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Metamorphose 01/11
Treppen
Metamorphose 01/11
zur Zeitschrift: Metamorphose
Fokus: Treppen

„Architekten, alles Schwachköpfe! Vergessen immer die Treppen im Haus!“ (Gustave Flaubert [1])


Kritik an unserem Berufsstand sind wir inzwischen gewohnt. Bereits im vorletzten Jahrhundert wurde unsere Kompetenz in Frage gestellt, wie die polemischen Worte Gustave Flauberts (1821–1880) zeigen. Doch wie kommt der Romancier gerade auf die Idee, zu behaupten, wir würden die Treppen vergessen? Ausgerechnet dieses Bauteil? Nach der Fassade ist es doch vor allem die Treppe, der Architekten erhöhte Aufmerksamkeit widmen und an der sie gerne ihre Handschrift hinterlassen. Im Unterschied zu Wand, Boden und Decke, den flächigen Elementen, bietet doch gerade die Treppe in ihrer Dreidimensionalität besonderes Potenzial für die Gestaltung. Verachtete Flaubert etwa unseren Berufsstand? Müssen wir seine Bücher jetzt aus unseren Eiermann-Regalen zerren und unverzüglich verbrennen?

Wer Flauberts Worte einordnen möchte, muss wissen, dass er einen sogenannten „Dummheitszyklus“ plante: drei Werke, alle unvollendet, in denen er sich mit der Plattheit und Phrasendrescherei im täglichen Sprachgebrauch beschäftigte. Im „Lexikon der gemeinen Phrasen“ stellte er in alphabetischer Reihenfolge Gemeinplätze, Redensarten und Worthülsen zusammen, die in den Salons kursierten und in keinem „Small Talk“, wie wir heute sagen würden, fehlen durften. Gleich am Anfang, unter „A“, findet sich die wenig schmeichelhafte Aussage über Architekten, die belegt, wie „salonfähig“ die Baumeisterschelte schon damals offensichtlich war. Flaubert wandte sich also nicht gegen Architekten, sondern gerade gegen die pauschale Verunglimpfung dieses Berufsstands. Wir können seine Romane beruhigt ins Regal zurückstellen.

Wenn wir als Architekten etwas nicht vergessen, dann ist das mit Sicherheit die Treppe. Das einzige, das wir vielleicht mal übersehen, ist die Sicherheit der Treppe: Wo Normen und Vorschriften einer anspruchsvollen Gestaltung entgegenstehen, mag man bisweilen versucht sein, kleine Abstriche bei der Sicherheit in Kauf zu nehmen. Beim Bauen im Bestand, vor allem bei Denkmalen, kann man sich zudem auf den Bestandsschutz berufen, will man die Eleganz einer vorhandenen Treppe bewahren und sie nicht mit neuen, rutschhemmenden Belägen, einem höheren Geländer oder einem zweiten Handlauf verunstalten. Beim Abwägen zwischen Denkmal- und Unfallschutz würde man nur zu gerne dem Denkmal den Vorrang geben. Doch ein Blick auf die Unfallzahlen in Gebäuden stimmt dann doch sehr nachdenklich. 160.000 Menschen brechen sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts jedes Jahr auf einer deutschen Treppe das Bein und – noch schlimmer – Stürze auf der Treppe sind die häufigste Todesursache im häuslichen Bereich; 1.100 Personen kommen auf diese Weise jährlich ums Leben. Da sich mit baulichen Vorkehrungen viele derartige Unfälle vermeiden ließen, lässt sich der Denkmalschutz im Treppenhaus manchmal schwer durchsetzen.

Eines der seltenen Beispiele, bei denen es gelungen ist, den alten Charakter einer Treppe zu bewahren und trotzdem die Sicherheit beträchtlich zu erhöhen, stellen wir in dieser Ausgabe vor. In der Südtiroler Gemeinde Margreid machte eine Bruchsteintreppe den Abstieg in den Gewölbekeller des Rathauses zu einem halsbrecherischen Unterfangen, da der Treppenlauf sehr steil und alle Stufen unterschiedlich hoch waren. Die Architekten Michaela Wolf und Gerd Bergmeister setzten einfach Stahl- auf die alten Steinstufen. Die neuen Auftritte bieten jetzt ein gleichmäßiges Schrittmaß. Da sie nicht die gesamte Breite des Laufs einnehmen und obendrein teilweise mit deutlichem Abstand zu den vorhandenen Stufen montiert sind, bleibt das ursprüngliche Erscheinungsbild der Treppe stets präsent.

In Hamburg führt Architekt Daniel Schroeder vor, wie sich die vorhandenen Qualitäten einer schwungvollen Treppe aus den Fünfzigerjahren noch unterstreichen lassen. Mit einer Lichtinszenierung und dem Einsatz von Farben betont er die skulpturalen Eigenschaften dieser Treppenkonstruktion und ihren Stellenwert im Gebäude.

Wo hingegen eine belanglose Treppe ersetzt wird, stellt sich die Frage, wie sich ihre Nachfolgerin in das Umfeld einfügt. Mit viel Witz und Ironie hat das Büro AOC Architecture den Historismus einer Londoner Doppelhaushälfte für die eingefügte Ersatztreppe neu interpretiert.

So unterschiedlich die Herangehensweise an diese drei Projekte auch ist, haben sie doch eines gemein: Der Umgang mit dem Bauteil „Treppe“ spielt bei ihnen die Hauptrolle und bestimmt das Gebäude ganz wesentlich. Er wurde von den Architekten alles andere als vergessen.

Christian Schönwetter


Anmerkungen:
[01] Gustave Flaubert: Wörterbuch der gemeinen Phrasen. Posthum veröffentlicht, 2005 neu übersetzt von Hans Henschen für den Eichborn Verlag

Bestandsaufnahme
06-11 | Schweizer Berghaus: „Altes Hospiz“, St. Gotthard
12-17 | Projekte
18 | Bücher
19 | Termine

20-21 | Treppen
22-25 | Führungslinie: Der Treppenhandlauf im Wandel der Zeit
26-29 | 01 Unterstübchen: Rathauskeller in Margreid an der Weinstraße (I)
30-33 | 02 Mit dem Schwung der Fifties: Hochschulgebäude in Hamburg
34-37 | 03 Neues Rückgrat: Wohnhaus in London
38-41 | 04 Ungleiches Paar: Aussichtsturm bei Huércal-Overa (ES)
42-45 | 05 Zugangskontrolle: Ladengeschäft in Bamberg

Technik und Recht
46-50 | Baurecht – Spiel mit dem Feuer: Brandschutz versus Bestandsschutz bei Treppenhäusern
53-57 | Energetische Sanierung – Effiziente Erhellung: Ersetzen LEDs Temperaturstrahler?
58-59 | Historische Materialien – Kunst oder Dekoration? Vom Bogen zur Rolle: die Geschichte der Tapete

Produkte
60-61 | Boden
62-63 | Rund ums Fenster
64-65 | Neuheiten

Rubriken
66-67 | Verkannte Perlen – Durch Umbauten entstellt: Peter Neuferts „Bosch-Dienst Strenger“ in Köln
68 | Vorschau
68 | Impressum
68 | Bildnachweis

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