Zeitschrift

TEC21 2010|20
Naturtheater
TEC21 2010|20
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Promenade zum Rhein

Der Rheinfall ist und bleibt ein grandioses Spektakel. Doch sein Zugang auf Zürcher Seite durch das Schloss Laufen war völlig veraltet. Ein beträchtlicher Besucherrückgang veranlasste den Kanton Zürich, die Anlagen umfassend zu sanieren. Ein Spaziergang zeigt, was gebaut und wie das Naturtheater neu inszeniert wurde.

14. Mai 2010 - Hansjörg Gadient
Am Anfang des Besuchs überrascht ein Gebäude, das zugleich ganz gegenwärtig-aktuell und zeitlos-einfach wirkt: eine schlichte Hausform wie aus einem Märchenbuch mit Techno- Touch (Abb. 3, rechts). Die Architekten Leuppi und Schafroth haben aus einem hässlichen Personalhaus, das seine letzte Erneuerung vor rund sechzig Jahren gesehen hat, eine Schatulle mit nobler Auskleidung gemacht. Dafür haben sie den vorhandenen Altbau um die Hälfte verlängert und in eine Hülle aus wetterfestem Stahl verpackt. Hinter der Idee stand eine Mischung aus Bildern: das Plattnerwerk eines Harnischs, Schweizer Stickereien und die Vorstellung einer warmen, lebendigen Oberflächenfarbigkeit. «Swissness» signalisiert nun das Ornament der Fassade; es sind leicht verfremdete Schweizerkreuze, die aus den Metallplatten geschnitten wurden und Licht und Luft zu den dahinter liegenden Räumen gelangen lassen. Die rostrote Hülle schliesst bündig an die alten Biberschwanzziegel der Dachtraufe an. So entsteht ein Haus von einfacher Form und schönen Proportionen. Das ist gelungen, ist so doch die ganze Biederkeit des Altbaus einem Eindruck von eleganter und doch ländlicher Grosszügigkeit gewichen. Ursprünglich war vorgesehen, die Vordächer aufklappbar auszugestalten, sodass sie im geschlossenen Zustand die Kompaktheit der Form noch unterstrichen hätten. Wie an anderen Orten zwang der Kostenrahmen zu Vereinfachungen. Die Vordächer sind fest montiert; das Visier des Harnischs bleibt offen.

Die vorgesetzte Fassadenschicht führt zu raumhaltigen Aussenwänden, in die Schalter, vitrinenartige Schaufenster oder – im Café – Sitznischen eingelassen sind, eine nicht zu unterschätzende Bereicherung. Innen ist die metallene Schatulle mit einem sorgfältig detaillierten Ausbau in Lärchen- und Eichenholz ausgekleidet. Zusätzlich trägt die Intervention im Dachgeschoss zur Analogie einer feinen Schatulle bei: Der von Zugbändern frei gehaltene Zeltraum ist ganz mit Filz kaschiert (siehe Abb. 6), eine nicht nur akustisch, sondern auch ästhetisch überzeugende Idee. Wer hier eine Veranstaltung besucht, kommt in ihren Genuss. Der Weg führt zurück in den Aussenraum. Auch hier haben die Architekten vereinfachend und klärend eingegriffen, vor allem mit einer Stützmauer aus gestocktem Beton, in den Kalkstein in der Farbe des alten Mauerwerks eingelassen wurde. Die Mauer schwingt sich um die Rückseite des Gebäudes und endet als Sitzgelegenheit neben der Bestuhlung des Cafés. Von hier aus fällt der Blick auf das Schloss und seine Wehranlagen.

Mikado im Wald, Magnolie im Schloss

Ausser der Attraktivitätssteigerung gab es ein zweites Ziel der Sanierung: Die Aufenthaltsdauer der Gäste sollte markant erhöht werden. Und wer drängt zum Gehen, wenn es langweilig wird? Die Kinder. Für sie haben Schmid Landschaftsarchitekten hier an strategisch bester Stelle, zwischen Restaurant und Besucherzentrum, einen grosszügigen Spielplatz angelegt. Im abschüssigen Terrain verbinden sie die Geländestufen mit einem riesigen Mikado aus Baumstämmen, eine thematische Referenz an den nahe liegenden Wald und eine Einladung an die Kinder, ihren Gleichgewichtssinn zu erproben. Einige der Stämme sind beweglich und entpuppen sich als Wippen und schwankende Stege. Eine Drehscheibe und einige Wippteller ergänzen im Wortsinn punktuell die Linien der Stämme. Die Spielgeräte bleiben niedrig, so vermeiden die Landschaftsarchitekten geschickt den Zwang, die hässlichen Fallschutzbeläge anlegen zu müssen, die Sicherheitsvorschriften heute fordern. Und während sich die Kinder auf dem Spielplatz austoben, kann der beschauliche Spaziergang durch das Schloss beginnen.

