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hochparterre 08|2010
Zeitschrift für Architektur und Design
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Wasser zähmen

Conzett und Zumthor bauen gemeinsam den neuen Hochwasserschutz in Vals. Und dem Dorf ein neues Wahrzeichen. Wasser zähmen

23. August 2010 - Axel Simon
Regen und Schmelzwasser verwandelten den Dorfbach in einen reissenden Strom und liessen ihn schliesslich über die Ufer treten. Die Einwohner von Vals standen auf ihrem verwüsteten Dorfplatz und diskutierten, geschlossen in die USA auszuwandern. Dank kantonaler Hilfe blieben sie. Das war vor 142 Jahren. Im Juni 2010 feiern sie ihre neuen Hochwasserschutzbauten und mit ihnen ein neues Wahrzeichen, eine Brücke aus Stein. Ein Schülertheater spielt die historische Gemeindeversammlung auf dem Dorfplatz nach. Die Sonne scheint, der Valser Rhein plätschert, und es braucht schon viel Fantasie, die wuchtigen Mauern, die nicht weniger wuchtige Brücke und das Rinnsal darunter in einen Zusammenhang zu bringen.

Der Fluss

Jeder Valser erinnert sich an die Jahre, als der Rhein es besonders toll trieb. Mit Stausee, Mineralwasser und Therme brachte das Wasser den Wohlstand in die Gemeinde, es brachte aber auch immer wieder Leid. Und die Dorfbewohner reagierten. Nach dem Hochwasser von 1927 bauten sie die Dorfbrücke neu, ein schlichtes Stahlfachwerk, nach dem von 1954 kam die Staumauer, deren Rückhalt eine Katastrophe verhinderte, als 1987 die Regenmenge sogar jene von 1868 übertraf. Als 1999 abermals einige Häuser im Wasser standen, stattete die Gemeinde die Dorfbrücke mit einer Hebevorrichtung aus und gab Studien in Auftrag. Sie zeigten die prekäre Lage: Die Kirche und mit ihr der Dorfkern lagen in der Gefahrenzone. Damit mehr Wasser abfliessen kann, musste das Durchflussprofil des Flusses vergrössert werden. Das Projekt eines Ingenieurbüros schlug die technisch übliche Lösung vor, eine Erhöhung der seitlichen Dämme. Die Böschungen liefen bedrohlich weit in die Gärten hinein und rückten der ersten Häuserreihe auf den Leib. Die Valser protestierten, und der Gemeinderat stellte eine Begleitgruppe zusammen, die das Projekt Hochwasserschutz zur Dorftauglichkeit bringen sollte. In Gestaltungsfragen suchte die Gruppe, der auch der ehemalige Bündner Denkmalpfleger Diego Giovanoli angehörte, den Rat von Peter Zumthor und Jürg Conzett.

Die beiden schlugen vor, die vorhandenen Dämme durch Schutzmauern zu ergänzen, was die Gemeinde schliesslich annahm — nach einer «freundschaftlichen und harten Entscheidungsfindung», wie sich Giovanoli erinnert.

Die Mauern

Die neuen Mauern und die Brücke sind aus Valser Gneis, dem Stein, der etwas oberhalb des Dorfes aus dem Berg gebrochen wird. Er deckt die Dächer des Tales, und die Welt kennt ihn, seit Peter Zumthor daraus vor 14 Jahren seine Therme baute. 2006 begannen die Bauarbeiten der Schutzmauern. Zumthor, Conzett und Steinlieferant Truffer tüftelten ein günstiges Zurichten der Gneisbrocken aus. Ein paralleler Schnitt sorgte für eine einheitliche Breite und glatte Vorder- und Rückseiten, die grob belassenen Umrisse führten zu handbreiten, unregelmässigen Fugen. Als neues Rückgrat des Dorfes ragen die Mauern bis zu fünf Meter vom Boden des Flussbetts auf. Dorfauswärts verringern Wiesenböschungen die Höhe der Mauern, bis diese schliesslich in den Böschungen enden und das verbreiterte Bett nur noch von diesen gefasst wird. Statt wie bisher Erlen säumen nun neue Leuchten die für Vals wichtigen Spazierwege entlang des Wassers. Die von Peter Zumthor gestalteten, eleganten, dunklen Peitschen zeichnen zarte Lichtpunkte auf den Mergelboden.

