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db deutsche bauzeitung 07-08|2013
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db deutsche bauzeitung 07-08|2013

Die Macht der Zurückhaltung

Mehrfamilienhaus »Flottwell Zwei« in Berlin

Formale Reduktion und Zurückhaltung bedeuten nicht zwangsläufig Unscheinbarkeit. Das zeigt das Büro Heide & von Beckerath mit einem Mehrfamilienhaus in der Berliner Flottwellstraße. Der Neubau steht in der Tradition der Moderne und ist gleichwohl auf der Höhe der Zeit.

1. Juli 2013 - Mathias Remmele
Mit größter Selbstverständlichkeit besetzt dieses Haus seinen Ort. Gelassen, in sich ruhend, gerade so, als wisse es um seine besonderen Qualitäten und bräuchte sie eben deshalb nicht in die Welt hinausposaunen. Als Neubau erkenntlich und in seiner Erscheinung entschieden heutig, steht das Gebäude mit seiner klar gegliederten und formal bewusst zurückhaltenden Fassade unverkennbar in der Tradition der Moderne. Mies van der Rohe, dessen Büro sich einst um die Ecke befand, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit seine Freude daran gehabt: An der farblich akzentuierten vertikalen Zweiteilung dieses Hauses, an der stockwerkshohen Verglasung der Wohnungen, an den hellgrauen Vorhängen, die bei Bedarf für Beschattung und Sichtschutz sorgen, an den die gesamte Wohnungsbreite einnehmenden Balkonen, an deren denkbar einfachen, wunderbar filigranen Metallbrüstungen und überhaupt an dem nüchtern-sachlichen und doch kraftvollen Auftritt des vergleichsweise schmalen Gebäudes.

Ihm wären mit Sicherheit auch die Stufen aufgefallen, mit denen sich die nicht sonderlich weit auskragenden Balkone zum Straßenraum abtreppen (linke Hausseite) bzw. ansteigen (rechte Hausseite). Ob Mies aus diesen ungewöhnlichen »Split-Level«-Balkonen auch auf die innere Struktur des Hauses geschlossen hätte, wo das Motiv eine zentrale Rolle spielt, dürfen wir dahingestellt sein lassen. Wir begnügen uns vorerst mit der Feststellung, dass einem leidlich sensiblen, aufmerksamen Beobachter spätestens bei diesem gestalterischen Detail auffallen wird, dass es mit diesem Wohnhaus, bei aller demonstrativ zur Schau getragenen Normalität womöglich doch etwas Besonderes auf sich hat. Zur Wahrnehmung seiner überdurchschnittlichen gestalterischen Qualität würde im Zweifelsfall auch ein Blick auf die fast zeitgleich entstandene Nachbarbebauung genügen.

Abseitig und zentral

Die Flottwellstraße, in der das Haus steht, gehört nicht zu den prominenten Adressen Berlins und darf dennoch zu den sehr guten innerstädtischen Wohnlagen gezählt werden. In fußläufiger Entfernung zum Potsdamer Platz und zum Kulturforum lebt man hier ganz nah an den Verlockungen des Großstadttrubels und doch weit genug von seinen Zumutungen entfernt. Südlich des Landwehrkanals und parallel zur (längst wieder hippen) Potsdamer Straße gelegen, gehörte die Straße jahrzehntelang zu jenen für Berlin typischen, halb vergessenen Nachkriegsbrachen, die ungeachtet ihrer Zentrumsnähe als völlig abseitig wahrgenommen wurden. Das hat sich erst in jüngster Vergangenheit geändert und mag auch mit der Fertigstellung des Parks am Gleisdreieck (s. db 3/2012, S. 25) in unmittelbarer Nachbarschaft zusammenhängen. Denn die auf dem ehemaligen Areal des Anhalter- und Potsdamer Güterbahnhofs realisierte, kürzlich eröffnete Grünanlage hat wesentlich dazu beigetragen, das Interesse von Planern und Investoren auf das Quartier und seine Qualitäten zu lenken.

Für den Neubau der Flottwellstraße Nr. 2, der sich übrigens ohne Federlesen an die städtebauliche Vorgabe der Blockrandbebauung hält, zeichnet das in Berlin ansässige Büro Heide & von Beckerath verantwortlich – und das in zweifacher Hinsicht. »Flottwell Zwei«, wie das Projekt intern getauft wurde, entstand zwar offiziell im Rahmen einer Baugemeinschaft. Tatsächlich waren bei diesem Wohnhaus die Architekten über ihre planerische Leistungen hinaus auch als Projektentwickler tätig. Wie genau es dabei um die finanziellen bzw. wirtschaftlichen Dinge bestellt war, haben wir nicht eruiert und es tut hier auch weiter nichts zur Sache. Bemerkenswert aber bleibt, dass die Architekten selbst die nur 418 m² große Parzelle entdeckten, ihr Potenzial erkannten und das Grundstück in einem Bieterverfahren vom Land Berlin erstehen konnten; dass sie danach ein außergewöhnliches und ambitioniertes Konzept für die Wohnungen entwickelten und auf eigenes Risiko umsetzten. Schließlich, dass sie damit offensichtlich die Bedürfnisse einer genügend großen Nutzer- bzw. Käufergruppe trafen und das Projekt zumindest mit so großem Erfolg zu Ende führen konnten, dass sie nun an weiteren derartigen Vorhaben arbeiten.

Kompakt und flexibel

Was das schlichte Äußere des Hauses auch dem aufmerksamsten Betrachter nicht enthüllt, ja was es mit seiner scheinbaren Normalität fast schon verschleiert, ist sein komplexes, erstaunlich variantenreiches Innenleben. Denn anders als es die Fassade suggeriert, fallen die dahinter liegenden Wohnungen in Größe und Zuschnitt unterschiedlich aus. Dazu trägt der bereits erwähnte Split-Level wesentlich bei, denn er erlaubt es, die zueinander versetzten Wohnebenen in unterschiedlicher Weise miteinander zu verknüpfen. So entwickelten die Architekten für das Haus ursprünglich nicht weniger als acht Wohnungstypen. Die Palette reichte vom Ein-Zimmer-Apartment mit gerade einmal 32 m² bis hin zu einer sich über drei Geschosse bzw. sechs Ebenen erstreckenden Wohneinheit mit einer Grundfläche von 273 m². Realisiert wurden am Ende aber nur fünf Varianten. Die größten Wohnungen weisen dabei eine Fläche von 145 m² auf, die sich über drei Ebenen verteilen. Das fertige Haus besteht aus 12 getrennten Wohneinheiten. Hinzu kommt ein gewerblich genutztes Studio im EG.

Als zentrale Zielsetzung der Grundrissentwicklung benennen die Architekten die Kombination von Kompaktheit und Flexibilität. Die Wohnungen wurden zu diesem Zweck in drei Bereiche eingeteilt, die grundsätzlich in einem räumlich offenen Verhältnis zueinander stehen, bei Bedarf aber durch mehrteilige, raumhohe Schiebetüren voneinander getrennt werden können. Der Bereich, der nach Osten, zur Straße hin liegt und dort vom Balkon begrenzt wird, dient idealerweise dem gemeinschaftlichen Wohnen. In der Mitte der Grundrisse, befindet sich die offen konzipierte Küche und das Badezimmer. Der nach Westen und damit zum ruhigen Hofraum hin orientierte Bereich schließlich nimmt die Schlafräume auf, die sich anstelle eines vollwertigen Balkons mit einem schmalen Austritt begnügen müssen. Geschosshohe Fenster auch an der rückwärtigen Fassade garantieren trotz einer Gebäudetiefe von 16 m dabei eine gute natürliche Belichtung auch des mittleren Bereichs.

Zur optionalen Ausstattung des Hauses gehören modular konzipierte Einbauküchen und Einbau-Wandschränke. In ihrer geradlinigen Schlichtheit und formalen Zurückhaltung korrespondieren sie glücklich mit dem äußeren Erscheinungsbild des Gebäudes. Und außen wie innen sind es die Details – bei den Einbaumöbeln etwa die Griffeinkerbung der Schranktüren – an denen sich die Qualität der Gestaltung manifestiert.

Zum Understatement und zur formalen Zurückhaltung, die dieses Wohnbauprojekt kennzeichnen, gehört auch das Farbkonzept. Von den Holzböden und hölzernen Einbauten abgesehen, beschränkt sich die Farbigkeit auf Schwarz, Weiß und diverse warme Grautöne. Das erscheint geschmackvoll und in sich schlüssig, wirkt aber, zumindest auf den Fotografien der noch leeren Wohnungen, bisweilen auch reichlich kühl. Energetisch beschreitet das Projekt keine neuen Wege. Durch den Anschluss an die Fernwärmeversorgung, den kompakten Baukörper und eine gute Dämmung der Fassade (verputztes WDVS und Dreifach-Verglasungen) konnten die Anforderungen der seit 2009 gültigen Energieeinsparverordnung um 30 % unterschritten werden. Aufgrund der aussteifenden Wirkung der gestaffelten Geschossdecken konnten überdies einige der Wände der Mischkonstruktion (Stahlbeton und Mauerwerk) ressourcenschonend schlank dimensioniert werden. Das ist nach Ansicht der Architekten ökologisch befriedigend und für die Bewohner ein handfester ökonomischer Vorteil. Es ist relativ offensichtlich und legitim, dass der Fokus des Projekts nicht auf diesem Feld lag.

In Zeiten wie heute, da der Wohnungsbau in der Berliner Innenstadt entweder durch billige Investoren-Architektur oder durch meist schales Luxusgehabe in den verschiedensten formalen Spielarten geprägt wird, ist ein Projekt wie Flottwell Zwei eine wohltuende Ausnahme. Es wäre gut für die Stadt, wenn der hier zum Ausdruck kommende Geist der gestalterischen Zurückhaltung und der entspannten Selbstverständlichkeit Schule machen würde.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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