Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 05|2011
Respekt und Perspektive
db deutsche bauzeitung 05|2011

Kühner Einschnitt

Stadtbücherei und Dienstleistungsgebäude in Mössingen

Bei der Revitalisierung der einst für die Textildruckerei Pausa in Mössingen errichteten Tonnenhalle ist es in vorbildlicher Weise gelungen, Denkmalschutz, zeitgemäße Architektur und heutige Nutzungsansprüche unter einen Hut zu bekommen.

4. Mai 2011 - Mathias Remmele
Um Mössingen zu kennen, muss man schon recht vertraut mit der schwäbischen Provinz sein– oder aber etwas von Textildesign verstehen. Denn dann weiß man, dass in dieser 15 km südlich von Tübingen, recht malerisch am Fuß der Schwäbischen Alb gelegenen Kleinstadt lange Zeit eine der feinsten Adressen der deutschen Textilindustrie ihren Sitz hatte: die Pausa AG. Internationale Bedeutung erreichte das vorwiegend im Bereich des Textildrucks tätige Unternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einerseits durch seine drucktechnischen Innovationen, andererseits durch seine Zusammenarbeit mit wichtigen zeitgenössischen Künstlern und Designern. Auch in der Firmenarchitektur spiegelte sich das anspruchsvolle gestalterische Selbstverständnis des Unternehmens wider. Zwischen 1950 und 1962 entwarf und realisierte der in Stuttgart ansässige Architekt Manfred Lehmbruck – ein Sohn des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck und einer der bedeutendsten Vertreter der Nachkriegsmoderne im deutschen Südwesten – für die Pausa AG einen aus zwei Fabrikationshallen, Kesselhaus, Werkstätten und Verwaltungsbau bestehenden Firmensitz. Dieses modernistische Gebäudeensemble, das einen herausragenden Beitrag zur Industriearchitektur der 50er Jahre darstellt, hat sich bis heute weitgehend unverändert erhalten.

Nach der Insolvenz der Pausa AG im Jahr 2004 und der wenig später erfolgten Unterschutzstellung der Firmenbauten durch die Denkmalbehörde erwarb die Stadt Mössingen das Areal. Über die künftige Nutzung des Pausa-Quartiers, das zwischenzeitlich in ein Fachmarkt-Zentrum umgewandelt zu werden drohte, entspann sich bald eine intensive Diskussion. Beraten von dem auf städtebauliche Problemlagen und Konversionsflächen spezialisierten Büro Baldauf Architekten aus Stuttgart entschloss man sich schließlich, die Revitalisierung des Areals schrittweise anzugehen und mit der sogenannten Tonnenhalle zu beginnen. Verschiedene Nutzungsszenarien wurden durchgespielt, bevor ein wirtschaftlich tragfähiges und dem kulturellen Stellenwert des Gebäudes adäquates Konzept entstand. Neue Hauptnutzerin des Industriebaus sollte die Stadtbücherei werden; Büroflächen für die Diakonie-/Sozialstation sowie den Regionalverband Neckar-Alb kamen hinzu. Eine großzügig bemessene Gewerbefläche komplettierte den Nutzungsmix, der die Planungsgrundlage für die Umbau- und Sanierungsmaßnahmen bildete. Nach einem Entwurf von Baldauf Architekten begannen 2008 die umfangreichen, rund 11 Mio. Euro teuren Bauarbeiten. Im Februar diesen Jahres konnte das Gebäude seinen neuen Nutzern übergeben werden.

Deckenschnitt als Problemlösung

Die 1950/51 errichtete Tonnenhalle war der erste Bau, den Manfred Lehmbruck für die Pausa realisierte. Seinen Namen verdankt das knapp 80 m lange und fast 30 m breite, zwei Stockwerke umfassende Fabrikationsgebäude seiner markanten Dachkonstruktion, die aus neun in Beton gegossenen Tonnenschalen besteht. Die von nur einer mittig angeordneten Stützenreihe durchzogene Halle nimmt das gesamte obere Stockwerk des Gebäudes ein. In diesem, dank großzügiger Oberlichter und seitlichen Fensterbändern lichtdurchfluteten Raum, standen einst dicht gedrängt die bis zu 65 m langen Drucktische, die das Herzstück der Pausa-Produktion ausmachten. Im EG befanden sich die Farbküche und einige Atelierräumlichkeiten. Der Rest der Fläche wurde als Lagerraum für Farben, Drucksiebe und sonstige Materialien genutzt.

Während es für die Umnutzung der hellen, räumlich überaus reizvollen Tonnenhalle zahlreiche Optionen gab, bereitete das niedrige EG, den Planern einiges Kopfzerbrechen. Denn nur in den Randzonen kam durch die seitlichen Fensterbänder ausreichend Tageslicht ins Innere des Gebäudes.

Um dieses Kardinalproblem zu lösen, entwickelte das Projektteam von Baldauf Architekten die kühne Idee, die Decke des EG entlang der zentralen Stützenreihe über eine Länge von rund 50 m und eine Breite von etwa 6 m herauszuschneiden. Dieser gleichsam chirurgische Eingriff in den Baukörper – der als solcher im Gebäude selbst ablesbar bleibt – erweist sich als funktionaler und gestalterischer Glücksfall, der die Zukunftsfähigkeit des Gebäudes sichert, ohne dabei seinen Denkmalwert zu schmälern. Der Deckenschnitt bringt einerseits Tageslicht in die bisher düstere Kernzone des EG, das sich auf diese Weise vom dunklen Gelass zum großzügigen Foyer wandelt, andererseits ermöglichte er die Anlage einer rund 30 m langen Rampe zur Erschließung des OG, in dessen nördlicher Hälfte jetzt die Stadtbücherei eine neue Heimat gefunden hat. Der Südteil der ehemaligen Produktionshalle ist als Gewerbefläche ausgewiesen. Die neu eingezogenen gläsernen Wände, die diese beiden Bereiche voneinander trennen, sorgen dafür, dass die visuelle Einheit des Raums in seinen ursprünglichen Dimensionen erhalten bleibt.

Die Grundrissplanung für das EG fiel denkbar einfach und sachlich überzeugend aus. Die Büros für die Diakonie-/Sozialstation und den Regionalverband nehmen die gut belichteten Längsseiten des Gebäudes ein. Daneben bleibt Platz für einen Vortragsraum und für die original erhaltene, durch eine Glaswand geschützte alte Farbküche, die auf die industrielle Vorgeschichte der Tonnenhalle verweist. Die Funktionsräume und die sekundäre Erschließung wurden an die Schmalseiten des EG gerückt, dessen zentraler Bereich jetzt als großes Foyer dient. Dieser Raum hat – nicht zuletzt dank seiner gestalterischen Ausformulierung – einen durchaus repräsentativen Charakter und bietet sich auch für Veranstaltungen wie etwa Empfänge oder kleine Ausstellungen an. Das beherrschende architektonische Element ist hier die bis auf eine V-förmige Betonstütze freitragende Rampe mit ihrer markanten, rot gestrichenen Stahlbrüstung, die sich im OG als Geländer fortsetzt. Wer möchte, darf dieses schmale Stahlband als gestalterische Anspielung auf die langen Stoffbahnen lesen, die in der Tonnenhalle einst bedruckt wurden.

Während im Innern des Gebäudes der strukturelle Eingriff direkt thematisiert wird, zeigt sich die Halle an ihren beiden Breitseiten mit der charakteristisch geschwungenen Dachkante weitgehend unverändert in ihrer (wieder hergestellten) ursprünglichen Farbfassung (s. S. 25). Nur an den Stirnseiten, die nicht unter Schutz standen, wird die Umnutzung des Gebäudes auch äußerlich sichtbar. An der Westfassade fällt der bis zum Boden verglaste, aus dem Gebäudevolumen auskragenden »Leseerker« der Stadtbücherei ins Auge. Mit ihm korrespondiert an der Ostfassade das deutlich größere »Panoramafenster«. Durch seine riesige, zweigeteilte Glasscheibe erlaubt es einen Ausblick, der über den wenig attraktiven Parkplatz des direkt benachbarten Drogeriemarkts hinweg bis auf die Berge der Schwäbischen Alb reicht. Zugleich ermöglicht dieses dezidiert zeitgenössisch anmutende »Schau-Fenster«, vor allem bei Nacht, einen spannenden Einblick ins Innere des Gebäudes.

Starkes Konzept und fruchtbare Kooperation

Das Bauen im denkmalgeschützen Bestand gleicht einer Gratwanderung. Auf der einen Seite gibt es den Imperativ des Denkmalschutzes, die originale Substanz soweit irgend möglich zu erhalten und sichtbar zu machen, auf der anderen Seite gilt es den heute gültigen Vorschriften hinsichtlich Gebäudesicherheit bzw. Klimaschutz gerecht zu werden und die legitimen Bedürfnisse künftiger Nutzer zu berücksichtigen. Schließlich ist mit einem in der Regel beschränkten Budget zu planen. Angesichts dieser komplexen Gemengelage kann ein Projekt nur dann auf überzeugende Weise gelingen, wenn ein klares, in sich stringentes architektonisches Konzept vorliegt und alle an einem solchen Bau Beteiligten – die Bauherrschaft, der Denkmalschutz, die Genehmigungsbehörden, die Fachplaner und nicht zuletzt die ausführenden Handwerksbetriebe – mit Engagement und der Bereitschaft zu ungewöhnlichen Lösungen an einem Strang ziehen. All dies war in Mössingen beim Umbau der Tonnenhalle gegeben und ist am fertigen Gebäude anhand zahlloser Details ablesbar. Dabei war es für das stimmige Erscheinungsbild dieses Projekts sehr vorteilhaft, dass Michael Frank auch für die Innenarchitektur und Möblierung verantwortlich zeichnete. Nur so konnte es gelingen das Materialkonzept (Grundsatz: alte Bauteile mit einer rauen, belebten Struktur; alle neuen Elemente mit glatter, scharfkantiger Struktur), das Farbkonzept (vorherrschender Farbdreiklang aus Weiss, Schwarz und Silbergrau; Pausa-Blau für einige historische Details, Rot für die Rampenbrüstung) und das Lichtkonzept (Grundbeleuchtung jeweils durch »Lichtlinien«), die dem Gebäude heute sein Gepräge geben, wirkungsvoll umzusetzen.

Gebäudeenergetische Maßnahmen – etwa der Einbau von Thermoglasscheiben und eine effektive Dämmung der dünnwandigen Betonschalen des Daches – beeinträchtigen das Erscheinungsbild des Baudenkmals ebenso wenig wie die notwendige Installation einer leistungsstarken Entrauchungsanlage. Im Ergebnis präsentiert sich die Tonnenhalle jetzt als ein zeitgenössischer Bau mit industrieller Vergangenheit, in dem Alt und Neu in einem spannungsvollen, aber stets harmonischen Dialog stehen. Der erste Schritt zur Wiederbelebung des Pausa-Quartiers – und damit zur Erhaltung eines bedeutenden Zeugnisses der Industriekultur – ist auf vorbildliche Weise gelungen. Was mit den übrigen Pausa-Bauten geschieht, steht zurzeit noch nicht definitiv fest. Sollte es in Mössingen auf einem vergleichbaren konzeptionellen und gestalterischen Niveau weitergehen, wird alles gut.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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