Zeitschrift

TEC21 2011|22
Zeichen und Wunder
TEC21 2011|22
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Symbol und Figuration

Die neue Synagoge in Mainz von Manuel Herz ist nicht nur ein spektakulärer Neubau. Er thematisiert, wie Architektur produziert wird, welche Beziehung zwischen Form und Inhalt, Symbol und Figuration spielen könnte – verweist damit auf ein heute oft ungenutztes architektonisches Ausdruckspotenzial.

27. Mai 2011 - Christian Holl
Der Frage nach der Farbe des Synagogenraums weicht der Architekt Manuel Herz aus – sie sei eine eigens angefertigte Mischung, die keinen Namen habe. Sie ist weder Braun noch Gelb, weder Gold noch Bronze und trägt doch von allem etwas in sich. Die Strategie bei der Farbwahl ist symptomatisch für den Entwurf der neuen Synagoge in Mainz, die im September 2010 nach nicht einmal zweijähriger Bauzeit eröffnet wurde. Einer eindeutigen Zuweisung von Bedeutung entzieht sich das Gebäude, soll es sich entziehen. Aber nicht durch eine grösstmögliche Neutralität – im Gegenteil: Nicht neutral soll die neue Synagoge sein, sondern eine Vielfalt von Assoziationen, von Zusammenhängen herstellen, von Lesarten ermöglichen. Die Synagoge von Mainz ist narrativ, sie ist figurativ, aber sie behauptet nichts, sie schafft einen Raum, der jenseits der Narration besteht, der in der Figuration und in der Form Heimat und Trost, Kritik und Denkanstoss zugleich ist.

Die Sprache als Objekt der Welterkundung

Wenn auch in kurzer Zeit gebaut, so reicht die Geschichte der Mainzer Synagoge doch weit zurück. Nach 1945 zählte die Jüdische Gemeinde von Mainz, im 11. und 12. Jahrhundert einer der Mittelpunkte jüdischen Geisteslebens überhaupt, nur noch wenige Mitglieder. Das änderte sich substanziell erst mit der Öffnung von Osteuropa: Namentlich durch Zuzüge aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die Gemeinde auf über 1000 Mitglieder an. Ein Wettbewerb für einen Synagogenneubau wurde ausgeschrieben und 1999 zugunsten des damals gerade 30 Jahre alten Manuel Herz entschieden. Schon Jahre zuvor war der Ort in einem innenstadtnahen Gründerzeitviertel, an dem die 1912 erbaute und 1938 zerstörte Hauptsynagoge gestanden hatte, zum Bauplatz für die neue Synagoge bestimmt worden.

Finanzierungsschwierigkeiten zögerten den Bau hinaus, und mag man auch die Spuren der 1990er-Jahre, allen voran die Syntax Daniel Libeskinds, in der neuen Synagoge erkennen, so hat sie 2010 nichts an Aktualität eingebüsst. Diese Qualität ist nicht zuletzt dem sorgsam entwickelten und durchdachten Konzept zu verdanken. Das zeigt sich bereits in der städtebaulichen Konfiguration.

