Zeitschrift

TEC21 2013|13-14
Energiezentrale Bern
TEC21 2013|13-14
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Gesellschaftlicher Relevanz eine Form geben»

Die Architekten Marco Graber und Thomas Pulver erläutern ihre Strategie beim Entwurf der Energiezentrale Forsthaus Bern. Warum erhielt dieser Infrastrukturbau einen monumentalen Ausdruck? Welche Aspekte bestimmten die Form, die Materialisierung und die Konstruktion? Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern und den Verfahrensingenieuren?

TEC21: Dass ein Architekturwettbewerb für eine Kehrichtverwertungsanlage (KVA) veranstaltet wird, ist ungewöhnlich. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Marco Graber (M.G.): Selbst in der Schweiz, einem Land mit hochstehender Baukultur, werden die wenigsten Infrastrukturbauten einem architektonischen Anspruch gerecht. Das ist bedauerlich, denn sie prägen durch ihre Anzahl und Grösse unsere gebaute Umwelt und stehen für Themen wie Umweltschutz oder Energieproduktion. Wir sind überzeugt, dass bei der Planung solcher Bauten die Kompetenz der Architekturschaffenden stärker ins Spiel kommen sollte. Beim Wettbewerb haben uns die ungewöhnliche, sehr technische Aufgabe und der spezielle Ort interessiert: Der Bauplatz liegt in einem Waldstück – einem Heiligtum in der Schweiz! – am Stadtrand von Bern, der Stadt, in der wir beide aufgewachsen sind. Sicher war die Lage im Wald auch der Grund für das gewählte Vergabeverfahren.

Thomas Pulver (T.P.): Es gehört zu unserem Selbstverständnis als Architekten, der gesellschaftlichen Relevanz einer Aufgabe eine angemessene Form zu verleihen. Der Bauplatz im Wald war aussergewöhnlich – man hatte die Freiheit, Grösse und Form der Parzelle nach Bedarf festzulegen und zu roden, eine komplette Umkehr üblicher Vorgaben. Zudem bildet der Wald eine Art Scharnier zwischen Stadt und Autobahn. Bereits der Umfang des Programms und die Dimensionen einzelner Räume liessen die energetische Leistung des Kraftwerks erahnen. Uns wurde rasch klar, dass es ein grosses Objekt geben würde, das wir der Bedeutung entsprechend monumentalisieren und zur Landmarke erhöhen wollten. Der Bau hat mit 300 m Länge etwas Endloses. Aber seine extremen Proportionen haben mit dem Ort zu tun, der schmalen Parzelle und der Massstäblichkeit der Autobahn. Es war den Wettbewerbsteilnehmern freigestellt, den Waldrand zu «ritzen». Wir beschlossen jedoch, ihn bestehen zu lassen und mit den zwei unterschiedlichen Seiten des langen Gebäudes und der Art, wie sie hinter den Bäumen aufscheinen sollten, zu spielen.

M.G.: Über diese Energiezentrale dringt das komplexe und weitläufige System von unterir dischen Werkleitungen überhaupt an die Oberfläche. Der Massstab unseres Gebäudes verweist auf die Dimension dieses Systems, das die urbane Landschaft von Bern durchzieht.

TEC21: Es gibt wenige Bauten, die den Themen Entsorgung und Energieproduktion durch Kehrichtverbrennung einen repräsentativen und architektonisch wirksamen Ausdruck ver leihen. Auf ein bestehendes Formenvokabular konnten Sie nicht zurückgreifen, auch wenn einzelne Elemente wie der monumentale Kamin vertraut wirken. Wie sind Sie vorgegangen?

T.P.: Wir dachten an alle diese prägnanten Infrastrukturbauten in der Landschaft, kräftige Zeichen von hoher Autonomie und grossartiger ikonografischer Wirkung. Insbesondere dachten wir an Kraftwerksbauten wie Birsfelden, Landmarken wie den Spredaturm in Burgdorf oder an die Wucht der berühmten Getreidespeicher am Chicago River (Abb. 07–09). Jedes dieser Beispiele hat einen hohen Repräsentationsanspruch und stellt für sich einen Typus dar. Eine KVA war allerdings nicht darunter – die bekannten Beispiele überzeugten uns nicht. Wir suchten nach einer Strategie, die Grösse des Gebäudes zu vermitteln. Wie kann ein 300 m langes Haus aussehen? Rafael Moneo hat sein ähnlich langes Kaufhausprojekt an der Avinguda Diagonal in Barcelona mit einem abgelegten Rockefeller Centre verglichen. Auch wenn wir sein Bild nicht direkt verwenden konnten, wollten wir wie er den Baukörper staffeln und gliedern, ohne ihm die Kraft zu nehmen. Daraus hat sich ein Prozess der Formfindung entwickelt. Das Bild des Frachtschiffs hat uns geholfen, die Fragen der Massstäblichkeit zu klären, ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen.

M.G.: Wir entwerfen nicht analog. Referenzen sind für uns ein Hilfsmittel, um gewisse Vorstellungen zu konkretisieren, zu übersetzen und präzise auszuformulieren. Grundsätzlich versuchen wir, aus den spezifischen kontextuellen und programmatischen Rahmenbedingungen eigene, signifikante Räume zu entwickeln und den Gebäuden einen synthetisierenden Gestus zu verleihen, der all das zum Ausdruck bringt, was das Projekt enthält. Diese Qualitäten versuchen wir jeweils zu verstärken und zu radikalisieren.

TEC21: Die vertikalen Rippen und der aufragende Kamin erinnern auch an eine Kathedrale.

M.G.: In Italo Calvinos «Unsichtbaren Städten» wird eine Stadt beschrieben, die von der einen Seite anders aussieht als von der anderen. Vom Meer her gesehen gleicht sie zwei Kamelbuckeln, von der Wüste her einem Schiff, das vor Anker liegt. Uns gefällt die Vorstellung, dass unsere Energiezentrale von der Stadt aus betrachtet ein Schiff evoziert und von der Autobahn aus eine Kathedrale.

T.P.: Früher waren es die Kirchtürme, die als Zeichen der Kirche und der Obrigkeit den Reisenden die Stadt weitherum ankündigten und die urbanen Merkpunkte einer spärlich besiedelten Landschaft bildeten. Heute sind es die Infrastruktur bauten, die als bauliche Artikulationen verborgener technischer Netzwerke Zeichen in unsere verstädterte Landschaft setzen. In einem Grössenvergleich überlagerten wir die EZF mit dem Berner Münster, das man von der EZF aus sieht (Abb. 06).

TEC21: Beim Wettbewerb war nur ein grobes Raumprogramm bekannt, das bis in die Bauphase hinein verändert wurde. Wie sind Sie damit umgegangen?

T.P.: Wir haben mit einem klassischen Re-engineering begonnen und verschiedene bestehende Anlagen «analytisch zerlegt»: Welche Raumgruppen gehören zwingend zusammen, welche sind frei positionierbar? Bei gewöhnlichen KVA werden Prozessgebäude (Verbrennung) und Fernwärmezentrale parallel nebeneinander gestellt; im Gegensatz dazu haben wir uns für eine lineare Anordnung entschieden, was nahezu ohne energetische Verluste möglich ist. Gebaut wurden zwei parallele Linien: zum einen die Kehrichtverbrennung, zum anderen – ebenfalls hintereinander – ein Holzheiz- und ein Gas-und-Dampf-Kraftwerk. Das verdoppelte nicht nur die Gebäudelänge, auch in Bezug auf eine spätere Erweiterung bietet es Vorteile: Man könnte problemlos eine dritte Verbrennungslinie parallel dazu schalten.