Schon im ersten Hof stimmen Abbildungen des Rheinfalls aus verschiedenen Epochen auf das Thema der Ausstellung im ehemaligen Wohnhaus ein. Aber zuvor empfängt einen der eigentliche Schlosshof, der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Begehung. Er hat – wie die Bauten selbst – im Laufe der Geschichte viele Umgestaltungen erfahren. Vor der Sanierung machten Asphalt, Rasen und eine heterogene Bepflanzung den Hof zu einer Kreuzung aus Vorfahrt und Garten. Wie die Architekten beim Besucherzentrum klärend wirkten, haben auch die Landschaftsarchitekten die Lösung in der Vereinfachung gefunden. Rasen und Asphalt wurden entfernt und der Rand des Hofes mit einer Fortsetzung der vorhandenen Pflästerungen ergänzt. Einzig die majestätische Magnolie im Zentrum blieb erhalten; als veritabler Solitär steht sie inmitten des entleerten Hofes in einem neuen Beet (Abb. 8). Würde und Ruhe sind wiederhergestellt.

Hier wird eine Entscheidung fällig: gleich hinunter zum Wasserfall? Und wenn ja, per Lift oder zu Fuss? Oder doch zuerst ins Museum, das keines ist? – Wir wollen die Vorfreude auf das Naturereignis verlängern und entscheiden uns für das Museum.

Cataracta Rheni

Es ist kein Museum, wie die Gestalter der Ausstellung, Bellprat Associates, betonen, sondern ein «Historama». Wie andernorts fordert der Zeitgeist nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung. Den Autoren ist der Anspruch mit einem Rückgriff auf die Welt der Schausteller gelungen. Ihre Aufarbeitung der Themen sind als Klanginstallationen, als Kulissenräume und als bewegliche Kleintheater gestaltet. Den Rahmen für diese Einbauten haben wiederum die Architekten Leuppi und Schafroth mit einer denkmalpflegerisch sorgfältigen und zurückhaltenden Renovation geschaffen, am besten zu beobachten im Eingangsraum, dem historisierenden Treppenhaus und dem sogenannten Bleulersaal (Abb. 9 und 10). Beide sind auf den historischen Bestand zurückgeführt, die nötigen technischen Einbauten geschickt hinter den Verkleidungen versteckt.

Von Raum zu Raum spielt sich nun eine Folge von publikumswirksamen Inszenierungen einzelner Themen ab. Am Anfang steht das Bild des Rheinfalls. Das Naturschauspiel zieht seit einem halben Jahrtausend Reisende aus Europa und der ganzen Welt an. Viele von ihnen haben ihre Eindrücke in Kohle, Öl und Wasserfarben festgehalten. Die erste bekannte Darstellung des «Cataracta Rheni» erscheint in der «Cosmographia» des Sebastian Münster (1455–1552) und legt den Grundstein für dessen Berühmtheit: «Zehen oder zwoelff clafftern hoch falt er strack oben abher, es ist ein grausam Ding zusehen, es wirt das wasser, so es oben abher schusst, zuo einem gantzen schaum, do mag kein schiff abher kommen, anderst es zerfiel in tausend stuck», schreibt Munster. Ihm folgen viele Berühmtheiten, unter anderem Michel de Montaigne, Kaiserin Sisi und William Turner. Ihnen gemeinsam ist das Interesse am Rheinfall als Naturschauspiel. Sie kommen um der Betrachtung willen. Den Gegenpol dazu bilden diejenigen, die vor allem den technischen Nutzen – oder die Verhinderung desselben durch das Hindernis Rheinfall – gesehen haben. Die ersten waren holländische Kaufleute, die 1609 vorschlugen, den Rheinfall zu sprengen. So liesse sich Holz viel einfacher flössen, als wenn es – wie alle Waren – umständlich oberhalb aus dem Wasser gebracht und unterhalb wieder verladen werden müsste. Sie hatten keinen Erfolg, nicht zuletzt weil die Anwohner von dieser Arbeit lebten und sich entsprechend vehement widersetzten. Rund um den Rheinfall entwickelten sich im Laufe der Zeit die verschiedensten ökonomischen Interessen; die Nutzung der Wasserkraft und der Tourismus sind die wichtigsten. Ein Besuch im neuen Historama klärt vergnüglich und erstaunlich effizient darüber auf. Etwa zwanzig Minuten haben Bellprat Associates dafür vorgesehen, man kann – und sollte – sich aber mehr Zeit nehmen.

