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TEC21 2010|12
Bergbau
TEC21 2010|12
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Würfelquarz

Im März 2007 wurde die 1995 erbaute Anenhütte am Ende des Lötschentals von einer Lawine nahezu vollständig zerstört. Anstelle eines Wiederaufbaus visierte der Eigentümer einen Neubau an. Unter strengen Auflagen: Zum einen musste die Lawinensicherheit des Neubaus garantiert, zum anderen durfte das sensible Umfeld nicht tangiert werden – der Standort der Hütte liegt im Unesco-Weltnaturerbe und ist Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung.

19. März 2010 - Tina Cieslik
Die alte Anenhütte (2358 m ü. M.) befand sich in einem Gebiet, das beim Bau 1995 als lawinensicher bzw. als schwach lawinengefährdet eingestuft wurde. Daher wurden auch keine konstruktiven Massnahmen gegen eine Lawineneinwirkung unternommen. Nördlich der Hütte befindet sich ein etwa 10–15 m hoher Felsrücken, der in der Regel den vom Jegichnubel (3124 m ü. M.) kommenden Schnee abhält.

Rekonstruktion des Ereignisses und Prognose

Als die Anenhütte am 3. März 2007 von einer Lawine überrollt wurde, gab es keine Augenzeugen. Um das Ereignis zu verstehen und eine Wiederholung zu verhindern, simulierte das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos über 150 Varianten des Ereignisses. Dazu analysierte man neben den damaligen Wetter- und Schneebedingungen auch die Bruchbilder der Stahlbetonbauteile. Das Ergebnis: Nachdem in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2007 etwa 1 m Neuschnee gefallen war, wurde die Hütte von einer Staublawine aus dem Geländekessel südlich des Jegichnubel getroffen, die den natürlichen Schutzgraben spiralförmig übersprungen hatte. Dabei wurde vermutlich zunächst das nicht gegen Lawinendrücke gesicherte Dach abgehoben. Eine haushohe Ecke an der nordöstlichen Fassade, die der Lawine eine optimale Angriffsfläche bot, verstärkte die Wirkung zusätzlich. Die Simulationen ergaben aber, dass der Standort im Schutz einer Felsrippe als sicher vor Kleinereignissen mit einer Wiederkehrdauer von 30 Jahren einzustufen ist.1 Die Hütte befindet sich etwa 200 m westlich der Lawinenhauptstossrichtung, zudem werden abfliessende Lawinen durch die Geländeform mit Moränen, Vertiefungen und Verflachungen nicht kanalisiert, sondern gebremst. Der nördlich der Hütte liegende Graben kann Lawinen aufnehmen, abbremsen oder umlenken. Allerdings besteht eine Lawinengefahr für Ereignisse mit einer Wiederkehrdauer von 300 Jahren. Für diese Ereignisse sind Lawinendruckwerte von 10–25 kN/m2 (je nach Bahn) zu erwarten. Damit liegt der Standort in einer blauen Lawinenzone, was einer seltenen und mässigen Gefährdung entspricht.

Standortbestimmung

Für den Besitzer der Hütte, der Ingenieur und Bergführer ist, stand früh fest, dass die Hütte wieder aufgebaut werden sollte – ein intuitiver Entscheid. Da alternative Standorte im Gebiet deutlich schlechter geeignet waren, konnte durch die Klassifizierung als blaue Lawinenzone ein Neubau der Hütte am gleichen Ort ins Auge gefasst werden. Zunächst ging es aber ans Aufräumen: Die Trümmer der Hütte lagen in einem Umkreis von bis zu 2 km im Tal und auf dem Langgletscher verstreut. Drei Monate lang wurde der Bauschutt nach Materialien getrennt, zerlegt, in helikoptertaugliche Pakete bis maximal 750 kg gepackt und ins Tal abtransportiert. Die zerstörte Hütte wurde bis auf die Grundmauern zurückgebaut. Um den Raumbedürfnissen der neuen Hütte gerecht zu werden, musste zusätzlich Fels gesprengt werden. Parallel zu den Aufräumarbeiten lobte die Bauherrschaft einen Studienauftrag unter fünf Architekturbüros aus. Neben dem architektonischen Ausdruck waren Sicherheitsaspekte ausschlaggebend: Die äussere Form hatte sich primär den Erfordernissen einer optimalen Druckverteilung bei einer Lawine unterzuordnen. Das gewählte Projekt ist kubisch angelegt. Mit der fensterlosen Nordfassade ist die kleinste Wand senkrecht zur Lawinenstossrichtung angeordnet und bietet wenig Angriffsfläche. Der Standort der neuen Hütte ist gegen Norden verschoben, dadurch würde ein Aufprall durch die Platzierung des Baus an einer Felsrippe gemildert (Abb. 12). Die Ostwand ist leicht geneigt, auch dies soll eine aufprallende Lawine ablenken. Der Eingang zur Hütte befindet sich an der lawinenabgewandten Westseite. Es gibt keinerlei Auskragungen oder Dachaufbauten, die Fenster stehen bündig mit der Aussenwand. Letztere waren so zu konstruieren, dass sie an der lawinengefährdeten Ostfassade den Druckkräften einer möglichen Lawine standhalten können, an Süd- und Westfassade den Sogkräften. Dafür wurden Druckkräfte von 20 kN/m2 angenommen. Neben der Verglasung war auch die Rahmenkonstruktion entsprechend auszuführen: Eine reguläre Fensterverglasung mit Glasleisten ist dafür nicht geeignet. Stattdessen wurde eine abgestimmte Rahmenkonstruktion mit 7 cm dickem Panzerglas (an der aufprallgefährdeten Ostfassade) gewählt. Aufgrund der Grösse und des Gewichts der Fenster mussten sie beim Bau von aussen eingesetzt werden. Neben den konstruktiven Auflagen wurde ein Wiederaufbau auch an ein Nutzungsverbot im Hochwinter geknüpft, es gibt auch keinen Winterraum.

Bauen im Weltnaturerbe

Eine besondere Situation ergab sich beim Bau zusätzlich durch die Umzonierung des Gebiets zum Unesco-Weltnaturerbe. Die Region Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn (heute: Jungfrau-Aletsch)2 wurde 2001 zum Weltnaturerbe erklärt. 2007 wurde das Gebiet um über 50 % erweitert und umfasst heute ein 824 km2 grosses Gebiet. Zum erweiterten Perimeter gehört auch das Lötschental mit dem Gebiet um den Anusee und die Anenhütte. Darüber hinaus liegt die Hütte auch im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Der neue Status zeigte sich beim Neubau der Hütte weniger in Auflagen an Konstruktion und Nutzung, sondern primär in der Durchführung der einzelnen Bauprozesse. Die Unversehrtheit bzw. die korrekte Wiederherstellung der umgebenden Natur musste während der Bauarbeiten durch mehrere Gutachten dokumentiert werden. Im September 2007 wurde eine provisorische Baubewilligung erteilt, und die Wiederaufbauarbeiten konnten beginnen. Für deren Ausführung ebenso wie für das Engineering zeichnete die Bauherrschaft verantwortlich. Die Materialtransporte erfolgten fast ausschliesslich viaHelikopter, lediglich der Spreizbagger war zu schwer und wurde zur Baustelle gefahren – eine Reise von 13 Stunden für eine Strecke von knapp 5 km und 600 Höhenmetern.

Die Tragkonstruktion wurde aus 685 m³ Stahlbeton erstellt, pro Kubikmeter Beton waren vier Rotationen (1 Rotation = Hin- und Rückflug) mit dem Helikopter notwendig. Gewählt wurde ein wasserdichter Beton der Festigkeitsklasse 30/37 und der Expositionsklasse XC4 mit einer hohen Endfestigkeit. Eine der Herausforderungen bestand darin, den Beton über die lange Transportzeit – 1.5 h vom Betonwerk bis zum Helikopterlandeplatz, dann Umfüllen für den Helikopterflug zur Baustelle – verarbeitbar zu erhalten. Zusätzlich erschwert wurde dies durch die tiefen Temperaturen von bis zu –27 º C. Der Beton wurde daher im Betonwerk mit 50 º C heissem Wasser hergestellt, beim Transport hatte er eine Temperatur von etwa 25 º C, die beim Umladen in die Kübel für den Helikopter nochmals um etwa 3–5 º C absank. Um ein Gefrieren des Betons zu verhindern, wurden die Behälter mehrfach gereinigt und mit einem Schalungsöl behandelt. Nach dem Einbau in die Schalung wurden die Flächen sofort mit Heizmatten bekleidet, darüber hinaus wurde dem Beton auch ein Frostschutzmittel beigesetzt. Lange war für die Hütte eine Kompaktfassade aus aufgeklebten Schieferplatten auf einer Foamglasisolation projektiert. Die gewünschte, nahezu fugenlose Verarbeitung liess sich jedoch nicht realisieren, zu hoch waren die Belastungen durch Wind und Witterung auf über 2000 m – die Systemlieferanten konnten keine Garantien übernehmen. Eine hinterlüftete Steinfassade genügte den Ansprüchen an die Lawinensicherheit nicht, insbesondere wegen auftretender Sogkräfte. Zum Einsatz kam schliesslich eine Kompaktfassade mit mehrschichtig verputzter Aussendämmung (Abb. 11). Die oberste Schicht enthält gemahlenes Aluminium, das mit dem Licht der Tageszeiten spielt und die Massivität des Volumens optisch unterstützt. Die beliebig wirkende Platzierung der Fenster in der Fassade entwickelte sich aus den Innenräumen, die genaue Anordnung und die Dimension der Öffnungen wurden situativ auf der Baustelle festgelegt. Dafür wurde die Blickachse der Besucher simuliert, die Öffnungen wurden am Ort mit der schönsten Aussicht fixiert und die entsprechenden Aussparungen in der Schalung vor Ort angepasst.

Reduktion im Inneren

Die noch erhaltenen Kellermauern wurden in den Neubau integriert und zu einem Sockelgeschoss erweitert, das Technik- und Lagerräume, Hüttenwartin- und Helferinnenzimmer, Sanitärräume und einen Wellnessbereich umfasst. Auch die Haupterschliessung erfolgt durch den Sockel in der Westfassade. Von hier gelangt man über eine zentrale Treppe ins 1. Obergeschoss mit Küche, Essraum und Zugang zur Aussenterrasse auf der Südseite. Um die Brandsicherheit zu gewährleisten, wurde das Treppenhaus als separater Brandabschnitt ausgeführt. Hier musste die Feuerresistenz der Stahltreppe und der Wandpaneele über Materialtests nachgewiesen werden, ebenso wie die Funktionstüchtigkeit der integrierten Brandschutztüren (Abb. 17).

Blickfang im Essraum sind die bis zu 6.40 m breiten Langfenster, die – klare Sicht vorausgesetzt – eine Aussicht bis zum Talanfang und auf die 4000er des Unterwallis gewähren. Im Inneren kommen nur wenige Materialien zum Einsatz: Fugenlos zusammengefügte Lärchenholzpaneele bilden eine homogene Oberfläche, der Boden ist mit Schieferplatten aus Norditalien belegt. Nichts stört die Uniformität der Fläche, auch die Leuchten sind als paneelbreite Streifen bündig in die Holzdecke integriert (Abb. 14). Letztere ist zu Akustikzwecken mit einer 1.5 mm-Lochung versehen. Die fugenlose Verarbeitung erforderte einen hohen Grad an Präzision in Produktion und Montage. Der Innenraum im Rohbau wurde per Laser vermessen, bevor die einzelnen Lamellen in Auftrag gegeben wurden. Vom 1. Obergeschoss führt die Treppe zu den beiden Schlafgeschossen. Gesamthaft sind hier 58 Schlafplätze angeordnet, acht davon für das Hüttenpersonal. Das Angebot reicht von Massenlagern mit 10 bis 12 Plätzen über Gruppen- und Familienzimmer mit Doppel- und Einzelbetten bis zu den beiden «Suiten» mit Doppelbett und eigenem Bad. Eine Besonderheit ist das einzige dekorative Element. Durch das ganze Haus sind die Holzoberflächen auf Augenhöhe durch integrierte, paneelbreite Bildleisten unterbrochen. Sie zeigen historische Aufnahmen aus dem Lötschental, die dank Mund-zu-Mund-Propaganda von Bewohnern des Tals zusammengetragen wurden. Mancher Wanderer hat hier schon seine Verwandten und Ahnen «besucht»: ein Bekenntnis der Hütte zum Tal und seinen Bewohnern und Bewohnerinnen.

Effiziente Versorgung, einfache Entsorgung

Zur Stromversorgung wurde nördlich der Hütte ein Wasserkraftwerk gebaut, bestehend aus Wasserfassung und Sandfang. Eine 850 m lange Druckleitung führt über eine Höhendifferenz von 165 m zum Turbinenhaus, wo eine zweistrahlige Peltonturbine mit Generator den Strom erzeugt. Die dafür notwendigen Rohre wurden im Tal zusammengeschweisst und in über 80 m langen Teilstücken von Helikoptern auf den Berg transportiert. Der durch Wasserkraft erzeugte Strom deckt den gesamten Energiebedarf der Hütte, wobei die Turbine immer nur so viel Strom erzeugt, wie gerade gebraucht wird (Abb.10 und Kasten). Werden allerdings mehrere Geräte mit hohem Verbrauch gleichzeitig eingeschaltet, kommt es zu einer Verzögerung von 2 Sekunden, bis sich die Turbine auf den neuen Bedarf eingestellt hat – ein Umstand, auf den nach der ersten vollständig betriebenen Saison 2009 reagiert wurde. Der Generator produziert jetzt mindestens konstant 50 kW; ein Wert, mit dem auch Leistungsspitzen abgefedert werden können. Das zu viel produzierte warme Wasser wird in zwei Speicher eingespeist. Dort steht es für Geräte wie Kaffee- oder Geschirrspülmaschine bereit und hilft, die dort nötige Energie zur Erwärmung zu reduzieren. Durch diesen Kunstgriff wird nicht nur das gesamte System stabiler, die einzelnen Geräte sind auch weniger schadenanfällig. Die Versorgung mit Brauch- und Trinkwasser erfolgt über die zahlreichen Quellen im Umkreis der Hütte – die Quelle für das Trinkwasser weist sogar Mineralwasserqualität auf. Eine mehrstufige Kläranlage unterhalb der Hütte reinigt das Abwasser und lässt es in der zerklüfteten Felszone unterhalb der Hütte versickern. Um das Funktionieren der abgestimmten Systeme auch im Winter, wenn die Hütte geschlossen ist, zu gewährleisten, wurden Sensoren angebracht, die es ermöglichen, Innentemperatur, Luftfeuchtigkeit und die Werte der Kraftwerkseinrichtungen extern zu überwachen und bei Bedarf regulierend einzugreifen.

Nachhaltigkeit und Kommerz

Neben der spektakulären Entstehungsgeschichte ist auch das Angebot der Anenhütte aussergewöhnlich. Durch den einfachen Zustieg wird die Hütte im Sommer primär von Tagestouristen und Wanderern besucht. Bergsteiger sind selten, sie nutzen die Hütte allenfalls als Zwischenstation zur Hollandia- oder zur Konkordiahütte. Von März bis Juni fahren zahlreiche Skitourenfahrer nach der Überschreitung der Lötschenlücke zur Fafleralp oder nach Blatten hinunter.

Die Hütte reagiert auf diese Situation mit einem an die Nutzer angepassten Angebot: Ein Wellnessbereich mit Sauna bietet Entspannung, es gibt Doppelzimmer mit Individualbadezimmern, alle Schlafplätze sind mit Duvets ausgestattet, im Keller lagert der Wein unter optimalen Bedingungen – fliessend (warmes) Wasser und Toiletten mit Wasserspülung sind da praktisch eine Selbstverständlichkeit. Der Eigentümer sieht sich denn auch oft der Kritik der Berggänger alter Schule ausgesetzt, die sich an der modernen Erscheinung und dem De-luxe-Angebot der Hütte stören. Eine Klage, die er mit dem Hinweis auf die Geschichte der Berghütten zurückweist: Schon immer bestand der Hüttenbau im state-of-the-art, der zeitgemässen Konstruktion und Verwendung von Materialien (vgl. TEC 21, 41/2009, Monte- Rosa-Hütte). Im aktuellen Wellness-Zeitalter gehört für ihn dazu eben auch eine Sauna.


Weiterführende Literatur zum Bauen in den Bergen:
– Roland Flückiger-Seiler: «150 Jahre Hüttenbau in den Alpen», in: Die Alpen, 7/2009 und 8/2009
– Jakob Eschenmoser: Vom Bergsteigen und Hüttenbauen. Orell Füssli, 1973
– Christoph Mayr Fingerle (Hrsg.): Neues Bauen in den Alpen. Birkhäuser, 2008
– Diego Giovanoli: Alpschermen und Maiensässe in Graubünden. Haupt Verlag, 2004

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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