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zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

You Gotta Fight For Your Right To Great Architecture

Louis H. Sullivan und Richard Nickels Chicago Revisited

11. Mai 2011 - Margareth Otti
Chicago, die birthtown of modern architecture, liest sich wie ein offenes Buch der Architekturgeschichte. In ihrer jungen Historie lebte die Stadt davon, wie in einem Palimpsest das Alte wegzuradieren und radikal Platz für Neues zu schaffen. Von dieser Dynamik zehrt Chicago bis heute, und durch diese Offenheit entstand in jeder Dekade bahnbrechende Architektur. In der Rasanz der gewinnorientierten Stadtentwicklung fielen jedoch auch frühe architektonische Meisterwerke, darunter die ersten Wolkenkratzer und Häuser des Architekten Louis Henry Sullivan. Louis Henry Sullivans Bürobauten und Theater der 1880er und 1890er Jahre behaupteten eine neue und moderne Architektursprache und brachen mit den zeitgleichen historistischen Tendenzen.

Angezogen von Sullivans ästhetischer und konstruktiver Kompromisslosigkeit und der präzisen Verbindung zart-verspielter Fassadenornamentik mit moderner Klarheit, lichtdurchfluteter Offenheit und urbanem Zeitgeist, dokumentierte der Fotograf Richard Nickel in den 1960er Jahren mit Passion viele der heute zerstörten Bauten. Nickel fand in den Bauwerken die künstlerische Inspiration, die sein Leben und Werk bestimmen sollte, und letztlich auch seinen Tod. Seine Aufnahmen zeigen mit der Distanz eines Künstlers und zugleich emotionaler Kraft die Schönheit, den Wert und zugleich die Zerbrechlichkeit dieser hervorragenden Architektur. Nicht zuletzt die Fotografien bewirkten einen neuen Impetus für die Erhaltung der Bauwerke von Louis Henry Sullivan: Richard Nickel organisierte im Alleingang Proteste, die die Aufmerksamkeit der Stadt und ihrer BewohnerInnen auf ihr architektonisches Erbe lenkten, und bewahrte so den Rest der erhaltenswerten frühen Bauten in Chicagos Downtown.

Form follows function – Louis Sullivan, der Pionier der Architektur der amerikanischen Städte, hat etwas anderes gemeint, als die Neuinterpretation seiner Worte als Diktion der Moderne vermittelt. In der etwas poetisch-pathetischen Ausdrucksweise des späten 19. Jahrhunderts statuierte er nicht, dass ausschließlich die Funktion maßgeblich die Formfindung definieren soll und auch nicht die Ablehnung des Ornaments. Sullivan gebrauchte die Worte lediglich als Argumentationshilfe für den heute anachronistisch wirkenden dreiteiligen Aufbau der damals so genannten tall office buildings, der skyscraper, Wolkenkratzer (Sullivan 1896).

Durch den großen Brand in Chicago 1871, der das gesamte Stadtzentrum vernichtete, war die Nachfrage nach begabten Architekten in der rasant wachsenden Stadt hoch. William Le Baron Jenney war der Architekt des ersten Wolkenkratzers in revolutionärer Stahlskelettbauweise ohne tragende Funktion der Fassade, des Home Insurance Building von 1883 (1931 zerstört). »It was the major progenitor of the true skyscraper, the first adequate solution to the problem of large-scale urban construction.« (Condit 1964, S. 83). Die frühen Hochhäuser waren bis dahin aus massivem Mauerwerk wie das Monadnock Building (1889, Burnham & Root), das als der höchste Ziegelbau-Wolkenkratzer gilt. Als Adolf Loos 1893 die Columbian Exposition in Chicago besuchte, muss er beide Bauten gesehen haben, die aus der damals noch recht lückenhaften downtown von Chicago herausragten. Louis Sullivan erreichte Chicago 1873 mit siebzehn Jahren und studierte 1874 ein Jahr an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Die meisten Architekten der Chicago School of Architecture (ca. 1875–1925) besaßen allenfalls eine ein- bis zweijährige Ausbildung, meist als Ingenieure, oder hatten gar keinen Schulabschluss wie Frank Lloyd Wright.

Louis Sullivan und sein Partner Dankmar Adler entwarfen ab 1879 etliche prägende Wolkenkratzer für Chicago, die noch heute durch ihre Sicherheit in Gestaltung und Ausführung, Eleganz und Konstruktion beeindrucken, wie den Schlesinger and Mayer Store 1899, heute bekannt als Carson Pirie Scott. Im Turm des Auditorium Building von 1887, des ersten Mischnutzungsbaues mit Hotel, Büros, Restaurant und einem Theater für über 4.000 Personen, befand sich das Büro Adler & Sullivan, wo unter anderen Frank Lloyd Wright von 1888 bis 1893 arbeitete, bis er wegen moonlightings, Nebenbeschäftigungen in die eigene Tasche, gekündigt wurde.

Nach dem ersten großen Bau-Boom der Chicago School der frühen Jahre wurden in der Zeit seit der Great Depression von 1930 bis 1956 kaum neue Gebäude in Downtown Chicago errichtet.[2] Neue Konstruktionsweisen und Materialien ermöglichten in den folgenden Jahrzehnten weitaus höhere Bauten als die maximal zwanzigstöckigen ersten Wolkenkratzer, und da erneut viel Geld in die Baubranche floss, mussten die frühen Gebäude auf den wertvoller werdenden Grundstücken den vier- bis fünfmal höheren Giganten weichen.

Richard Nickel, 1928 geboren, wuchs in Chicago auf und schrieb sich 1948 am Institute of Design im Fach Fotografie ein.[3] In den fünfziger Jahren plante er gemeinsam mit seinem Lehrer Aaron Siskind eine vollständige fotografische Dokumentation sämtlicher Bauwerke von Louis Sullivan in Chicago, eine Monografie mit dem Titel The Complete Architecture of Adler & Sullivan. Dass die Kraft, Ästhetik und Erhaltung von Sullivans Bauten sein Leben zukünftig bestimmen würden, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht vorausahnen. Richard Nickel nahm seine Aufgabe sehr ernst und unterließ es seitdem, Menschen im Stadtraum abzulichten. Sein Motiv wurde ausschließlich die Architektur. Er erkämpfte sich die besten Perspektiven auf die Häuser bei NachbarInnen und AnrainerInnen, unternahm Landpartien zu entlegenen Bauten und recherchierte unbekannte realisierte Aufträge Sullivans.[4]

Louis Sullivan war ein Meister in der Ausgestaltung feinster Ornamente der Fassaden und Innenräume. Weit entfernt davon, nur applizierte Dekoration zu sein, bildeten die pflanzlich-geometrischen flächigen Reliefs den integralen Charakter der Bauwerke und verwoben sich eindrücklich mit den regelmäßigen Glasfassaden der großen dreiteiligen Chicago Windows. Betrachtet man seine Entwurfszeichnungen, erkennt man sein großes zeichnerisches Talent: Er zieht kaum Striche, sondern punktiert seine Vorstellung von Ornament auf das Papier – ähnlich wie zarte Spitze vernetzt wird. Er ist ein impressionistischer Zeichner und ein impressionistischer Architekt, umso mehr, da der Impressionismus Teil der frühen Moderne ist. Umgesetzt wurden die Entwürfe in Einzelteilen aus glasierter Terrakotta, Gips oder Gusseisen, die man recht pragmatisch ohne Zwischenmaterialien direkt auf den Stahlträgern der Gebäudefassaden festschraubte. Sullivan arbeitete immer mit demselben Handwerker, einem norwegischen Modellgießer, der aus den zarten Entwurfszeichnungen den gewünschten Charakter der Ornamentik intuitiv herauslesen und umsetzen konnte.

Diese Fassadenteile stapelten sich um 1960 im Innenhof von Richard Nickels Elternhaus und in seinem Schlafzimmer. Nickel lieferte sich über Jahre hinweg Wettrennen mit den Abrisstrupps der Sullivan-Bauten. Er riskierte in den einsturzgefährdeten Abbruchhäusern sein Leben für eine perfekte Aufnahme im richtigen Licht. Die für die Fotografien nötigen Genehmigungen erforderten einige Vorlaufzeit; manchmal kam er zu spät und musste zusehen, wie die Abrissbirne nichts als Schutt hinterließ. 1957 begann er, in Eile vor den anstürmenden Baggern Teile von Fassaden abzutransportieren. Der Fotograf gerät zum Konservator und Kustos einer Bauteilsammlung. »As the collection grew, I envisioned a private Sullivan ornament museum.«(Cahan 1994, S. 78). Das Ziel war weiterhin eine vollständige Werkaufnahme der Bauten Sullivans, die Arbeit am Buch verzögerte sich jedoch durch die aufwändigen Demontagen und Transporte. Das Sammeln der Schätze – oder des Bauschutts, je nach Sichtweise – wurde durch die hastig voranschreitenden Schleifungen zu einer Manie, wie ein Plünderer stemmte Nickel neben den Abrissbirnen die Ornamente aus den Fassaden und transportierte sie mit Freunden und Kollegen ab. Seine Aktionen stießen auf Unverständnis – welches Interesse sollte jemand an diesen alten Trümmern haben?

Richard Nickel dokumentierte und konservierte, soviel er konnte. Eines seiner bekanntesten Fotos zeigt das Robie House (1908) von Frank Lloyd Wright, das 1957 beinahe demoliert worden wäre. Nickels Fotografien sind frei von Nostalgie, sie verklären oder beschönigen nichts, sondern sind klar und distanziert – trotz seiner emotionalen Bindung zur Architektur. Die Bilder sehen unaufwändig aus, kosteten ihm jedoch viele Mühen. Er besuchte, wie gebannt von der Zerstörung, nahezu täglich die Abbruchbaustellen, oft auch ohne Kamera. »Marvelous being in a work of art under rape. How often do you experience the bones, veins, skin of a work of art, even if it be in dissection?«(Cahan 1994, S. 13).
Eine frappierende ikonografische Verwandtschaft zeigt sich zu den Arbeiten eines Künstlers, der zeitgleich in New York seine Faszination für Abbruchhäuser entdeckte: dem ausgebildeten Architekten und Künstler Gordon Matta-Clark. Beide, Matta-Clark und Nickel, verewigten die ephemere Kraft und Fragilität von vermeintlich massiver Bausubstanz und waren fasziniert von den wuchernden, bröckelnden und hängenden Innereien eines Hauses, die erst hervortreten, wenn man eine Wunde hineinreißt.

Mit dem Garrick Theatre (1892), einem siebzehngeschossigen Bau von Adler & Sullivan, stand einem weiteren frühen Gebäude die Demolierung bevor. Das war für Richard Nickel zuviel an politischer Arroganz und gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber der Baukunst: Er sammelte innerhalb von vier Tagen auf der Straße 3.300 Unterschriften gegen die Zerstörung des Theaters und marschierte mit immer mehr UnterstützerInnen vor dem Theater auf, unterstützt von prominenten Stimmen wie Ludwig Mies van der Rohe, Philip Johnson, Le Corbusier, Josep Lluís Sert und Lewis Mumford. »Someone came up to me, and said ›What the hell do you think you are doing?‹ All I could say was that I didn´t want the building wrecked.«(Cahan 2006 S. 11). Nickel protestierte allein wegen der architektonischen Bedeutung der Bauten gegen deren Schleifung. Er erkannte als Nicht-Architekt den Mehrwert dieser frühen Bauten der Großstadt und tat mit außergewöhnlicher Tatkraft alles dafür, sie zu erhalten. Sein öffentliches Engagement führte zur Gründung eines Gremiums zur Rettung des Theaters, das sich nach zähen Verhandlungen nicht gegen die finanzielle Argumentationsmacht des neuen Investors durchsetzen konnte: Das Garrick Theatre musste einer Parkgarage weichen.

Der Verlust des Garrick Theatre hat Nickel erschöpft, aber als er erfuhr, dass auch das Stock Exchange Building (1894) gefährdet sei, warf er sich noch einmal in die Schlacht. Er konservierte große Mengen an Gebäudeteilen, sogar einen vollständigen Raum. Der Trading Room samt bunter Glasdecke wurde fotografisch so dokumentiert und demontiert, dass er im Chicago Art Institute 1977 wieder aufgebaut wurde und bis heute besichtigt werden kann. Richard Nickel kletterte am 13. April 1972 ohne Kamera, ohne Begleitung und ohne ersichtlichen Grund erneut in das desolate und halbzerstörte Gebäude. Erst nach 28 Tagen wurde sein Körper unter Schutt und Baustellenstaub gefunden, den eine einstürzende Decke unter sich begraben hatte.

Louis Sullivan und Richard Nickel sind heute Ikonen der amerikanischen Architektur. Beide wurden im Herbst 2010 in Chicago mit zwei Ausstellungen, einem Symposium und einer Publikation bedacht; ehemalige Mitstreiter haben das seit 1954 geplante Buch The Complete Architecture of Adler & Sullivan vervollständigt und, mit mehr als 800 Fotos versehen, herausgegeben. Von den 250 Gebäuden, die darin Sullivan zugeschrieben sind, hat sich weniger als die Hälfte erhalten. Nach 38 Jahren wurde auch Nickels Nachlass an das Chicago Art Institute übergeben, von einem Sullivan-Museum, wie es sich Nickel erträumte, ist man jedoch weit entfernt: Fast jede Institution in Chicago hat Fragmente von Sullivans Bauten in ihren Sitzungszimmern hängen. Viele sind anscheinend unhinterfragt in Privatbesitz übergegangen: Fragmente des Stock Exchange Building wurden im Dezember 2010 für bis zu $ 122.500 in Auktionshäusern angeboten.

Richard Nickels Engagement veränderte die Sichtweise der Politik und Gesellschaft auf den Wert des architektonischen Erbes Chicagos. Als um den Erhalt des Auditorium Building gerungen wurde, entschloss man sich zur Restaurierung: »A brilliant example of the possibilities where there is a little love and faith and truth.« (Cahan 2006, S. 165). Die Bauten der frühen Stadtgeschichte sind gegenwärtig Chicagos kulturelles, touristisches und dadurch auch finanzielles Kapital sowie der Stolz der Chicagoans. Kaum eine andere Stadt kann auf eine derart intensive Identifikation ihrer BewohnerInnen mit der sie umgebenden Architektur verweisen, auf eine so hohe Wertschätzung und auf ein so umfangreiches Wissen über die Architekturgeschichte der Stadt. Die in Folge von Richard Nickels Aktionen 1966 gegründete Chicago Architecture Foundation beschäftigt mehr als vierhundert freiwillige Laien-StadtführerInnen, die ehrenamtlich TouristInnen und Einheimische bei Stadtwanderungen zu verschiedenen Themen die Geschichte ihres laufend erneuerten Architekturmuseums Chicago erzählen.


Anmerkungen:
[01] 4.470 EinwohnerInnen im Jahr 1840; 1.698.575 um 1900; 3.620.962 im Jahr 1950.
[02] Das Inland Steel Building (1956, Skidmore, Owings und Merrill) stand am Beginn des zweiten Bau-Booms. SOM ist heute ein globaler Architektur-Konzern.
[03] Nach der Schließung des Bauhauses in Deutschland und seiner Emigration übernahm László Moholy-Nagy am Institute of Design, das kurz The New Bauhaus hieß, 1939 die leitende Position, ebenso wie Ludwig Mies van der Rohe 1938 am IIT, dem Illinois Institute of Technology in Chicago.
]04] Nickel entdeckte 38 bis dahin unbekannte Projekte Sullivans. Er fotografierte auch Bauten von Burnham & Root, Holabird & Roche und neuere Architektur, z.B. von Mies van der Rohe.

Literaturverzeichnis:
Cahan, Richard (1994): They All Fall Down. Richard Nickel’s Struggle to Save America’s Architecture. New York: John Wiley & Sons, Inc.
Cahan, Richard und Williams, Michael (2006): Richard Nickel’s Chicago. Photographs of a Lost City. Chicago: Cityfiles Press.
Condit, Carl W. (1964): The Chicago School of Architecture. A History of Commercial and Public Building in the Chicago Area, 1875 -1925. 3. Auflage 1966. Chicago & London: University of Chicago Press.
Lowe, David (1978): Lost Chicago. Boston: Houghton Mifflin Company.
Nickel, Richard und Siskind, Aaron (2010): The Complete Architecture of Adler & Sullivan. Chicago: University of Chicago Press.
Sullivan, Louis H. (1896): The Tall Office Building Artis-tically Considered. In: Lippincott’s Magazine, 57,
März 1896, S. 403 — 409.

Ausstellungen:
http://www.chicagoculturalcenter.org/ Louis Sullivan’s
Idea 26.6.2010-2.5.2011
Chicago Cultural Center

Looking after Louis Sullivan: Photographs, Drawings, and Fragments 19.6.2010-12.12.2010
The Art Institute of Chicago
http://www.artic.edu/aic/collections/exhibitions/LouisSullivan/indexwebsite

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