M.G.: Ein weiterer Vorteil dieses linearen Konzepts ist, dass wir im Planungsprozess äusserst flexibel auf Programmveränderungen reagieren konnten. Das Bild des Frachtschiffs hat uns auch hier inspiriert: Das Sockelgeschoss aus Ortbeton greift ins Erdreich ein und bildet gleichsam den Rumpf, auf den die technischen Anlagen wie Container gestapelt werden können. Die wuchtige Aufwerfung des Bunkergebäudes mit der Steuerzentrale, die ähnlich einer Kommandobrücke den Blick freigibt auf die Zu- und Wegfahrt beim Waaghaus, und die filigrane Passerelle, die 30 m weit ausgreift und zum Eingang hochführt, bilden jeweils skulptural modulierte Abschlüsse dieser gegossenen Sockelstruktur. Dazwischen stapeln sich die Hallen, deren Fassaden aus kleinteiligeren, abmontierbaren, vorfabrizierten Betonelementen zusammengesetzt sind. Dieses modulare Fassadenprinzip hat sich bereits in der Entwurfsphase als sehr flexibel erwiesen: Vom Wettbewerb zur Ausführung hat sich der Bau von 260 auf 308 m verlängert, dies entspricht zwölf 4-m-Modulen. Bei einer kompakten Anordnung mit Abhängigkeiten zwischen Länge, Höhe und Breite wären wir wohl weniger flexibel gewesen. Beim fertigen Bau erlaubt die modulare Fassade die wichtige Zugänglichkeit zum Innern. Alles muss durch Fahrzeuge und Kräne von aussen erreichbar sein, der Ein- und Ausbau der technischen Anlagen erfolgt seitlich. Auch diesbezüglich ist die Linearität mit der grossen Abwicklung vorteilhaft, weil alle Anlagen nahe an der Fassade liegen.

T.P.: Von uns stammte das Grundkonzept, also die Linearität als Abbild der inneren Pro zesse, das plastisch-volumetrische Zusammenspiel von vertikalen und horizontalen Elementen und letztlich die entwerferische Strategie im Umgang mit der Grossmassstäblichkeit der Aufgabe. Die konkrete Formfindung, das Ausreizen der technischen Möglichkeiten des Betons, die konstruktive Umsetzung in Ortbeton und vorfabrizierten, modularen Elementen geschah dann im intensiven und fruchtbaren Dialog zwischen den Disziplinen – so, wie es bei so komplexen Bauten immer der Fall sein sollte. Exemplarisch für dieses Vorgehen war die zusammen mit Carlo Galmarini getroffene Materialwahl. Der Entscheid für den Baustoff Beton kam aus unserer gemeinsamen Affinität für alle Arten von Infrastrukturbauten, Brücken und Staudämmen, die ihre Kraft aus dem Material entwickeln. Die Schweiz ist ein Betonland, die Grundbestandteile sind hier vorhanden und Betonbauten haben Tradition. Zwingend für Beton sprach zudem der Umstand, dass der Kehrichtbunker im Grundwasser zu liegen kam. Wir mussten also eine dichte Wanne bauen, um Verschmutzungen zu vermeiden. Im Wettbewerb hatten wir zunächst eine reine Ortbetonstruktur. Bei der Über arbeitung wurde uns bewusst, dass diese mit der Vorgabe, jederzeit überall in den Innenraum gelangen zu können, nicht vereinbar war. Nachträgliche Öffnungen hätten unserer Vorstellung von Präzision und der angestrebten hohen Ökonomie der Konstruktion widersprochen. Im Gespräch mit den Verfahrensingenieuren schliesslich definierten wir den Übergang zwischen dem fugenlos gegossenen Sockel und dem darüber liegenden, modularen Aufbau.

M.G.: Die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauingenieur war intensiv und von gegenseitigem Interesse geprägt. Dies hat sich nicht nur bei der Gebäudehülle manifestiert, sondern bei sämtlichen strukturellen Elementen, zumal bei diesem Projekt das Tragwerk ja nicht gedämmt und eingepackt werden musste. Das beharrliche Bestreben von Carlo Galmarini, die Strukturen ökonomisch und effizient zu dimensionieren, deckte sich mit unserem Interesse, das Material Beton sehr differenziert auszuformulieren und ihm sogar Leichtigkeit zu verleihen. Einzelne Platten wie beispielsweise beim Dach der Abladehalle konnten extrem ausgedünnt werden, ohne dabei ihre aussteifende Wirkung im Verbund innerhalb des Faltwerks zu verlieren. Wir wollten eine dramatische Wirkung erzielen. Durch den Massstab der Anlage entsteht eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Wandscheiben mit einer normalen Dicke von 20 oder 30 cm wirken dünn und leicht wie Karton, doch aus diesen dünnen Scheiben entstehen massiv wirkende Volumen, die ihrerseits wiederum über dem Boden zu schweben scheinen. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung von Leichtigkeit und Schwere konnten wir erst dank dem Massstab der Anlage zu einem wichtigen Thema entwickeln.

TEC21: Wie bei vielen Ihrer Projekte ist die Wegführung ein zentrales Entwurfsthema.

T.P.: Uns wurde bereits früh im Wettbewerb klar, dass die Öffentlichkeit ein hohes Interesse an der Anlage haben würde und einen angemessenen Zugang dazu bräuchte, auch wenn diesem Aspekt im Programm keine Bedeutung zugemessen war. Die KVA Thun zählte 2005 bereits 3500 Besucher pro Jahr – für uns Indiz genug, die Wegführung von Personal und Besuchern zu einem tragenden Entwurfsthema zu machen. Neben den Funktionen der technischen Räume stand deshalb die Frage nach den Erschliessungsräumen im Vordergrund, die für uns immer auch Raumerschliessung sind: Sie machen den Raum durch Bewegung erlebbar. Die Wegführung ist identitätsbildend. Die Fassade zur Autobahn ist ja primär konzeptuell definiert: Prägend ist der weithin sichtbare Kamin, alle anderen Bauteile liegen sozusagen im Wald verborgen und könnten nach Bedarf geändert werden, bis hin zum Hinzufügen einer weiteren Verbrennungslinie. Anders die Stadtfassade und die dahinter verborgene Raumfolge, die sorgfältig inszeniert sind: Der Aufgang auf die Passerelle, der Eingang unter dem kreisrunden Oberlicht, der 300 m lange, verglaste Korridor mit den Bullaugen in die Anlage – die in einem Art Stationenweg sämtlichen Schritten des Prozesses folgen –, danach der Übergang in die Treppenanlage mit dem dramatischen Aufstieg unter zenitalem Licht und die Treppe in die Steuerzentrale. Den krönenden Abschluss bildet die Liftfahrt auf die Besucherplattform auf dem Kamin. Dies sind zentrale Elemente des Entwurfs. Der Korridor zeichnet sich nachts deutlich ab, je nach Lichtsituation als gelbes Band oder als Reihe leuchtender Bullaugen. Er bildet die Schnittstelle zwischen innen und aussen, einen surrealen Raum zwischen Technik und Wald.

TEC21: Dieser Besuchergang hält wie ein Geschenkband das pragmatisch gestapelte Paket der industriellen Funktionen zusammen. Als schmale Linie betont er die Dimensionen des Gebäudes und seine Horizontalität im Gegensatz zu den Baumstämmen.

M.G.: Die Perspektive der Besucherinnen und Besucher hat schon in der frühesten Konzeptphase im Wettbewerb den Entwurf geprägt. So entstand die Idee des öffentlichen Korridors, dessen Linearität ein Abbild der inneren Abläufe ist. Umgekehrt hat der Anspruch, die Abläufe für Laien verständlich zu machen, das Konzept der linearen Anordnung der Funk tionen gestärkt und zur logischen Abfolge von Anlieferung, Kehrichtbunker, Verbrennung, Reinigung der Rauchgase und Energieproduktion geführt. Szenografische Überlegungen haben die Formfindung ebenso bestimmt wie die technischen und funktionalen Anforderungen. Der didaktische Aufbau ist eine gebaute Einladung an die Öffentlichkeit. Die Bauherrschaft war von Anfang an von dieser Haltung eingenommen; sie hat das Konzept mitgetragen und weiterentwickelt. Mit dem Besucherzentrum hat sie ein Element ins Programm aufgenommen, das die Öffentlichkeitswirkung noch zusätzlich auflädt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: