Zeitschrift

TEC21 2013|03-04
Farbe als Material
TEC21 2013|03-04
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Maritimes Firmament

2007 beauftragten die Vereinten Nationen Spanien mit dem Umbau des Plenarsaals XX im Palais des Nations in Genf. Neben den architektonischen und technischen Neuerungen gehörte zum Bauprojekt auch ein Kunstwerk, den Auftrag dafür erhielt der mallorquinische Künstler Miquel Barceló. Er schuf ein dreidimensionales Deckengemälde in der Kuppel des Saals, dessen universell verständliche Motive eine maritime Höhle evozieren. Die Symbolik der Höhle als Versammlungsort und des Ozeans als sich kontinuierlich wandelndes Element bildet mit der von Barceló angewandten Technik des Farbauftrags eine formale Einheit: Er nutzte die Schwerkraft, um die Farbe in den Saal hineinwachsen zu lassen.

11. Januar 2013 - Tina Cieslik
Der Palais des Nations in Genf ist nach dem Hauptquartier in New York der zweitwichtigste Sitz der Vereinten Nationen. Die Inneneinrichtung und die Kunstwerke sind zu einem grossen Teil von den Mitgliedsländern gespendet. Dabei übernimmt jeweils eine Nation für einen Raum eine Art Patenschaft und ist in der Folge für dessen Ausstattung zuständig. Während das Gebäude mit seiner neoklassizistischen Fassade von aussen streng und schlicht wirkt (zur Baugeschichte vgl. Kasten S. 18), spiegelt das Innere die Vielfalt der aktuell 193 Mitgliedsländer wider.

Bei einem Besuch des spanischen Königspaars im Jahr 2005 entstand die Idee, die Kuppel des 1200 m² grossen Plenarsaals XX (die Konferenzsäle sind durchnummeriert) im Gebäudeteil E, in dem dreimal jährlich der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen tagt[1], mit einem Kunstwerk aufzuwerten. Das von italienischen Sportwagen inspirierte Mobiliar des auch als «Salle Suisse» bekannten Raums – der Name geht auf eine 4-Millionen-Franken-Spende der Eidgenossenschaft von 1970 zurück – stammte von der französischen Architektin Charlotte Perriand und entsprach dem damaligen Standard der New Yorker Konferenzsäle. Während die Planungen für das Kunstwerk vorangingen, entschlossen sich die Vereinten Nationen, den Saal zusätzlich einer Totalrenovierung zu unterziehen. Den Auftrag für die Erneuerung von technischer Ausstattung, Klimatisierung und Innenaustattung erhielt 2007 mit Bouquin Stencek jenes Genfer Ingenieurbüro, das bereits für die Erstellung des Gebäudes Anfang der 1970er-Jahre zuständig gewesen war. Für die Architektur zeichnetet das Architekturbüro Spitsas & Zanghi aus Carouge sowie der Mallorquiner Architekt Antoní Esteva verantwortlich. Für das Kunstwerk hielt die als Bauherrschaft fungierende Stiftung ONUART einen eingeladenen Wettbewerb unter vier spanischen Künstlern ab.

Kunst mit Witz und Lebensfreude

Den Wettbewerb konnte Miquel Barceló (Kasten S. 18) für sich entscheiden. Barceló hat einen ursprünglichen Zugang zur Kunst, seine Werke zeichnen sich durch eine Vorliebe für die Elemente Wasser, Feuer und Erde und durch die Verwendung von Naturmotiven wie Pflanzen, Wellen oder Höhlen aus. Er arbeitet oft mit Keramik und natürlichen Pigmenten und schafft Gemälde, Skulpturen und räumliche Interventionen. Im März 2007, zur gleichen Zeit, als Barceló mit der Gestaltung des Saals beauftragt wurde, wurde eines seiner kontroversesten Werke eingeweiht, eine 300 m² grosse, in einer Mischtechnik aus Keramik und Malerei realisierte Arbeit in der Kathedrale von Palma de Mallorca. Sie stellt die biblische Geschichte der Speisung der Fünftausend auf der Hochzeit zu Kana dar und löste wegen der sinnlichen, überschäumenden Darstellung von Fischen, Amphoren, Gischt, Brotlaiben und Schädeln und der Auftragserteilung an den Atheisten Barceló sowohl Begeisterung als auch Empörung aus.