Als Teil der Flussverbauung mussten drei neue Brücken her: eine neue Dorfbrücke, je eine kleinere flussauf- und flussabwärts. Conzetts Skizzen überzeugten die Berater, und die Gemeinde beauftragte ihn mit dem Bau aller drei Brücken. Die beiden kleineren bestehen aus je einem geraden Hohlkastenträger aus Cortenstahl mit Edelstahlgeländern und sind auch im Rollstuhl gut zu queren — das Altersheim liegt unmittelbar am Dammweg. Die obere Milchbrücke klappt im Fall der Fälle hydraulisch über die brausende Flut. Die Rovanadabrücke in der Nähe des Ortseingangs ersetzt zwei bestehende Betonbrücken und sitzt fest zwischen den neuen, etwas unsensibel angelegten Böschungen.

Die Hauptbrücke

Das Prunkstück ist die steinerne Brücke in der Mitte von Vals. Sie führt die Kantonsstrasse auf den Dorfplatz. Die geometrischen Bedingungen waren eng: Die steile Rampe zwischen Brücke und Platz sollte nicht noch steiler werden, gleichzeitig musste das Durchflussprofil der Brücke möglichst gross sein. Das sprach entweder für eine komplizierte Hubvorrichtung oder für eine Brücke, die schwer genug ist, den Wassermassen standzuhalten. Conzett baute die Brücke massiv aus Valser Stein, wie einst Zumthor seine Therme — wohlgemerkt: Bei beiden Bauten ist der Stein nicht bloss Verkleidung, er trägt. Eine Bogenbrücke legte das Material nahe. Der Ingenieur kreuzte sie mit einer Trogbrücke, um einen freien Durchfluss zu garantieren und das Wasser von der Strasse und dem Platz fernzuhalten. Die expressive Form, die sich daraus ergab, markiert nun den Ort des Übergangs.

Eine starke Form, doch erscheint die Brücke einfacher, als sie ist, geometrisch wie konstruktiv. Die beiden seitlichen Mauerscheiben sind zwar gleich und auch in sich symmetrisch, allerdings sind sie durch die schräge Lage der Brücke gegeneinander verschoben. Damit sich die Fahrbahnplatte dabei nur in eine Richtung wölbt, gab Conzett ihr die Form eines Zylinderausschnitts. Konstruktiv wollte er auf Klammern, Bügel oder Stangen verzichten, stattdessen Stein und Beton kraftschlüssig verbinden, miteinander verzahnen. Angeregt durch die Mauerkronen der Albulabahn-Viadukte mit ihren Konsolsteinen und Abdeckplatten ersann er eine leicht gewölbte und vorgespannte Betonplatte mit zwei seitlichen Reihen stehender, leicht konischer Betonbalken. Um diese herum schichteten die Arbeiter aus Steinplatten die flachen Bögen. Eine komplizierte Konstruktion: Die Fahrbahnplatte hängt mit den Betonbalken an den Bögen und übernimmt gleichzeitig mit Vorspannkabeln deren Zugkräfte.

Der Stein

Da die Steinplatten dasselbe Format haben wie jene der Therme, ist uns die Oberfläche vertraut. Das allerdings sei keine Marketing-Idee, so die Planer, sondern resultiere — ebenso wie die Steine der Mauer — aus einer möglichst ökonomischen Produktion, konkret aus einer Maschine des Steinbruchs, die aus einem Block mehrere Platten parallel sägt. Am unteren Rand der Mauerscheiben wird die Verzahnung von Stein und Beton zum gestalterischen Thema: Betonzinken und Pakete aus jeweils vier Steinplatten greifen ineinander. In den Mauerkronen bedecken quadratische Steinplatten die Köpfe der Betonbalken. Laut Conzett kostete die Steinkonstruktion nur 300 000 Franken mehr als andere Konstruktionen. Auch wenn der Tourismusverein «visitvals» die Brücke schon als neues Wahrzeichen feiert: Das Dorf empfängt die Brücke nicht nur mit offenen Armen, tat es nie. Viele Dorfbewohner zweifeln daran, dass sie sich im Alltag bewährt. Sie sei vom Auto aus schwer einsehbar, die gebuckelte Fahrbahn aus Stein würde schnell vereisen, ein Blick aufs Wasser sei nicht möglich. Eins jedoch ist sicher: Der Ort ist anders, seit es die Brücke gibt. Ihre elegant gefügte Schwere zeigt schön, worum es ihrem Erbauer geht: mit einer besonderen Konstruktion dem besonderen Ort eine Form zu geben. Ihre schräge Achse nimmt die Richtung der Kirche auf, deren Turm und schmuckloses Schiff den Dorfplatz von schräg hinten dominieren. Wer über den mit Stein belegten Brückenbuckel geht, durchschreitet überrascht einen Raum. Dieser blendet einen Teil der Umgebung einen Moment lang aus, fokussiert dafür einen anderen Teil. Nicht umsonst fand die Pressekonferenz zur Eröffnung der Brücke an einem Tisch mitten auf ihr statt. Ein Fragezeichen bleibt: Die Beziehung zwischen den Zyklopenmauern und der Dorfbrücke.

