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TEC21 2009|36
Hallenzauber
TEC21 2009|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Vom Turnen zum Sport

Gespielt und gewetteifert wurde schon immer. Während in der Antike und im Mittelalter Turniere und Wettkämpfe bestritten wurden, brachte die Aufklärung eine Betonung des Gesundheitsaspektes für die gesamte Bevölkerung. Es entstanden Hallen zur Ausübung der Körperertüchtigung, die sich in Grösse und Raumprogramm an den Bedürfnissen des Turnens orientierten. Die Zunahme der englischen Teamsportarten seit Anfang des 20. Jahrhunderts führte zu einer kontinuierlichen Adaptierung der Gebäudetypologie.

3. September 2009 - Tina Cieslik
Jahrhundertelang war die systematische, leistungsorientierte Leibesertüchtigung dem Adel vorbehalten, während sich das Volk mit punktuell stattfindenden Spielen amüsierte. Im Gegensatz zur Antike und zum Mittelalter zeichnet sich der «moderne Sport» daher durch seine Breitenwirkung aus, die alle Gesellschaftsschichten umfasst. Die Grundlagen für diese Entwicklung wurden durch die Ideen der Aufklärung gelegt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Europa über den Stellenwert des Körperbewusstseins und der Körperertüchtigung debattiert. In seinem pädagogischen Werk «Émile ou de l’éducation» von 1762 betonte Jean-Jacques Rousseau die Bedeutung von Spielen und Bewegung als Teilen der Erziehung. Johann Heinrich Pestalozzi schuf die Idee der ganzheitlichen Entwicklung (Kopf, Hand, Herz) und formte daraus seine Elementargymnastik. 1793 erschien mit der «Gymnastik für die Jugend» von Johann Christoph Friedrich GutsMuths das erste systematische Lehrbuch der Turnkunst.

Realer Hintergrund dieses Prozesses war die Industrialisierung, die den Übergang von der Selbst- zur Fremdversorgungsgesellschaft und die Automatisierung der Produktion brachte. Die neue Klasse der Arbeiter stellte sozialpolitische Forderungen, etwa nach der Fünftagewoche und dem Achtstundentag, und schuf damit die Voraussetzung für etwas, das bis anhin nur die Herrschenden kannten: Freizeit. Allmählich hatte auch die Unterschicht Zeit, Musse und das Bedürfnis, sich Anerkennung ausserhalb des Arbeitsplatzes zu verdienen – eine Freiheit, die es auszufüllen galt.

„Sports“ in England - „Turnen für das Vaterland“ in Deutschland

In den europäischen Ländern bildeten sich verschiedene Modelle der Leibesertüchtigung aus, wegweisend waren England und Deutschland. In England, dem Ursprungsland der industriellen Revolution, waren Arbeitsteilung und individuelle Leistungsorientierung bereits Mitte des 18. Jahrhunderts weit fortgeschritten. Der sportliche Ansatz bestand hier darin, die traditionellen Volksspiele wie Rugby und Fussball stärker zu formalisieren und zu pädagogischen Zwecken zu nutzen. Die Begriffe «Fair Play» und «Gentlemanly Behaviour» sollten auch ausserhalb des Sports für breite Bevölkerungsschichten Bedeutung erlangen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann das englische Sportmodell auf den europäischen Kontinent überzuschwappen. Im deutschsprachigen Raum stiess es dabei auf erbitterten Widerstand der Turnvereine, die sich als Vertreter der körperlichen Bewegung etabliert hatten. Leibesübungen waren hier gleichzusetzen mit Turnen, und sehr oft: Turnen fürs Vaterland. Die Besetzung weiter Teile Deutschlands Anfang des 19. Jahrhunderts durch französische Truppen weckte den Drang zu bewaffnetem Widerstand, was den Stellenwert eines gesunden, wehrhaften Körpers erhöhte. Der bekannteste Protagonist innerhalb dieser nationalen Bewegung war «Turnvater» Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852). 1811 eröffnete er vor den Toren Berlins den Turnplatz Hasenheide, der eine hierarchiefreie deutsche Nation symbolisierte, wo sich alle mit «Du» ansprachen und ähnliche Kleidung trugen. Das galt allerdings nur für den männlichen Teil der Bevölkerung: Die Betonung des Wehrcharakters schloss die Teilnahme von Turnerinnen aus. Die stark nationalistisch motivierte Turnbewegung mit ihrem Streben nach einer einheitlichen Nation entwickelte sich jedoch zunehmend zu einer Provokation für die regierenden Kreise der deutschen Kleinstaaten: 1820 verhängte Preussen eine «Turnsperre», viele der deutschen Fürstentümer folgten. Jahn wurde verhaftet und unter Arrest gestellt, etliche seiner Anhänger flohen ins Ausland.

Turnbewegung und Nationalbewusstsein in der Schweiz

Zu dieser Zeit existierten in der Schweiz nur vereinzelt Einrichtungen zur Körpererziehung, etwa der Turnbetrieb, den der Turnlehrer Phokion Heinrich Clias (1782–1854) auf der Kleinen Schanze in Bern initiierte. 1816 schlossen sich Studenten unter Clias’ Führung zur «Vaterländischen Turngemeinde» und damit zum ersten Turnverein der Schweiz zusammen. Mit der Turnsperre in Deutschland gelangte das Jahn’sche Turnen auch in die Schweiz, wo es sich rasch verbreitete: 1832 erfolgte die Gründung des Eidgenössischen Turnvereins in Aarau. Ein wichtiges Bindeglied der zahlreichen Turngemeinden waren die jährlichen gesamtschweizerischen Turnfeste. Neben dem Sechskampf, bestehend aus Freiübungen, Wettlaufen, Springen sowie Übungen an Pferd, Barren und Reck, wurden 1855 Schwingen, Ringen, Steinstossen und Steinheben als «Nationalturnen» und als eigenständiger Wettkampf eingeführt.

Die Turnbewegung bildete in der Schweiz des 19. Jahrhunderts nicht nur die massgebliche Form der körperlichen Ertüchtigung; sie spielte auch eine sozialpolitische Rolle. Die Vereine waren Orte der Begegnung und der Festkultur. An den Feiern wurden patriotische Gefühle und Rituale gepflegt und das Nationalbewusstsein beschworen. Zwar gab es auch in der Schweiz restaurative oder sittlich-moralische Kritik an der Turnbewegung, etwa aus Sorge um etwaigen Autoritätsverlust von Pfarrern oder anderen Respektspersonen. Ein wesentlicher Unterschied zur Entwicklung in Deutschland war jedoch, dass sich die 1834 in den Statuten des Eidgenössischen Turnvereins festgeschriebene «Einigung der schweizerischen Turnerschaft» und die «nationale Erziehung der schweizerischen Jugend» nicht gegen die Regierung richtete.1 Dazu gab es auch keinen Grund, seit der Helvetischen Republik galt die Volkssouveränität. Im Gegenteil: Die Vereine fungierten als Stütze und Übungsfeld basisdemokratischer Verfahrensformen.

Die Pflege einheimischen Volkstums und nationaler Gesinnung inerhalb der Turnbewegung zeugt von einem Streben nach einer Gemeinschaft, die alle Bevölkerungsschichten umfasste.

Bauten und Dimensionen

Zu Beginn der Bewegung fand der Turnbetrieb in der Regel an fest installierten Geräten im Freien statt. So hatte eine Turnanlage gemäss Friedrich Ludwig Jahn primär folgende Kriterien zu erfüllen: «Jeder Turnplatz muss wo möglich folgende Beschaffenheit, Gelegenheit und Örtlichkeit haben. – Er muss eben sein, muss hoch liegen [...]; er muss festen, mit kurzem Rasen bedeckten Boden haben, und mit Bäumen bestanden sein [...]. Ein Hauptbedürfnis für jeden Turnplatz [...] ist eine verschliessbare feste Hütte [...] zur Aufbewahrung des beweglichen Turnzeugs und Geräthes [...]».[2] Die zunehmende Institutionalisierung und die Integration des Turnens in die schulische Erziehung führte aber bald zum Bau von einfachen Turnhallen. Johannes Niggeler (1816–1887), einer der bekanntesten Exponenten der Bewegung und Förderer des Schulturnens in der Schweiz, forderte 1860 eine Grundfläche von 2400 Fuss (ca. =12 × 24 m) pro gedeckte Anlage, damals für Klassen mit bis zu 50 Schülern und Schülerinnen.[3]

Im Zusammenhang mit dem ersten offiziellen Lehrmittel für den Schulturnunterricht, der 1876 erschienenen «Turnschule für Knaben und Mädchen» von Johannes Niggeler, publizierte die dem Militärdepartement angegliederte Eidgenössische Turnkomission (ETK) ab 1878 regelmässig Empfehlungen zum Turnstättenbau. Ab 1911 erschienen sie unter der Bezeichnung «Normalie». Das Reglement vom 1. August 1911 sah Hallenmasse von 9 × 18 m vor; Platz finden mussten ein Rollbalken, vier Rollrecke, acht Kletterstangen und vier Klettertaue. Diese Dimensionen waren ausschliesslich auf das Geräteturnen und damit auf die Bedürfnisse des Militärs bei der Aushebung abgestimmt. Trotz der abnehmenden Bedeutung des Wehrcharakters des Turnens und der zunehmenden Verbreitung der Ballspiele blieben diese Masse bis in die 1960er-Jahre hinein ausschlaggebend für den Sporthallenbau.

Polyvalente Bauten für den polysportiven Betrieb

Anfang des 20. Jahrhunderts geriet die militärische Ausrichtung des Turnens in die Kritik. Die Reformpädagogik kritisierte Künstlichkeit und Militarisierung des Schulturnens, während sich der Freizeitsport mit dem Aufkommen von Wanderbewegung, Leichtathletik und Ballsportarten immer weiter diversifizierte und institutionalisierte. Gleichzeitig setzte eine Professionalisierung ein, die sich auch in Dimension und Ausstattung der Sportstätten manifestierte. Schliesslich erlaubte erst die Standardisierung von Sportstätten und -geräten den objektiven Leistungsvergleich.

Ab den 1960er-Jahren war bei den Ballsportarten, die vorwiegend draussen gespielt wurden, ein Trend zur Verlagerung in die Halle zu erkennen. Die Wettspielmasse der Mannschaftssportarten beeinflussten die Dimensionen der Sporthallen, es entstanden die ersten Mehrfachhallen. Die heute bekannte klassische Dreifachhalle mit den Massen 45 × 27 m wurde in Deutschland aus der damals vorherrschenden Einfachhalle (15 × 27 m) entwickelt. Seit Oktober 2008 empfiehlt das Bundesamt für Sport (Baspo) für den Neubau von Dreifachhallen eine Grösse von 49 × 28 m. Dabei wird von einem Modul ausgegangen, das sich an einem Basketballfeld (26 × 14 m) inkl. umlaufenden Sicherheitsabstands von 1 m und dem Platzbedarf mobiler Trennwände (je 0.5 m) aufbaut (vgl. Abb.11). Auch die Anzahl der Kriterien, die es beim Sporthallenbau zu beachten gilt, ist gewachsen. Immer mehr und immer schnelllebigere Trends im Sport führen zu baulichen Anpassungen. Ausser den eigentlichen Turngeräten bieten die Hallen heute eine Vielzahl an Sportmöglichkeiten, wie das Anfang Mai eröffnete, vom Bregenzer Architekturbüro Dietrich/ Untertrifaller realisierte Sport Center an der ETH Hönggerberg zeigt. Dessen «konventionelles Angebot» wurde u.a. auf dem Dach um Plätze für Tennis, Bogenschiessen und Beachvolleyball erweitert. Seit 2004 kommen bei der militärischen Aushebung keine Kletterstangen mehr zum Einsatz. Sie werden daher – dem aktuellen Sportklettertrend folgend – zunehmend durch Kletterwände ersetzt. Beim Innenausbau ist neben der Wahl des richtigen Bodens (punkt-, kleinflächen-, flächen- oder kombielastisch) das Prinzip der «glatten Wand» zu berücksichtigen: Das bedeutet, dass die Oberfläche nicht rau und bis auf mindestens 2.70 m ab Boden flach, geschlossen und splitterfrei ausgebildet sein muss.

Die Zuwendung zu Ball- und Laufspielen hat die Zahl der Unfälle durch den Aufprall an der Hallenwand markant erhöht, eine nachgiebige Wandverkleidung ist daher wünschenswert. Die «glatte Wand» beinhaltet auch den flächenbündigen Einbau von ausklapp- oder hochfahrbaren Sportgeräten wie Sprossenwänden oder Ballspieltoren sowie den bündigen Einbau von Fenstern, Türen oder Heizungselementen.

Je nach Niveau gelten zudem Mindeststandards bei der Beleuchtung. Als Richtwerte sind für das Training 300 lx vorgesehen, bei regionalen Wettkämpfen 500 lx sowie 750 lx bei internationalen Konkurrenzen. Darüber hinaus sollte eine Halle möglichst blendungsfrei und gleichmässig ausgeleuchtet sein. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Akustik: Um den Lombard-Effekt, das Aufschaukeln des Schalls, zu minimieren, gilt für Mehrfachhallen eine maximale Nachhallzeit von ≤ 2.5 s.[4] Durch die Professionalisierung des Breitensports müssen die Hallen auch zuschauertauglich sein, was erhöhte Anforderungen an Brandschutz, Fluchtwege und unterstützende Infrastruktur mit sich bringt. Mit dem Wunsch nach energetischer Effizienz sowohl im Bau als auch im Betrieb ist in letzter Zeit ein weiterer Aspekt hinzugekommen, den es bei der Planung zu berücksichtigen gilt. Dass dies möglich ist, zeigen die 44 Neu- und Umbauten von Hallen, die in den letzten Jahren den Minergie- Standard für Sportbauten erreicht haben.[5]

Zeitgenössische Bauaufgabe

Aus den militärisch und politisch motivierten und bald standardisierten Körperübungen von Niggeler, Clias und Jahn ist längst eine diversifizierte Freizeitbeschäftigung geworden. Sporttreibende sind heute Individualisten, die zwischen verschiedenen Angeboten wechseln, je nach Mode, Bedürfnis oder Lebensphase. Diese Komplexität drückt sich in den dazugehörigen Bauten aus: Ein Blick auf die Wettbewerbslandschaft in der Schweiz zeigt, dass in den nächsten Jahren etliche neue Sporthallen entstehen und bestehende Anlagen den heutigen Anforderungen angepasst werden. Der Sport ist also tatsächlich im Alltag angekommen, ein Massenphänomen, dessen «fruchtbare Wirkungen nicht bloss das Leben auf dem Turnplatze sondern (…) auch für das gesellschaftliche und staatliche Leben (…) von Nutzen sind (…).»[3]


Anmerkungen:
[01] Zum Vergleich: «Das Turnwesen in Deutschland ist ein allgemeiner Männerbund zum Sturze der Tyrannei, zur Begründung der Freiheit, des Lichtes und der Einengung von Willkür.» Aus dem Protokoll des Frankfurter Turnfestes von 1847
[02] Friedrich Ludwig Jahn: Die deutsche Turnkunst. Berlin 1816, S. 188
[03] Johannes Niggeler: Turnschule für Knaben und Mädchen. 8. Auflage, Schulthess, Zürich 1888, S. 18
[04] Richtlinien zum Sporthallenbau finden sich u.a. in der Baspo-Norm 201 (2008) und der bfu-Dokumentation «Sporthallen-Sicherheitsempfehlungen für Planung, Bau und Betrieb»
[05] Bei Neubauten gilt eine Energiekennzahl von 25 kWh/m2, bei Umbauten 40 kWh/m2

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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