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Visuelle Identität
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zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Urbane Feldarbeiten in Prata Sannita

Das Million Donkey Hotelprospekte

Trotz der vielbeachteten urbanen Leerstände, denen mit dem Diskurs über „shrinking cities“ ausgiebigst Aufmerksamkeit gewidmet wird, leben fast drei Viertel der Menschen Europas in Städten. Leerstand ist also kein rein urbanes Phänomen, sondern auch ein rurales Symptom. Dass dadurch auch im ländlichen Raum eine „urbane Strategie“ wirksam eingesetzt werden kann, beweist das Projekt Million Donkey Hotel“(1) von feld72.

14. April 2006 - Erik Meinharter
Die ArchitektInnen wurden eingeladen, sich im Rahmen von Villaggio dell’Arte(2) in Italien mit Prata Sannita, einem Dorf in der Provinz Caserta im Parco del Matese, zu beschäftigen. Das Dorf hat eine bewegte Geschichte, die durch Migration und Mobilität bestimmt wird und wurde.

Prata Sannita ist als „Erfolg“ der Automobilisierung in zwei sehr unterschiedliche Teile getrennt: das am Hang liegende mittelalterliche Prata Inferiore, das auch „Borgo“ genannt wird, und das getrennt davon an einer Verbindungsroute den (auto)mobilen Ansprüchen entsprechend entstandene Prata Superiore. Durch die wirtschaftliche Entwicklung der Region ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine stetige Fluktuation der BewohnerInnen festzustellen. Viele wanderten aus, manche von Ihnen besuchen jährlich im Sommer und zur Weihnachtszeit „ihr Dorf“ als Gäste, teilweise ziehen die Ausgewanderten im Alter wieder zurück und die Jungen sind noch da. Prata ist, wie auch die anderen an dem Projekt teilnehmenden Orte Capriati al Volturno, Fontegreca, Gallo Matese und Letino, durch seine erzwungenermaßen mobilen EinwohnerInnen ein „urban node“ geworden. Es gibt große Ortsgemeinschaften in New York oder der Schweiz. (Im benachbarten Dorf Gallo Matese wohnten 1921 noch über 3.000 Menschen, heute wohnen dort 800 Personen, in New York werden aber 1.500 Gallisti gezählt.) So findet in den Dörfern die Urbansisierung des ländlichen Raumes in den Handlungsweisen der „Zurückgekehrten“ statt.

Diese Situation des Ortes, dass die Migration – die Bewegung – das Verbindende sowohl zwischen den beiden Ortsteilen wie auch zwischen den BewohnerInnen ist, nahmen feld72 als Anknüpfungspunkt für ihr Konzept. Sie lasen das gesamte Dorf als Hotel, in dem noch Zimmer frei sind, um damit eine neue Bedeutungsebene der Migration einzuführen. Im Bereich des Borgo sollten „Zimmer“ eingerichtet werden, die sowohl für die „nicht sorgengetriebenen Nomaden“ genannten Touristen wie auch für die DorfbewohnerInnen neue Räume erschließen.

Dass dieses Konzept nur eine mögliche Form der Intervention darstellte, die Dimension und Ausformulierung jedoch vor Ort in einer Workshop-Situation entschieden wurde, verlieh dem Prozess eine kräftige Eigendynamik. Das Konzept wurde zum Selbstläufer. Durch die Wahl des Zeitraumes (1.-31. August 2005), des ferragosto(3), als Durchführungszeitraum, war die Grundvoraussetzung zur gemeinsamen Intervention gegeben. Täglich nahmen bis zu 43 Personen vier Wochen lang gemeinsam mit den ArchitektInnen die Transformation des Ortes selbst in die Hand. Im wahrsten Sinn des Wortes, denn durch die Lage des Borgo am Hang sind die Gassen für Transportmaschinen zu eng. So fanden sonst nicht gemeinsam agierende BewohnerInnen mit verschiedensten Hintergründen eine Möglichkeit, mit vereinten Kräften einen Beitrag zum spielerischen Umdeuten zu leisten. Sie waren Bauherren und Bauarbeiter in Personalunion. Im Gegensatz zum solitären Heimwerker bot die permanente Diskussion mit den ArchitektInnen über das Konzept Entscheidungsmöglichkeiten über die Ausformulierung. Eine neue Verbindung entstand dadurch nicht nur zwischen davor einander distanziert begegnenden zurückgekehrten Alten und ausbrechenden Jungen, sondern auch zwischen ihnen und den ArchitektInnen. Der Wahnsinn der Anstrengung und der Wahnwitz der Entwürfe verbindet: „Ihr seid ja verrückt“ konnte feld72 mit „Ihr aber auch, denn ihr macht mit“ beantworten.