Fast am Ende des Rundganges findet sich eine besonders gelungene Synthese von Architektur und Inszenierung. Das von der Feuerwehr beanstandete zweite Treppenhaus musste ersetzt werden. Aus diesem funktional notwendigen Element haben die Architekten eine ausnehmend interessante Raumschöpfung gemacht, in der Treppen und Fluchtkorridore auf der verwinkelten Geometrie der Grundfläche zu einem faszinierenden dreidimensionalen Gefüge geworden sind (Abb. 13). Die Ausstellungsmacher haben einen Teil davon in dunkelgrauer Eisenglimmerfarbe gestrichen, weil hier die Rolle der Eisenbahn für den Rheinfall gezeigt wird. Dieser Anstrich betont die räumlichen Qualitäten, und aus der banalen Notwendigkeit einer Fluchttreppe wird einer der architektonisch interessantesten Räume des Historamas.

Aus dem letzen Raum des Rundganges fällt endlich der Blick fast unbehindert auf das tosende Schauspiel dort draussen. Es ist der frühere Weg, der in Windungen und unterbrochen von Kanzeln und Aussichtspunkten wieder genutzt wird. Erneuert, ergänzt und wo notwendig aufgefrischt führt er durch das steile Gelände. Bellprat Associates und Schmid Landschaftsarchitekten haben mit feinen Eingriffen den Weg selbst und seine Bezüge zum Wasserfall überhöht und damit aufgewertet. André Schmid betonte von bestimmten Stellen des Wegnetzes aus den Ausblick in die Landschaft, andere deckte er mit Gehölzen ab.

So lenkt er den Blick an Wegbiegungen gezielt in die Weite, auf das Becken oberhalb des Falles, auf das Schloss Wörth am gegenüberliegenden Ufer und endlich auf den Fall und seine malerischen Felsen selbst. Andere Partien werden mit jungen Bäumen dicht bepflanzt, und man schreitet durch waldähnliche Partien, bevor sich ein neuer Blick eröffnet. Das ist gestalterisch geschickt und – wenn man bedenkt, wie viele Vorgaben von Naturschutz, Heimatschutz und touristischem Verwertungsinteresse gleichzeitig zu beachten waren – Respekt erheischend (vgl. Kasten S. 22).

Die Stimmen des Rheinfalls

Unversehens trifft man an einer Stelle auf eine Reihe von neun schlanken Rohren, die über das Geländer heraufragen. Die Rohre sind unterschiedlich lang; wer an ihnen lauscht, hört den Rheinfall eine Tonleiter singen. Das ist eine entzückende Idee, zurückhaltend realisiert und auf einer historischen Tatsache beruhend. Denn als es in Europa noch sehr viel ruhiger war als heute, war der Rheinfall auch ein akustisches Phänomen. Man reiste dahin, um dieses ungeheuerliche Tosen zu hören! Und wirklich: Nach der Einstimmung an den Klangröhren ist das Ohr geschärft für den Gesang des Wassers. Man lauscht im Dröhnen den verschiedenen Frequenzen und Melodien, und aus dem Lärm ist Musik geworden. So ist die eigentliche Begegnung mit dem Wasserfall historisch und sinnlich vorbereitet, wenn man zuunterst auf der Kanzel steht, vor sich diesen Berg aus Wasserschaum.

Der Rückweg vom Wasserfall kann über einen neuen Steg angetreten werden, der einen zum Lift und zurück zum Schlosshof führt (Abb. 14 sowie Bilder S. 25–27). Gebaut wurden Steg und Lift allerdings nicht nur zur Entlastung des alten Weges, vielmehr sollte der Zugang zum Wasserfall auch Gehbehinderten, Rollstuhlfahrern und Familien mit Kinderwagen vom Schloss aus möglich sein. Ihnen steht deshalb im Schlosshof der Zugang zum Lift offen, der sie auf den nur flach geneigten Steg führt. Die SBB-Station kann allerdings weiterhin nur über Stufen erreicht werden. Dass der Lift einen nicht unerheblichen Eingriff ins Landschaftsbild bedeutet, hat zu einiger Opposition geführt. Deshalb wurde er an einer möglichst unauffälligen Stelle positioniert und mit schnell wachsenden Weiden umpflanzt. Die Fahrt in einer der voll verglasten Kabinen erlaubt noch einmal einen bewegten und bewegenden Blick zurück auf den grössten Wasserfall Europas. Augen, Ohren und vielleicht sogar das Herz voller Eindrücke, kehrt man in den Schlosshof zurück und lenkt die Schritte zurück zu Spielplatz und Besucherzentrum, wo diese Promenade architecturale endet.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: