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TEC21 2013|39
Stücheli weiterbauen
TEC21 2013|39
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Dilemma am Mythenquai

Bedeutende Bauten der 1950er- und 1960er-Jahre stehen heute vor der Weihe zum Baudenkmal – oder vor dem Abbruch. Werner Stücheli hat wie kaum ein anderer Architekt Zürichs Gesicht ­geprägt. Sein 1969 ­fertiggestelltes Swiss-Re-Gebäude wird derzeit durch einen Neubau von ­Diener & Diener Architekten ersetzt. Der Fall zeigt exemplarisch, wo die Grenzen in der Bewahrung der architektonischen Nachkriegsmoderne liegen und wie schwierig es sich aus Sicht der Denkmalpflege gestaltet, diese Epoche zu inventarisieren.

20. September 2013 - Michael Hanak
Der Umgang mit Bauten der 1950er- bis 1980er-Jahre steht heute zur Diskussion. Viele von ihnen müssen altersbedingt erneuert oder ersetzt werden. Damit geraten die Bauwerke der Nachkriegsmoderne auch in den Fokus der Architekturgeschichtsschreibung. Während sie manchen Besitzern und Benutzern bereits zu alt scheinen, um heutigen funktionalen, ­repräsentativen und energetischen Ansprüchen zu genügen, sind sie für Architekturhistoriker fast noch zu jung, um als gefährdet und wertvoll beurteilt zu werden. Und so kommen die Gebäude in den Erneuerungszyklus, bevor sie als potenzielle Denkmäler die nötige ­Anerkennung gefunden haben. Aufgrund der kürzeren Lebenserwartung moderner Bauten ist die Denkmalpflege deshalb gefordert, früher als bisher diejenigen Exemplare zu bestimmen, die als ­kulturelles Erbe bewahrt werden sollen.

Lücken im Inventar

Bauliche Eingriffe an den Gebäuden dieser Zeit bieten Gelegenheit, nach Art und Wesen der Veränderung zu fragen. Sie fordern von den direkt Beteiligten, Rechenschaft darüber abzu­legen, welche Werte und Qualitäten dabei gegeneinander abgewogen werden. Ein aktueller Fall ist das Swiss-Re-Gebäude am Zürcher Mythenquai, 1965–1969 projektiert und aus­geführt von Werner Stücheli. Es liegt an der Seefront, eingebettet in eine lange Reihe mehr oder weniger monumentaler Versicherungsbauten (Abb. 02 und 04), und wurde bei der Swiss Re «Neubau» genannt. Daneben und mit ihm verbunden steht der neubarocke Hauptsitz der Swiss Re, den Emil Faesch und Alexander von Senger 1911–1913 für die ­damalige Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft erstellten. 1929 schlossen die ­Gebrüder Pfister diesen U-förmigen Bau zu einem Geviert, das Thilla Theus 1996–2000 gesamthaft reno­vierte. Das dritte, südlichste Gebäude der Swiss Re in der Reihe am Mythenquai ist das Clubhaus; es wurde 1957/58 von Hans Hofmann erbaut, 1978/79 von Jacques Schader aufgestockt und 1998–2000 von SAM Architekten umfassend erneuert.

Auf der anderen Seite von Stüchelis Neubau liegt das «Mythenschloss», ein 1925–1927 ­errichtetes neuklassizistisches, monumentales Geschäfts- und Wohngebäude, das 1982–1986 abgebrochen und mit originalgetreuen Fassaden aufgebaut wurde; die Ergänzung an seiner Westseite spricht eine zeitgemässe Architektursprache. Die Reihe der Versicherungsbauten wird zum Stadtzentrum hin vom Hauptsitz der Zurich ­Insurance Group, der einstigen Zürich Unfallversicherung, fortgesetzt. Auch dessen Baugeschichte ist von ­späteren Erweiterungsbauten geprägt, unter anderem von der 1931 an der Seefront errichteten Lebensversicherung-Filiale.

Alle diese Gebäude wurden ins kommunale Inventar der städtischen Denkmalpflege aufgenommen – ausser Stüchelis Bau von 1969. Hier kam die in den letzten zwei Jahren erfolgte Inventarisierung von Bauten der Zeitepoche 1960 bis 1980 zu spät.

Stücheli weicht dem neuen Hauptsitz

Die Swiss Re tat sich offensichtlich schwer mit dem Gebäude. Sie sah Defizite hinsichtlich Nachhaltigkeit, Repräsentation und Funktion. Zudem bestanden Mängel bei der Wärmedämmung und beim Sonnenschutz. Konkrete Bauschäden gaben die Besitzer folgende an: «Die Fassaden mit den vorgehängten Natursteinplatten weisen starke Alterungsspuren auf. Reinigungsversuche brachten nicht den erwünschten Erfolg. Die Flickzapfen der Zusatz­befestigungen zeichnen je länger je mehr ab, was sich störend auf das Fassadenbild auswirkt. Auch die Sanierungsversuche der Natursteinbeläge der Vorplätze und Aussentreppen schlugen fehl. (…) Die Klimakonvektoren sind anfällig und ihr Unterhalt ist aufwendig. Die Steuerung ist überaltert und ineffizient, was hohe Unterhalts- sowie Energiekosten ver­ursacht und den Komfort beeinträchtigt.»[1] 2007 fiel der Entscheid, den Bau zu ersetzen. Eine Studie der Architekten Staufer & Hasler diente dabei als Entscheidungsgrundlage.

Als Begründung nennt die Swiss Re strukturelle Probleme des Gebäudes. Bereits in dieser frühen Phase wurde das Baukollegium der Stadt Zürich zurate gezogen. Es kam zu dem Schluss, dass nur eine Gesamtsanierung oder ein Ersatzneubau diese strukturellen Probleme lösen könne, wie der Stadtrat in seiner Medienmitteilung schrieb.[2] 2008/09 führte die Swiss Re für den Ersatzneubau einen Studienauftrag unter sechs Schweizer und sechs inter­nationalen Architekturbüros durch. Das Siegerprojekt von Diener & Diener Architekten aus Basel bildete danach die Grundlage für das Bauprojekt und den Gestaltungsplan, der 2012 bewilligt wurde. In der Baubewilligung wurde unter anderem die gute Einordnung des Neubaus hervorgehoben; er werte die Uferfront auf und sei «präzise in die städtebaulich prominente Situation am Mythenquai gesetzt».[3] Der Ersatzneubau, dessen Realisierung für 2013–2017 geplant ist, wird als Hauptsitz des Geschäftsbereichs Reinsurance dienen.

Kulturpflege oder zeitgemässe Repräsentation?

Bei der Swiss Re geniesst die Architektur hohe Beachtung, sie gilt als Mittel der Corporate Identity. Im Fall des Stücheli-Baus stand das Bedürfnis nach repräsentativer und zeitge­nössischer ­Architektur offenbar im Widerstreit mit der Pflege des baukulturellen Erbes. Der Umgang der Swiss Re mit ihren anderen Bauten am Mythenquai hat gezeigt, dass der Anspruch auf Qualität, Identität und Repräsentation durchaus auch in Form der kultur­bewussten Pflege von Baudenkmälern erfüllt werden kann. Soeben hat der Stadtrat von ­Zürich 81 Gebäude und 76 Gärten aus den 1960er- und 1970er-Jahren neu in das Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte aufgenommen, darunter drei Gebäude von Werner Stücheli. Hat Swiss Re nicht bemerkt, dass sie mit dem Stücheli-Bau bereits durchaus erstklassige Architektur in den Händen hatte? Oder liess sich das Bauwerk tat­säch­lich nicht mit vernünftigem Aufwand an die heutigen energetischen Anforderungen und die Bedürfnisse der Bauherrin anpassen? Auf Nachfrage hin verweist Swiss Re auf die offiziellen Communiqués; die Studie von Staufer & Hasler ist leider nicht einsehbar.

Ein typischer Stücheli

Den Auftrag zu dem Erweiterungsbau erhielt Stücheli 1962, nachdem er den zwei Jahre ­zuvor ausgelobten Wettbewerb unter sechs eingeladenen Architekturbüros gewonnen hatte. Wesentliche Entscheidungskriterien der Wettbewerbsjury, in der unter anderem Jacques Schader sass, waren die städtebauliche Auflockerung und Zurückhaltung, die ­geringe Höhe und Bebauungsdichte sowie der flexible Grundriss. Der Neubau sollte den bestehenden ­Altbau erweitern und mit diesem verbunden werden. Die Geschäftsleitung wollte im bisherigen Verwaltungsgebäude verbleiben, nur gewisse Abteilungen in den Erweiterungsbau verlegen und einige Stockwerke vermieten, um auf ­lange Sicht über eine Platzreserve zu verfügen. Laut Schweizerischer Bauzeitung sollte «ein Verwaltungsbau konzipiert werden mit grösstmöglicher Flexibilität, Büros meist kleiner und mittlerer Grösse, mit gediegener Ausstattung der repräsentativen Räumlichkeiten, Vollklimatisierung und genügend Parkraum»[4].

Stücheli projektierte in enger Zusammenarbeit mit seinem Mitarbeiter Theo Huggenberger ein Gebäude, dessen Baumasse sich vom Mythenquai her in die Tiefe staffelt. An der ­Strasse lag ein eingeschossiger Trakt, an den seitlich ein zweigeschossiger anschloss, der zum vier- bis achtgeschossigen Hauptvolumen überleitete. Dieser war nicht nur in der Höhe abgetreppt, sondern auch vor- und rückspringend gegliedert. An der rückwärtigen ­Alfred-Escher-Strasse, wo ebenfalls ein Eingang lag, war der Baukörper dem schrägen Strassenverlauf entsprechend gestaffelt. So präsentierte sich der 1969 am Mythenquai 48–50 bezogene Neubau in mancherlei Hinsicht anders als seine Nachbarn. Er bildete keinen ­geschlossenen Quader und keine symmetrische Figur, der Baukörper wich von der Strassenflucht hinter einen Vorplatz zurück, seine Trakte umfassten einen hofartigen Aussenraum. Mit dieser städtebaulichen Zurückhaltung verschob sich die Repräsentation von der klassischen Fassadensymmetrie hin zur architektonischen Ausformung.

Am puls der Zeit

Die Gestaltung entsprach der Nachkriegsmoderne der 1960er-Jahre. In der Addition ­gleicher Bauteile tauchte eine strukturalistische Tendenz auf, die sich in einer vielgestaltig gestaffelten Gesamtwirkung ausdrückte. Die gerasterte Fassade band das Bauvolumen ­zusammen und brachte die Horizontal- und Vertikalstruktur aus Bandfenstern, Pfeilern und Brüstungen in ein Gleichgewicht. Gebäudefigur und innere Organisation folgten dem ­Windradschema. Bei genauer Betrachtung zeigten sich in der inneren Struktur wie auch in der Fassade spielerische Abweichungen; beispielsweise wechselte die Unterteilung in ­quadratische und hochrechteckige Fensterflügel die Anordnung, ohne einer bestimmten Regel zu folgen. Dabei bewies Werner Stücheli nicht nur viel Talent für Proportionen und Rhythmus – sondern auch Humor. Die damaligen Möglichkeiten im Betonbau äusserten sich unter anderem in der Ablösung des gesamten Oberbaus von den vier Untergeschossen, woran Bauingenieur Robert Henauer wesentlichen Anteil hatte. Das halb eingesenkte, ein erhöhtes Plateau bildende Park­geschoss machte diese Konstruktion sichtbar. Die Umgebungsgestaltung des Garten- und Landschaftsarchitekten Josef A. Seleger, eine Moorbeetvegetation in rechteckigen Betontrögen neben dem Vorplatz und eine Dachbegrünung, die in radialer Bepflanzung die ­Windradform aufnahm, verband das Gebäude mit der Seeuferbepflanzung. Erstmals wurden in der Schweiz Bäume mit Helikoptern eingeflogen. Zu guter Letzt setzte die «Grosse ­Giraffe», eine rote Eisenplastik von Bernhard Luginbühl, mit einem vertikal ausgreifenden Bogen einen Akzent beim Aufgang am Mythenquai. In allen Belangen gelang es Stücheli, der weltweiten Ausstrahlung des Unternehmens gerecht zu werden. Von der Stadt Zürich erhielt das Gebäude die «Auszeichnung für gute Bauten» – nun wird es zurückgebaut. Hat es die Anerkennung als Baudenkmal nur ganz knapp verpasst?


Anmerkungen:
[01] Auszug aus der Fragenbeantwortung im Studienauftrag vom 17. 9. 2008.
[02] Medienmitteilung des Zürcher Stadtrats vom 20. 4. 2011.
[03] Neue Zürcher Zeitung, 1. 11. 2012, S. 15.
[04] Schweizerische Bauzeitung, 88. Jhg., Heft 27, Juli 1970.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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