Zwar ist ein und dasselbe Material da rau, dort fein, da grob geschichtet, dort komplex gefügt, doch fehlt ein Übergang: Die beiden Massstäbe prallen unvermittelt aufeinander. Die gestapelten Steinkolosse der Mauer heben kurz vor den kunstvollen Bögen an, nehmen sie unverfroren in die Zange, statt sie als Verfeinerung ihrer selbst zu feiern. Die Brücke jedoch ist ein Kunstwerk, ist nun, zusammen mit der Kirche, das monumentale Bauwerk am Platz.

Beide, Brücke und Kirche, erzeugen eine Spannung, setzen den Raum dazwischen unter Strom. Mit selbstverständlichem Pathos erzählt uns das Brückenbauwerk aus Stein von der drohenden Gefahr des Wassers in Vals.


Von Vals nach Venedig mit Jürg Conzett
Interview: Axel Simon

Ende Monat öffnet die diesjährige Architekturbiennale in Venedig ihre Tore, vom 29. August bis 21. November). Das Bundesamt für Kultur beauftragte den Ingenieur Jürg Conzett (54) mit der Ausrichtung des Schweizer Beitrags. Bei einem Spaziergang entlang des Valser Rheins gab er Auskunft.

Ein Ingenieur vertritt die Schweiz an der Architekturbiennale?
Ich war überrascht und erfreut, als die Anfrage kam: Ingenieurbauten sind Teil der Architekturlandschaft!

Was wird uns im Schweizer Pavillon in den Giardini erwarten?
Bei der Frage, was stellen wir aus, war ich vollkommen frei. Eine Werkschau interessierte mich nicht. Das kennt man. Stattdessen mache ich zusammen mit dem Fotografen Martin Linsi eine Ausstellung mit dem Thema «Landschaft und Kunstbauten». Wir haben Brücken und andere technische Bauten in der Schweiz besucht, die mir persönlich etwas bedeuten. Zu den Fotos gibt es dann Texte von mir. Eine relativ konventionelle Ausstellung, aber keine kunsthistorische Einordnung. Ich möchte die Tradition der konstruierten Bauten aufzeigen und damit auch Stellung beziehen gegen den starken Designanteil im heutigen Brückenbau.

Haben Sie ein konkretes Beispiel einer ausgewählten Brücke?
Der Goldach-Viadukt aus den Sechzigerjahren ist eine schnörkellose Betonkonstruktion. Martin Linsi fotografiert langsam. Erst nach einer Weile bemerkst du viele Sachen: Die Pfeilerstellung als Rahmung der Landschaft, die ganzen Verhältnisse — das ist alles durchdacht. Da wurde nie gross drüber geschrieben, aber man merkt: Es ist ein wohlüberlegtes Bauwerk mit einem Landschaftsbezug. Das ist das Thema!

Gibt es einen zeitlichen Rahmen für die Auswahl?
Ich habe relativ wenige zeitgenössische Bauten ausgewählt, viele alte, bis zurück ins Mittelalter. Auch ein paar eigene Arbeiten sind reingerutscht, was aber nicht gross auffällt.

Was, glauben Sie, interessiert die internationale Architektenschaft an alten Schweizer Brückenbauwerken?
(lacht) Das ist das, was ich liefern kann: eine persönliche Sicht auf Bauten, die sonst nicht wahrgenommen werden. Ich hoffe, das, was einen persönlich packt, strahlt auch aus und stösst auf Interesse.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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