Zeitschrift

tec21 2006|19
Kunst als Pflaster
tec21 2006|19
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Kulisse

Wieder einmal musste Kunst herhalten, um die Versäumnisse der Stadtplanung zu reparieren.

Die Videokünstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez inszenierten einen künstlichen Ort als «Spiel»platz im öffentlichen Raum, um den Hinterhöfen einen bewohnbaren Charakter zu verleihen und gleichzeitig dem Schweizer Verband der Raiffeisenbanken einen roten Teppich auszurollen.

5. Mai 2006 - Lilian Pfaff
Im Bleicheliquartier in der westlichen St. Galler Innenstadt, 300 Meter südöstlich des Bahnhofs, hat über die Jahrhunderte eine Transformation von einem durch schmale Gassen und kleinteilige Parzellen bestimmten Wohn- und Gewerbeviertel zu einem modernen Bankenviertel stattgefunden. Wo bis ins 19. Jahrhundert Leinwand zum Bleichen ausgelegt wurde, findet sich heute die grösste zusammenhängend überbaute Fläche eines einzigen Grundeigentümers. Der Hauptsitz des Schweizer Verbandes der Raiffeisenbanken wurde vom St. Galler Architekten Bruno Clerici von 1987 bis 2005 sukzessive ausgebaut. Der letzte der vier Neubauten an der Schreinerstrasse wurde 2005 fertig gestellt. Da den Bauvorhaben jedoch keine zusammenhängende Planung vorausging, blieb der Aussenraum ein zerstückelter Restraum, der von den Rückseiten der umgebenden Bebauungen und den Einfahrten zu den Tiefgaragen geprägt ist. Was fehlte, war eine gemeinsame Identität des Quartiers. Deswegen entschied sich der Grundeigentümer zusammen mit der Stadt St. Gallen zu einem Studienauftrag für die Gestaltung des Aussenraums und lud drei Künstler und vier Landschaftsarchitekten ein, den vorgegebenen Perimeter mit der Schreinerstrasse als Rückgrat zu bearbeiten und weiterführende Planungsideen zu entwickeln. Dem Vorhaben kam zugute, dass die Schreiner- und die Bleichestrasse sowieso saniert werden mussten.

Öffentlicher und privater Raum

Das Siegerprojekt schaffte es mit einem Kunstgriff, den Komplex mit der Umgebung zu verzahnen und ihn als Einheit erscheinen zu lassen. Die Videokünstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez «stellen» dazu die einzelnen Gebäude auf einen roten Teppich, der zwischen den Bürohäusern in die Vadianstrasse, Gartenstrasse, Bleichestrasse und Schreinerstrasse ausläuft und sich so um die Ecke zieht, dass er gleichzeitig den roten Teppich des Eingangsgebäudes der Raiffeisenbank bildet. Die Übereinstimmung der Farbe mit dem neuen Logo der Bank und die neue Bezeichnung des Platzes als Raiffeisenplatz sind noch das Tüpfelchen auf dem i der Corporate Identity.

Dennoch wurde ein neuer Platz geschaffen, der durch seinen roten, an Stoff erinnernden Belag einen Bezug zum historischen Ort herstellt. Ob man sich bei der Stadtlounge, wie Name und Möblierung es evozieren, tatsächlich wie im eigenen Wohnzimmer fühlt, sei dahingestellt. Aber der Versuch, den Aussen- und den Innenraum der Stadt miteinander zu verschränken, ist gelungen. Die Aneignung des öffentlich begehbaren Raumes, der eigentlich ein Privatraum ist, durch den Passanten findet, bedingt durch die vergangene kalte Jahreszeit, erst langsam statt. Die Künstlerin erläutert das Funktionieren ihrer Intervention: «Das Schlüsselmotiv ist die Zurückdrängung des Autos. Wenn du in Venedig vom Innenraum in den Aussenraum trittst, fährt da kein Auto. Die Gässlein und die Zwischenräume sind belebt. Der Unterschied zwischen innen und aussen, zwischen privat und öffentlich wird dadurch viel kleiner.»1 Die Erweiterung des privaten Raumes eines jeden Passanten in den öffentlichen Raum könnte, so die Idee der Künstlerin, z.B. durch das Liegen auf Bänken stattfinden, wenn die Erwachsenen einmal von den Regeln des normalen Verhaltens im Aussenraum abweichen. So versuchen denn auch die Möbel, die als Bänke, Sitze und Liegen mal kantig und mal rund ausgeführt sind und mit dem roten Teppich überzogen wurden, neue Haltungen und Positionen für den Körper zu provozieren und damit verschiedene Zonen des Aufenthaltes (wie in einem Haus) auszubilden: So sind Besprechungszonen von Loungezonen, Fahrradständern und Durchgangsorten unterschieden. Dabei gebärdet sich die Künstlerin zurückhaltend als Bühnenbildnerin, indem sie architektonische Kulissen für noch nicht definierte Aktionen im Aussenraum bereitstellt.

