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TEC21 2010|45
Stadthaus Zürich
TEC21 2010|45
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Historismus, aktualisiert

Als moderner Dienstleistungsbetrieb bedient die Stadtverwaltung Zürichs ihre Bewohner und Bewohnerinnen wie Kunden; in den Verwaltungsbauten sollte der betriebliche Wandel der letzten Jahre zum Ausdruck kommen. Das hundertjährige Stadthaus, Abbild der Stadt und ihres Selbstverständnisses, musste altersbedingt instand gesetzt und gebäudetechnisch erneuert werden. Nach der durchgreifenden Sanierung durch Pfister Schiess Tropeano Architekten präsentiert sich die historistische Architektur teils in wiederhergestellter, teils in den aktuellen Ansprüchen angepasster Gestalt. Im Vordergrund standen Fragen nach Bürgernähe und Repräsentation.

5. November 2010 - Michael Hanak
Für die Erneuerung des rund hundertjährigen, denkmalgeschützten Stadthauses von Zürich wurde im Jahr 2000 ein Planerwahlverfahren ausgeschrieben. Es begann eine langfristige, in Etappen durchgeführte Gesamtsanierung. Nach der vorausgegangenen Vorprojektstudie und in den ersten vier Jahren durchgeführten Ad-hoc-Eingriffen wurden die weitreichenden Sanierungsarbeiten in den Jahren 2007 bis 2010 unter halbem Betrieb realisiert. Das Stadthaus markiert den Anfang der Entwicklung Zürichs zur Grossstadt. Im Jahr 1893 hatte sich die Bevölkerung mit der Eingemeindung der elf Vororte auf einen Schlag vervierfacht. Umgehend beauftragte der Stadtrat den Architekten Gustav Gull für ein repräsentatives Verwaltungszentrum, wovon einige Amtshäuser um den Werdmühleplatz gebaut wurden. Das gross angelegte Stadthaus allerdings, das den Kern der opulenten Anlage bilden sollte, blieb Vision. Als Notbehelf erweiterte Gull, unterdessen zum «planenden» zweiten Stadtbaumeister ernannt, 1898–1901 das existierende Stadthaus neben der Fraumünsterkirche, das Stadtbaumeister Arnold Geiser 1883/84 errichtet hatte.

Reaktivierung des vereinnahmten Geiser-Baus

Bei der jetzigen Sanierung des Stadthauses mussten sich die Architekten der Geschichte des Gebäudes, seines Standortes und seiner Bedeutung stellen. Zunächst brachte eine gründliche Bestandesaufnahme und Analyse genaue Erkenntnisse über die überlieferte Bausubstanz. Die verwischten Grenzen zwischen dem ersten Stadthaus von Geiser und dem Vollausbau von Gull wurden aufgedeckt. Gemäss zutage geförderten Spuren hatte Gull den damals bestehenden Geiser-Bau richtiggehend vereinnahmt; spätere Innenumbauten nahmen der Neorenaissancearchitektur und seiner zeittypisch dekorierten Innenausstattung jeglichen Charme. Zusammen mit der Denkmalpflege entschied man daher, die wiederentdeckten Qualitäten zu reaktivieren. So wurde der auf ein Fenster reduzierte Haupteingang auf der Seite Kappelergasse wieder geöffnet, und der von Einbauten befreite Lichthof vertreibt die miefige Atmosphäre der dunklen Korridore. Beim Vergleich der Baueingabepläne Gulls mit den Ausführungsplänen wurden zwei wesentliche Unterschiede deutlich: Sowohl die frei stehende Treppe am südlichen Ende der gebäudehohen Halle als auch die Fortführung der Haupttreppe ins vierte Obergeschoss wurden weggelassen. Offensichtlich beurteilte die Stadtverwaltung das Gull’sche Projekt nun doch als zu umfangreich.

Klärung der Strukturen und Hierarchien

In ihrer Analyse des Istzustandes registrierten die Architekten zunächst alle hinzugefügten und entfernten Teile, die das Bauwerk während der ersten hundert Jahre Gebrauch verändert hatten. Ab 1950 hatte man massiv in die Gebäudestruktur eingegriffen, abgehängte Decken und eingezogene Böden verunklärten die ursprüngliche Raumwirkung. Die vielen Zwischenwände, die in den folgenden Jahrzehnten Grossraumbüros in Einzelbüros unterteilten, beurteilten die Architekten als «Atomisierung» der Raumstrukturen. Typologisch unterschieden sie zwei Gebäudehälften: das Hofgebäude mit der glasüberdachten Innenhalle zur Limmat hin und das Hofgebäude mit einem offenen Innenhof gegen den Paradeplatz. Während der vordere, flussseitige Gebäudebereich repräsentative Räume und einen hohen Öffentlichkeitsgrad aufweist, ist der hintere durch weniger repräsentative Räume und eine geringere Öffentlichkeit charakterisiert. Gemäss dieser Hierarchie liegen die bedeutenderen Räumlichkeiten an der Front zur Limmat, zudem sind die wichtigsten Grossräume in der Mittelachse angeordnet. Diesen Prinzipien sollten auch alle anstehenden Umwandlungen gehorchen.

Aufwertung durch erneuernde Eingriffe

Im Erdgeschoss der stimmungsvollen Oberlichthalle befanden sich die verschiedenen Schalter. In ihrem Wettbewerbsprojekt beabsichtigten die Architekten zunächst, die ehemaligen Schalterräume an der Flussseite auf Strassenniveau abzusenken und darin ein grosszügiges, frei zugängliches sogenanntes Stadtbüro einzurichten (Abb. 1). Da die Kellerräume nicht disponibel waren, situierten die Architeken das Stadtbüro schliesslich gegenüber dem Haupteingang. Trotz der Zugänglichkeit der rückwärtigen Informationstheken blieben die Schalter funktionell bestehen, doch wurden ihre Fronten mit brüniertem Messingblech verkleidet. Diese golden schimmernde Veredelung wird durch mehr oder weniger Berührungen schnell Patina annehmen, eine einberechnete Anpassung der Aufwertung an den gealterten Bestand.

An der Südwestecke der Halle implantierten die Architekten einen zusätzlichen, gut sichtbaren Lift. Die Haupttreppe in der Nordwestecke verlängerten sie bis ins oberste Geschoss; ausgeführt wurde diese Komplettierung des Gull’schen Projekts in einer reinen Stahlkonstruktion, die sich deutlich von den steinernen Treppen unterscheidet. Als neues Element erkennbar ist das Zwischenpodest frei im Stiegenraum aufgehängt, und ein eingefügter Lichtschacht sorgt für eine helle Rauminszenierung (Abb. 9, S. 37). Die Neumöblierung des Trauzimmers im ersten Obergeschoss war eine der vorgezogenen Massnahmen (vgl. «Provisorien leben länger», S. 28). Während des Umbaus wurden nun Lüftungsgitter geschickt in die Füllungen des Holztäfers eingefügt und Tapeten in einer der historischen Ausstattung angepassten Art ergänzt.

Im zweiten Obergeschoss richtete man in der Mittelachse gegenüber dem Stadtratssaal – der schon 1999 von Silvio Schmed und Arthur Rüegg neu gestaltet worden war – durch die Zusammenlegung zweier Büros einen grösseren Konferenzraum mit entsprechender technischer Ausrüstung ein. Hier sind unter den Stichbogenfenstern die Sitzbänke, unter denen sich die Radiatoren und Kühlungsgeräte verbergen, mit ihrem dunkelbraunen Lederbezug wiederum als zeitgenössische Zutat diskret, aber deutlich erkennbar. Der barocke Musiksaal im dritten Stock schliesslich, den Gull samt Stuckdecke und Deckengemälde aus dem Fraumünsteramt übernommen hatte, sollte auch belüftet und zeitweise gekühlt werden können. Die in den 1950er-Jahren als Resonanzkörper eingefügten Wandverkleidungen wurden ersetzt und zur Zuluft führenden Schicht umfunktioniert. In der umlaufenden Brüstungsschicht sind nebst den Luftquellflächen alle Medien inklusive Projektionswände integriert. Für die luftdurchlässige hölzerne Abdeckung erfand der Tüftler mathematisch generierter Formen Urs B. Roth ein abstraktes, auf dem Kreis basierendes gitterartiges Fries, das zu den floral verzierten, ringförmigen schmiedeisernen Kronleuchtern passt (vgl. Kasten S. 30–31).

Neue Fenster, Türen, Oberflächen

Geisers und Gulls historistische Fassaden wurden soweit nötig denkmalpflegerisch renoviert. Am vorgeblendeten Sandsteinmauerwerk mussten einige Quader und Simse ersetzt werden, anderes wurde ausgebessert. Am Gull-Bau waren sämtliche Fenster original und in gutem Zustand erhalten. Wie ehemals ist das Lärchenholz wieder aussen braun gestrichen, innen rötlich braun gebeizt und transparent lackiert. Die Holzrollläden auf der Strassenseite und die Markisen auf der Hofseite wurden instandgesetzt oder wiederhergestellt. Jede Türe ist einzeln auf ihre funktionalen und gesetzlichen Anforderungen und Vorschriften getrimmt. Für die hinzugekommenen Brandabschnittstüren entwickelten die Architekten eine kastenförmige Konstruktion, halb standardisiert, halb massgeschneidert, die auch Installationen aufnimmt. Im Innern wurden die Böden, Decken und Wände freigelegt, aufgefrischt, überholt oder ausgewechselt. Von all dem hinterlassen die Räume nach Beendigung der Bauarbeiten nur noch eine leise Ahnung, so selbstverständlich wirken sie. Unter den Oberflächen ist die verlangte Haustechnik so unauffällig wie möglich integriert.

Signaletik und Leuchten

Von Beginn weg waren sowohl ein neues Beschriftungs- als auch ein Beleuchtungskonzept gefordert. Daher bildeten die Architekten schon im selektiven Projektwettbewerb eine Arbeitsgemeinschaft mit entsprechenden Fachplanern. Das Atelier Markus Bruggisser entwarf die gesamte Signaletik. Diese leitet die Besucherinnen und Besucher vom Eingang über die Erschliessungswege bis zu den gesuchten Räumen. In dem Gebäude, das mehrere Departemente und Amtsstellen mit rund 300 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen beherbergt, die pro Jahr 250 000 Kundenbesuche abwickeln, ist eine einheitliche visuelle Kommunikation von hoher Bedeutung. Vor jedem Raum sorgt eine hochformatige dunkelgraue (Geiser-Bau) beziehungsweise schwarze (Gull-Bau) Tafel mit weisser Beschriftung in ruhiger und klarer Weise für die nötige Information.

Die Neue Werkstatt Winterthur bearbeitete die Lichtplanung vor allem der öffentlichen Gebäudebereiche. Nebst Serienprodukten kamen auch Sonderanfertigungen zum Einsatz. Die verbliebenen historischen Wandleuchter von Gull wurden von alten Farbschichten befreit und neu elektrifiziert. Im Erdgeschoss der Halle und im Haupttreppenhaus verströmen sie eine einmalige, die alten Zeiten heraufbeschwörende Stimmung. Speziell für den Ort entwickelt wurden die runden dimmbaren Wandleuchten in der Arkadengängen: Sie sind mit fotografierten Bildausschnitten der alten Leuchter bedruckt (Titelbild S. 27 und Abb. 1, S. 35).

Zeitgemässe Repräsentation

Viele Forderungen waren zu erfüllen, um den Sitz der Stadtregierung den heutigen Anforderungen anzupassen: Brandschutz, Energieeffizienz, Medieninstallationen, Personensicherheit etc. Den Architekten ist es gelungen, die mannigfachen Bedürfnisse zu bündeln und der wieder herausgearbeiteten ursprünglichen Atmosphäre, die über die vielen Jahrzehnte des Gebrauchs stark getrübt worden war, stimmig unterzuordnen – und mit den Erneuerungen eine eigene Linie zu hinterlassen. «Mit den eingefügten Installationen haben wir den Spielraum des Gebäudes absolut ausgereizt», erklärt Gesamtprojektleiterin Rita Schiess. «Wir sind aber froh, dass das Tragwerk, das beim Gull-Bau zum Grossteil aus Stahl besteht, nirgends einschneidend zerstört werden musste. Insofern konnten wir die historische Substanz der Nachwelt erhalten.» Sowohl Geisers als auch Gulls Gebäudebereiche haben sich über die Generationen hinweg in ihrer flexiblen Struktur bestens bewährt und vermögen nach der Gesamtinstandsetzung auch kommenden Generationen zu dienen. So wie ihre historistische Architektur typischer Ausdruck zürcherischer Repräsentation ist, so wirken auch alle verändernden Eingriffe der Sanierung selbstbewusst zurückhaltend.

[ Michael Hanak, Kunst- und Architekturhistoriker ] hanak@swissonline.ch
Literatur:
S. Widmer: Das Stadthaus in Zürich und seine Umgebung, Schweizerische Kunstführer 260. Basel 1979
I. Beckel, D. Kurz (Red.): Drei Umbaustrategien. Die Zürcher Verwaltungsbauten von Gustav Gull. Zürich 2004

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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