Universelles Palaver

Auch bei der Gestaltung des Plenarsaals arbeitete Barceló mit Motiven aus der Natur: Für den Raum, «vergleichbar mit dem Inneren einer Muschel, aber so gross wie eine Stierkampfarena»[2], entwarf er in der Kuppel ein Deckenrelief in Form einer maritimen Höhle. Barceló versteht die Höhle als Ort der Versammlung, als Sinnbild für die Agora oder den grossen afrikanischen Affenbrotbaum, unter dem man sich zum Palaver trifft. Sie steht für den Dialog der verschiedenen Kulturen, mit Bildern, die allen Kulturen vertraut sind – Stalaktiten, Brandungswellen, Gischt und weisse Schaumkronen. Den Plan, die raumüberspannende Kuppel als Ort für eine künstlerische Intervention zu nutzen, fasste bereits Anfang der 1970er-Jahre beim Bau des Saals der russisch-französische Maler Marc Chagall (1887–1985). Wegen der schleppenden Projektierung und des fortgeschrittenen Alters des Künstlers – er war damals schon 86-jährig – gelangte er aber nie zur Realisierung.

Die Idee für den Ozean aus Farben sei ihm in der Wüste gekommen, erklärte Barceló bei der Eröffnung des Saals im November 2008: «Es war an einem heissen Tag, mitten in der Sahelwüste. Ich erinnere mich lebhaft an eine Fata Morgana: das Bild einer Welt, die dem Himmel entgegentropft.»[3] Dieses Motiv passt gut zu zwei für den Künstler typischen Techniken: Er nutzt die Schwerkraft als Maltechnik und arbeitet mit Volumen an der Schnittstelle zwischen Malerei und Skulptur.

Gegen die Schwerkraft anmalen

Die Umsetzung begann im Mai 2007. Nachdem die Innenausstattung des Saals entfernt war, liefen die Vorbereitungsarbeiten am Tragwerk an. Da die ursprüngliche Deckenkonstruktion Kuppel (Durchmesser 37 m) die Lasten des Kunstwerks nicht tragen konnte, entfernten die Arbeiter zunächst die bestehende Decke, verstärkten die Kuppel mit einer Stahlkonstruktion und erstellten eine neue Decke aus 737 hochfesten Aluminiumwabenkernplatten, die auch im Flugzeugbau eingesetzt werden. Anschliessend bauten sie eine Plattform unter der Kuppel, die es dem Künstler und seiner 16- bis 21-köpfigen Equipe – Restauratoren und Kunststudenten aus Kolumbien, Spanien, Frankreich und der Schweiz unter der Leitung von Eudald Guillamet, einem Experten für die Restauration von Höhlenmalereien – erlaubten, näher an der Kuppel zu arbeiten. Im September 2007 startete die Arbeit am eigentlichen Werk. Dafür wurde die Unterkonstruktion zunächst mit einer Polyamidfolie ausgekleidet, auf die in zwei Schichten eine weisse Grundierung aufgetragen wurde – die «Leinwand für das Gemälde» (Abb. 03). Dann begannen die Arbeiten an den Wellen, den Höhlenformen und den Stalaktiten. Für die Wellen und Höhlen konnten die gleichen Platten wie für die Unterkonstruktion verwendet werden. Bei den Stalaktiten war es schwieriger: Um das Material mit der optimalen Konsistenz zu finden, arbeitete Barceló mit mehreren Materiallabors zusammen. Es dauerte bis Februar 2008, bis die richtige Epoxidharzmischung gefunden war, um Stalaktiten in verschiedenen Grössen formen zu können. Die Mischung enthielt neben Epoxidharz verschiedene Mikrosilikate und Polyäthylenfasern. Insgesamt brachten die Arbeiter rund 6000 kg an Material – verformte Aluminiumwabenkernplatten für die Höhlen und Wellen, Epoxidharz für die Stalaktiten – an der Decke an. Aus Sicherheitsgründen verschraubten sie die grösseren der ausgehärteten Stalaktiten zusätzlich mit der Unterkonstruktion.

Etwa gleichzeitig wurde bekannt, dass Spanien zur Finanzierung des 6.5 Millionen Euro teuren Kunstwerks rund 500 000 Euro aus seinem Entwicklungshilfefonds zweckentfremdet hatte. Wegen der Probleme mit dem Material und der kontroversen Finanzierung stand das Projekt mehrfach kurz vor dem Scheitern.

Material und Farben aus der ganzen Welt

Die Stalaktiten wurden hauptsächlich von Hand geformt, es kamen aber auch unkonventionelle Werkzeuge wie ein Gasdruckmarkierer aus dem Paintball-Sport zum Einsatz, mit dem der Künstler Portionen von Epoxidharz an die Decke schoss, die sich durch die Schwerkraft selber zu Stalaktiten formten (Abb. 06, Phase 1). Um das Material zu härten, erhielt es eine Beschichtung aus Chromoxid (Abb. 06, Phase 2), anschliessend musste die Decke mehrere Wochen lang trocknen und aushärten. Anfang Mai 2008 begann die Arbeit mit der Farbe, insgesamt 8000 kg. Barceló wählte dafür verschiedene Pigmente aus der ganzen Welt, darunter Titanweiss, Elfenbeinschwarz, Titanorange, Bristolgelb, Wismutgelb, Nickeltitangelb, Ultramarinblau, Ultramarinblau hell, Kobaltviolett, Melser Grau und Cyprische Grüne Erde. Die Pigmente mischte er mit Polyvinylacetat, Mikrosilikaten, Zellulosefasern und Wasser, der Farbauftrag erfolgte mithilfe von Spraywerkzeugen und von mit Farbe getränkten Besen.

Nachdem diese ersten, sehr bunten Farbschichten (Abb. 06, Phase 3   4) getrocknet waren, brachte Barceló eine zweite Farbschicht auf. Im Gegensatz zur ersten Lage bestand die zweite aus wenigen Farbtönen in Grau, Blau und Grün. Diese von ihm «Mondfarbe» genannte Farben stammten aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Sie wurden in einem Werk in Lausanne vorgemischt und dann in 1000-Liter-Behältern auf das Dach des Gebäudes transportiert. Im Unterschied zum vorherigen Farbauftrag, der aussieht, als sei eine Farbbombe explodiert, wurde die graublaugrüne Schicht nur aus einer Richtung auf die Kuppel gesprüht. Dieser Farbauftrag von der Seite, ein Markenzeichen von Barceló, hat einen grossen Einfluss darauf, wie das Werk wahrgenommen wird: Nur eine Seite der Kuppel war der Deckschicht ausgesetzt, auf der anderen blieb die gesamte Farbpalette erhalten. Auf diese Weise hat die Kuppel zwei Gesichter, abhängig vom Standpunkt, an dem sich der Betrachter befindet. Auf den Auftrag der Deckschicht folgten die letzten Feinarbeiten von Hand. Mit einem Besen und weisser Farbe verlieh Barceló den Wellen Schaumkronen, er wollte die Brandung, die Bewegung und die Gischt in einer Höhle am Meer zeigen. Nach 13 Monaten waren die Arbeiten an der Kuppel am 28. Mai 2008 abgeschlossen. Die inoffizielle Übergabe an die Vereinten Nationen folgte am 10. Juni. Am 18. November 2008 wurde der Plenarsaal, der heute «Saal der Menschenrechte und der Allianzen der Zivilisationen» heisst, offiziell eröffnet.

Vielfalt – oben und unten

Das Deckenrelief ist so gross, dass es von keinem Standpunkt aus möglich ist, es in seiner Gesamtheit zu erfassen. Man muss sich im Raum bewegen, verschiedene Standpunkte einnehmen – eine schöne Metapher für die Vielzahl an Meinungen und Hintergründen, die in den UN vertreten sind. Die Sinnlichkeit, die das Werk ausstrahlt und die vor allem auch in der fotografischen Dokumentation zu spüren ist – man meint die Farben zu riechen, die Schmatzgeräusche beim Auftrag zu hören –, steht in starkem Gegensatz zur eher nüchternen Arbeitsumgebung des ganzen Gebäudes und des restlichen Saals. Es scheint, als prallten zwei Welten aufeinander: die seriöse, standardisierte der Innenausstattung und des Mobiliars und die organische, ungezügelte des Kunstwerks. Die Welt in Beige und das bunte Universum sind nicht verbunden, bedingen sich aber gegenseitig: Zwar ist das Kunstwerk wild, die Brandung darf tosen, aber nur in dem Rahmen, der von der räumlichen Begrenzung der Kuppel vorgegeben ist. Diese Begrenzung nimmt dem Werk das unkontrolliert Wuchernde, das Unheimliche – ein passendes Bild für diesen Ort, an dem sich verschiedene Kulturen, Religionen und Nationalitäten treffen, um ihre Unterschiede hintan zu stellen und Gemeinsamkeiten zu finden.


Anmerkungen:
[01] Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (1946–2006: Menschenrechtskommission) hat 47 Mitglieder (Afrika und Asien: jeweils 13 Sitze; Lateinamerika und Karibik: 8 Sitze; Osteuropa: 6 Sitze; Westeuropa und die anderen Staaten: 7 Sitze). Der Rat tritt dreimal pro Jahr für mehrere Wochen zusammen. Dabei wird jeder Staat alle vier Jahre einer «Universellen Menschenrechtsprüfung» (UPR) unterzogen. Der Menschenrechtsrat bewertet den Entwicklungsstand der Menschenrechte im geprüft en Staat und macht Verbesserungsvorschläge. Die nächste Session findet vom 25. Februar bis 22. März 2013 statt und kann via Webcast auf der Website der Vereinten Nationen verfolgt werden.
[02] ONUART Fundación (Hrsg.),«El mar de Barceló en la Sala de los Derechos Humanos y de la Alianza de Civilizaciones de la ONU en Ginebra», Peninsula, Barcelona 2008, S. 33.
[03] www.miquelbarcelo.com/documentos/Barcelo_125b1.pdf, Zugriff 25. September 2012.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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