Das räumliche Ergebnis hat die Form eines lebhaften, widerspenstigen architektonischen Statements und widersetzt sich einer möglichen Kommerzialisierung. Die Zimmer sind alles andere als gemütlich – und doch stark in ihrer Ausdruckskraft. Silberraum, schwarzes Loch, das fliegende Bett oder das Bad mit 4,8 km Moschiera(4) wurden den fast verfallenen Leerräumen abgerungen. Sie bieten einmalige, mit dem Ort spielende Erlebnisse, aber keine gemütliche Atmosphäre zur distanzierten Erholung, wie sie einschlägige Hotelprospekte sonst versprechen. Der Gast muss sich mit dem Dorf und seinen BewohnerInnen auseinandersetzen. Er muss sich sein Hotel erarbeiten und es erforschen und kann sich nicht gemütlich in einem Transitraum abgekoppelt vom Umfeld niederlassen.

Nicht nur die Eingänge zu den Zimmern, auch der Ausgang des Projekts ist offen. In jedem Fall hat es einen positiven Impuls zur Annäherung doch so gegensätzlicher sesshafter „MigrantInnen“ geschaffen. Es hat wohl weniger Prata Superiore und Prata Inferiore verbunden als vielmehr Jung und Alt, wie auch Wohnende und Besuchende oder letztlich die DorfbewohnerInnen mit den ArchitektInnen.

Zukünftiges Konfliktpotenzial zwischen den WorkshopteilnehmerInnen und den anderen BewohnerInnen von Prata Sannita ist jedoch zu erwarten. Es sind die notwendigen gemeinsamen Definitionen der weiteren Schritte und die „alltägliche“ Betreuung, die ausdiskutiert werden müssen. Eine Gruppe der ortsansässigen Freiwilligen verwaltet als Verein das Hotel. Doch das verbindet sie auch wieder aufs Neue. Und dass nach dem Ende des Workshops noch ein weiteres „Zimmer“ durch die Dorfgemeinschaft ohne die ArchitektInnen errichtet wurde, ist ein Zeichen, dass das „frei von ...“ tatsächlich zu einem „frei zu ...“ umgedeutet werden konnte, wie es im Konzept erhofft wurde.

Mit dieser urbanen Strategie erarbeiteten feld72 mit den WorkshopteilnehmerInnen eine Situation, die das Anklingen einer spielerischen und gemeinschaftlichen Komponente in der Wiedererfindung des „Verlorenen“ beinhaltet und dadurch mehr Chancen bietet, die Leere in ein Potenzial zu verwandeln, als jedes durchkonstruierte „umfassende“ Projekt. Diese urbane Strategie, die vor allem aufgrund der im Dorf vorhandenen urbanisierten Handlungsweisen der BewohnerInnen einen Anknüpfungspunkt fand, kommerzialisiert den Ort nicht, denn das Million Donkey Hotel ist ein Hotel mit vielen Dauergästen.

Das „Million Donkey Hotel“ in Prata Sannita ist ein Projekt von feld72 im Themenbereich „memory“ des Villaggio dell’Arte 2005. Dieses ist ein Teil von PaeSEsaggio – Azione Matese.
1 Der Titel des Projekts geht auf eine erste Veröffentlichung des Konzepts zurück, als ein Journalist der Tageszeitung „La Repubblica“ sich den Titel aus den Aussagen der ArchitektInnen herausfilterte. Dass das Projekt tatsächlich mehr auf Kraft- statt auf Geldeinsatz gegründet war, spiegelt sich darin gut wieder.
2 An Villaggio dell’Arte nahmen acht internationale KünstlerInnen bzw. KünstlerInnengruppen teil. Sie wurden eingeladen, sich mit den fünf teilnehmenden Dörfern der Region zu beschäftigen. Das Million Donkey Hotel ist dadurch Teil einer Route entlang verschiedenster Kunstinstallationen.
3 ferragosto ist der arbeitsfreie Urlaubsmonat in Italien. In dieser Zeit kommen auch die MigrantInnen in „ihre Dörfer“ zurück auf Besuch.
4 Moschiera sind die Schnüre, welche die offenen Eingänge in den südlichen Regionen Italiens gegen anfliegende Insekten abschirmen sollen.

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Für den Beitrag verantwortlich: dérive

Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimermail[at]derive.at

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