Im Wohnzimmer

Für Pipilotti Rist kam eine Videoarbeit als Kunst im öffentlichen Raum nicht in Frage. Während ihre früheren Videos Fenster in fremde Wohnzimmer öffnen, befindet man sich nun selbst in einem dieser Zimmer. Der weiche rote Belag aus Gummigranulat (Tartan der Sportplätze) überzieht dabei das gesamte Mobiliar, es gibt keine Randsteine mehr, und selbst die Gullydeckel und Baumtröge sind eingefärbt. Ein Auto ist erstarrt, als wäre die Welt für einen Moment stillgestanden und mit rotem Zuckerguss überzogen. Die bestehenden kranken Bäume wurden durch vier neue Bäume ersetzt, und gleichzeitig wurden mobil erscheinende Strassenschilder scheinbar wahllos auf den Platz gestellt. Wolkenähnliche Leuchtkörper mit 3 m Durchmesser schweben hoch über dem Platz. Sie erzeugen verschiedene Lichtwirkungen und eine surreale und künstliche Atmosphäre. Die Suche nach einem geeeigneten Belag hatte seine Tücken, so durfte er nicht brennbar sein, musste aber spray- und kaugummifest sein. Mit einem Spezialfahrzeug und Hochdruck wird er regelmässig gereinigt. Technisch wurden im Vorfeld verschiedene Tests durchgeführt und der Belag vom Tiefbauamt geprüft. In sechs Arbeitsgängen wurde schliesslich die rot eingefärbte Gummigranulatmischung aufgetragen.

Schauspiel

Steht man inmitten der statischen Kulissenarchitektur, fallen die Bewegungen auf dem Platz besonders ins Auge. Die Autos, die über den Belag ohne jegliche Begrenzung oder Markierung fahren, treten leise auf der Bühne auf und wieder ab, ebenso die Personen, die über den Teppich schreiten. In der künstlichen Welt einer Alice im Wunderland werden sie zu Statisten im alltäglichen Schauspiel. Einen ähnlichen Vorschlag hatten die Basler Künstlerinnen Claudia und Julia Müller mit dipol Landschaftsarchitekten gemacht. Im Gegensatz zu Pipilotti Rist/Carlos Martinez schlugen sie in ihrer «Lobby» vergrösserte Designmöbel und Stehlampen vor. Pipilotti Rist selbst hat schon 1996 eine Arbeit realisiert, in der man als Betrachter auf einen riesigen Sessel klettern musste und aus der Kinderperspektive die Welt/Videos neu zu sehen bekam.

Der Verfremdungseffekt, der hier allein durch die rote Umgebung erzeugt wird, führt zu einem Entrücken aus der Wirklichkeit. Es ist ein «anderer Ort» im Sinn von Michel Foucaults Heterotopie, eine Gegenplatzierung oder auch realisierte Utopie, die die wirklichen Räume in einer Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestreitet und kritisiert. Es ist ein Ort, der sich von der umgebenden Identität abgegrenzt und ihr eine kontroverse oder komplementäre Identität gegenüberstellt, wodurch neue Freiräume zum Denken und Handeln entstehen.
Zusatz:
Andere Meinungen – Fehler im Stadtgeflecht
Den Platz kann man unterschiedlich beurteilen, je nach Perspektive ist er mehr oder weniger gelungen bzw. erst der Anfang einer Entwicklung, wie es Hansjörg Gadient in seinem Plädoyer für die Rückgabe des privaten Raumes an die Öffentlichkeit erläutert.
Pipilotti irrt. Sie irrt, wenn sie meint, mit Tausenden Quadratmetern Gummigranulat ein Stück lebendiger Innenstadt herstellen zu können. Auch wenn der Belag rot ist, «rot wie die Liebe», so Rist bei der Eröffnung des roten Platzes in St. Gallen im November letzten Jahres. Die «Neue Zürcher Zeitung» beschrieb das Werk als «eine Stadtlounge (…), dekoriert mit Ginkobäumen». Die wenigen Ginkos sind tatsächlich nicht mehr als Dekoration, das Petersiliensträusschen auf der Tomatensauce. Was die Wettbewerbsjury als «gestalterischen Entwurf mit der Qualität einer städtebaulichen Ikone» in anbetungswürdige Höhen zu stemmen versuchte, ist das deutliche Symptom einer Fehlentwicklung. Das englische Wort «lounge» bezeichnet einen Warteraum, eine Hotelhalle oder ein Wohnzimmer, also einen privaten Innenraum, in dem Bewegung zur Ruhe gekommen ist. Mit dem Begriff der Stadt dagegen verbindet sich die Vorstellung von aussen, von Öffentlichkeit und von Aktivität. Was ist also eine Stadtlounge? Eine Contradictio in adjecto, ein schwarzer Schimmel. Die Wortschöpfung der «NZZ» bezeichnet das Dilemma des «roten Platzes» präzise: der Verlust von Öffentlichkeit. Was hier so tut, als wäre es öffentlich, ist ein privater Aussenraum, dessen Gestaltung, Nutzung und Kontrolle der Öffentlichkeit letztlich entzogen ist. Insofern irrt Frau Rist nicht. Sie markiert rot, was privat ist, möbliert und dekoriert es wie eine Hotelhalle oder ein Kinderzimmer und macht so Privatheit sichtbar. Dass sie mit der Farbe Rot auch die klassische Korrekturfarbe wählt, ist vermutlich nicht beabsichtigt. In einer Luftaufnahme der Innenstadt von St. Gallen aber zeigt sich deutlich, was diese «Stadtlounge» ist: ein Fehler im Stadtgeflecht. Längst verwischen sich im städtischen Aussenraum die Grenzen zwischen privat und öffentlich. Ganze Strassenzüge sehen nur noch aus wie öffentlicher Raum, sind aber private Flächen, die nach den Interessen von Einzelnen gestaltet und kontrolliert werden. Dieser schleichende Verlust an Öffentlichkeit führt zu einer Entwertung der Stadt. Wie Hannah Arendt zeigt, ist der «Privatmann» derjenige, der sich eines Privilegs beraubt, wenn er am öffentlichen Leben nicht teilnimmt (privare = berauben), d.h., wenn er sich aus der Verantwortung für das Öffentliche, die Polis, zurückzieht. Im gleichen Sinne ist das private Stück Stadt des Ganzen beraubt, nämlich des Einflusses der Gemeinschaft.
Wer irrt? Eine Stadt, die sich eines grossen Teils ihres Körpers berauben lässt? Eine Wettbewerbsjury, die ihr Heil im spektakulärsten Entwurf sucht, oder die Verfasserin des Entwurfes, die hofft, das tote Glied beleben zu können? Müssige Überlegungen. Fruchtbarer ist der Gedanke an die Zukunft: Was wird, wenn der Neuigkeitswert der Installation verflogen und der Belag schäbig geworden ist, wenn sich kaum noch jemand in die Lounge verirrt? Man wird nach Umbau schreien. Aber der Zwischenraum zwischen den Bankenbauten bedarf einer gründlicheren Klärung, nicht im Sinne einer Abtrennung und sichtbaren Privatisierung des Aussenraumes, sondern im Sinne einer Rückgabe an die Stadt, rechtlich, sozial und funktional. Es muss dauerhafte Gründe geben, einen Stadtteil aufzusuchen. Strassen und Plätze leben durch die Nutzungen an ihren Rändern. Die Erdgeschosse der Bauten müssen Funktionen geöffnet werden, die für möglichst viele Stadtbewohner von Interesse sind: Bibliotheken, Imbisse und Restaurants, Geschäfte und Dienstleistungen aller Art. Strassen und Trottoirs müssen in den Besitz der Stadt übergehen. Erst wenn dies geschieht, hat dieses abgestorbene Stück Stadt eine Chance, wieder aufzuleben. So ist die «Stadtlounge» kein dauerhafter Beitrag an die Stadt, sondern das Zeichen eines Defizits, ein grosser gestalterischer Lärm, der übertönt, dass hier ein Stück Stadt aufgegeben wurde.
Hansjörg Gadient

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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