An zwei Seiten setzt die Synagoge die Baufluchten der Randbebauung des trapezförmigen Blocks fort, wird aber an der dritten so eingeknickt, dass ein Platz vor der Synagoge entsteht, der das Ensemble einbindet, aber auch dessen besonderer Bedeutung gerecht wird (Abb. 2). Die 1988 wiederentdeckten und rekonstruierten Säulenreste des zerstörten Altbaus sind nun Teil dieses Platzes, verbinden Geschichte und Gegenwart ohne Pathos (Abb. 16). Die neue Synagoge umschliesst einen lauschigen Hof, um den sich die angegliederten Wohnungen, die Büroräume, die Schul- und Besprechungszimmer sowie die Räume des Kindergartens legen. Durch die Anordnung des Gebäudes können Sicherheitszäune und Absperrungen auf ein kaum sichtbares Minimum reduziert werden. So recht selbstverständ lich ist das jüdische Leben in Deutschland eben doch noch nicht wieder geworden. Auch wenn Kubatur und Fassadenfarbe mit der Umgebung und den strassenbegleitenden Platanen angenehm harmonieren – dass hier ein aussergewöhnliches Gebäude steht, ist nicht zu übersehen. Die geknickte und gefaltete Gebäudeform ist aus den fünf hebräischen Buchstaben abgeleitet, die für «Qadushah» stehen. Qadushah bedeutet Segnung, Heiligung oder Erhöhung. Dabei ist die Schrift in der jüdischen Tradition, in der die Form der Buchstaben als von Gott gegeben verstanden wird, deutlich mehr als nur eine Form des Zeichens, dem willkürlich eine Bedeutung zugeordnet wird. Die Form selbst und das, was sie bedeutet, bilden eine Einheit: Die Schrift ist selbst das, was sie bezeichnet, die Buchstaben sind reale Objekte, die die Verbindung zu Gott herstellen, sie ermöglichen die konkrete Herstellung von Sinnzusammenhängen, die sich nicht in der Semantik erschöpfen.

Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass die Schrift und die Thora selbst einen räumlichen Kontext bilden. Für die Juden in der Diaspora, verstreut in aller Herren Ländern, stellen sie den gemeinsamen Raum her, in dem sich die Gemeinschaften der Gläubigen durch die Sprache, durch das Lesen der Thora begegnen. Zwischen konkretem Ort und diesem Raum jenseits der realen Erfahrung vermittelt die Mainzer Synagoge: Das geschriebene Wort wird zum realen Ort und verweist auf die Existenz der weltweiten spirituellen Gemeinschaft. Villem Flusser hat diese Komplexität vielleicht am besten zusammengefasst, wenn er von der Sprache als einem «Möglichkeitsfeld, aus dem die Welt wird» spricht, sie als «symbolische Form, als Wohnort des Seins, als Enthüllung und Verhüllung, als Kommunikationsmittel, als Feld der Unsterblichkeit, als Kunstwerk, als Eroberung des Chaos» beschreibt.

Korrespondenzen zwischen Innen und Aussen

Den beiden aus dem Schriftzug sich ergebenden Hochpunkten sind im Innern die Gemeinschaftsräume zugeordnet, unter dem einen liegt ein Versammlungsraum, die Synagoge wird von einem auskragenden Keil markiert, in dem sich das Widderhorn wiedererkennen lässt – es steht für den Bund Gottes mit den Menschen, der Widder war von Abraham anstelle seines Sohnes geopfert worden. Das Blasen des Widderhorns ruft die Gemeinde zusammen, sein Schall soll die Himmelstore öffnen können.

Der Dinglichkeit der Schrift und der Sprache ist auch die Fassade verpflichtet: Es scheint, als seien in sie Rillen eingeritzt, die sich um die unregelmässigen Formen der Fenster legen. Tatsächlich setzt sich die Fassade aus zu Feldern gefügten, trapezförmigen Keramikelementen zusammen, massiv in den Randbereichen der Felder, profiliert in den Mitten. Glänzend glasiert mit einem dunklen Grün, ergeben sich je nach Licht und Standpunkt raffinierte Lichtspiele, Grafiken, Flächen, spiegeln sich Farben und Stimmungen der Umgebung. Durch eine mit Schriftzeichen versehene Tür kommt man ins Innere (Abb. 17). Ein zweigeschossiges, expressives Foyer mit einer schrägen Treppe und schiefen Ebenen öffnet sich, verknüpft den Gemeinschaftsraum für etwa 300 Personen und die weiteren Gemeinderäume zur Rechten mit dem Synagogenraum zur Linken, geradeaus kommt man in den Hof. Die Synagoge ist kein Raum einer durch Segnung inhärenten Heiligkeit, wie das bei christlichen Kirchen der Fall ist – das Gemeindeleben kann und soll sich direkt und unmittelbar in all seiner Vitalität begegnen und befruchten.

Dass die Nutzung der Räume und die Form des Gebäudes sich wunderbar ergänzen, zeigen die beiden Gemeinschaftsräume. Der Versammlungsraum wird von einem aufsteigenden Volumen geprägt, das ihm Grosszügigkeit verleiht, der hintere Bereich hingegen ist flacher und intimer, für kleinere Gruppen lässt sich der Raum auch teilen.

Der durch voluminöse Möbel und breite Brüstungen mächtig wirkende Synagogenraum verbindet zwei Raumideen (Abb. 1). Die Orientierung nach Osten, nach Jerusalem, verlangt nach einer Ausrichtung des Raums, die Praxis der Nutzung, die stärker als in der christlichen Liturgie dem Gemeinschaftlichen verpflichtet ist, hingegen Zentralität. Herz verbindet diese beiden Ansprüche miteinander, indem er den Raum durch das Licht, das durch das gewaltige Widderhorn wie durch eine Schütte in den Raum fliesst, ausrichtet, das Licht aber an den zentralen Punkt in der Mitte, auf das Vorlesepult, fallen lässt. Raumform, Lichtführung und äussere Form werden mit überraschender Selbstverständlichkeit zur Deckung gebracht. In die umlaufende Galerie wurde eine Bibliothek integriert, die Oberflächen sind von einem in Stuck gegossenen Ornament aus hebräischen Buchstaben bedeckt, aus denen sich immer wieder Gebete, Bibelstellen und Piyutim herauslösen – religiöse Dichtungen, die Mainzer Rabbiner während des Mittelalters verfasst hatten. Sie berichten von der Liebe zur Thora, aber auch von der Zerstörung der Gemeinden in der Zeit der Kreuzzüge – es sind diese Zeichen, die auch auf den Genozid im 20. Jahrhundert verweisen, ohne dass die Erinnerung an den Holocaust Macht über den zuversichtlichen Geist des Hauses gewinnt.

Diskurspotenzial durch Synthese

Man mag an den durch die Aussenform vor allem den Wohnungen oder den Nebenräumen auferlegten Zwängen mäkeln, sich fragen, ob man die Form der Fenster innen durch dunkle Rahmen hätte betonen und die Öffnungen damit kleiner erscheinen lassen müssen – aber damit geht man am Wesen dieses Hauses vorbei, das mehr ist als ein Nutzbau. Das Verhältnis zwischen Inhalt und Form stellt sich komplexer dar, als dass es sich mit «deckungsgleich» übersetzen liesse. Die Synagoge zeigt, welches Potenzial Architektur hat, wenn man darauf verzichtet, Figuration und Symbolik, Form und Nutzung getrennt voneinander verstehen zu wollen. Architektur bekommt damit eine Kraft, die anregen kann, die eine Kritik an der banalen Einordnung in einen als Gesetz missverstandenen Kontext formuliert. Diese Architektur reibt sich an der Weigerung vieler Bauten, vieler Architekten, Zeichen und Formen auf ihre Relevanz und ihre Bedeutung hin zu befragen und aktiviert damit ein brachliegendes gesellschaftliches Diskurspotenzial.

Bedauerlich ist, dass sich dieses Potenzial meist nur in Sonderbauten, namentlich denen mit jüdischem Bezug, manifestiert – die Sonderrolle der Juden wird damit zum einen betont, wenn sie nicht gleichzeitig von einer Form der Normalität im Alltag, durch jüdische Läden oder Restaurants begleitet wird. Zum anderen wird die widerständige Kraft der Architektur durch die Sonderrolle wieder geglättet. Und trotzdem: Dieses Haus erzählt von einem Verständnis von Architektur, zu dem uns der Zugang schwerfällt – weil man gelernt hat, ihre Aspekte analytisch voneinander zu trennen, anstatt sie als Einheit zu verstehen. Herz wehrt sich gegen eindeutige Zuweisungen, die im gebauten Wort eine Monokausalität von Entwurfsentscheidung und Formfindung sehen wollen, weil man damit die Qualität der Architektur verkennt. Dieses Misstrauen ist verständlich, wird aber durch das Werk entkräftet: Das Haus spricht für sich selbst.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: