
60-61 | Fassade
62-63 | Neuheiten

Fortbildung
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Verkannte Perlen
66-67 | Bedrohte Sozialutopie: Gesundheitszentrum von Berthold Lubetkin gefährdet

Rubriken
68 | Vorschau, Impressum, Bildnachweis

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