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TEC21 2013|48
Tragende Werte
TEC21 2013|48
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Wertvolle Tragwerke

Tragwerke sollten nicht unbesehen rückgebaut werden. Zu oft gehen materielle und immaterielle Werte verloren: eine Substanz, die ihre endgültige Lebensdauer noch nicht erreicht hat, ein Zeitzeuge, eine Konstruktionsart oder ein bautechnisches Vorbild. Weil bestehende Tragwerke aber veraltet und vielleicht sogar marode erscheinen können, unterschätzen oft selbst Fachpersonen ihr Potenzial – trotz vorhandenen Regelwerken zu ihrer Einschätzung. Es ist an der Zeit, Tragwerke differenziert zu betrachten.

22. November 2013 - Clementine Hegner-van Rooden
Das Spektrum der Begründungen, ein Tragwerk zu erhalten, ist breit. Ebenso zahlreich sind allerdings oft die Argumente dafür, es rückzubauen. Baubeteiligte schrecken vor allem vor allfälligen Überraschungen zurück, die eine bestehende Bausubstanz birgt und die während der Umbauphase zutage treten können. Die Gebäudesubstanz – und im Speziellen auch das Tragwerk – lässt sich aber immer objektiv analysieren. Nicht selten sprechen die Erkenntnisse in mancher Hinsicht für eine Erhaltung – einschliesslich immaterieller und ­emotionaler Gründe (vgl. «Erhalten zahlt sich aus», S. 18).

Breite Palette der Werte

Jedes Tragwerk hat seine Qualitäten und seine Minderwertigkeiten. Nach diesen gilt es zu suchen, wenn ein bestehendes Tragwerk auf seinen Erhaltenswert hin analysiert wird. Das Merkblatt 2017 des SIA[1] gibt dafür eine Checkliste, wobei die Kriterien in imma­terielle und materielle Werte gruppiert werden. So gehen die wichtigsten Be­wertungsfaktoren nicht vergessen – zu denen auch die immateriellen gehören. Wenn Experten – meist Bauinge­nieure – aber ein Tragwerk in seinem individuellen Kontext und mit den für seine Aus­legung spezi­fischen Rahmenbedingungen beurteilen, ­ergibt sich der Erhaltenswert nicht aus fix festgelegten und stets gleich definierten Kriterien. Vielmehr sind die einzelnen Fak­toren ­immer wieder neu zu bestimmen, zu ergänzen und zu gewichten. Es kann durchaus sein, dass ein einziges das Tragwerk auszeichnendes Merkmal für die Erhaltung entscheidend ist. ­Vielleicht ist die Tragkonstruktion weder schön noch effizient oder wirtschaftlich tragbar, aber sie ist ein beispielhafter Zeuge ihrer Zeit oder die letzte Ausführung in dieser Art – dann ist das unter Umständen Grund genug, sie zu bewahren. Ebenso, wenn ihre Form­gebung, ihre Materialisierung oder ihr statisches System ihrer Zeit voraus oder für die Zeit typisch war oder wenn ihr Erbauer berühmt ist und das Werk – ob im Guten oder im Schlechten – eine gewichtige Arbeit im Gesamtwerk ist (vgl. «Ein Tragwerk wirbt für sich», S. 21). Im einzelnen Fall ist es erhaltenswert, weil das Tragwerk sozusagen einen Lehrpfad an spezifischen, historischen und nicht mehr existierenden Konstruktionsdetails darstellt.

Werte Offenlegen, um sie zu sehen

Das Ziel jeder Beurteilung besteht also darin, die Besonderheiten eines spezifischen Tragwerks mit seinen typischen und charakteristischen Details zu erkennen und seine materiellen und vor allem auch immateriellen Werte offenzulegen[2]. Dadurch wird die dahintersteckende kostbare oder seltene, einmalige oder gewöhnliche, be- oder verkannte Leistung aufgedeckt. Nur so wird man diese bei Eingriffen auch respektieren und nach Möglichkeit bewahren können. Denn erst eine kritische Auseinandersetzung mit dem Tragwerk und seinen mate­riellen und immateriellen Werten führt zu einer ganzheit­lichen Beurteilung des Bauwerks und legt schliesslich sein Entwicklungspotenzial offen.[3]

Ein Bauwerk steht und fällt mit seinem Tragwerk

Auf dieses Entwicklungspotenzial gilt es auch die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Ihr muss gezeigt werden – wider den Zeitgeist, sich auf das Aussehen, statt auf den Inhalt zu konzentrieren –, welche Leistung hinter den Tragwerken steckt und welches Handwerk es dazu braucht. Denn auch wenn ein bestehendes Tragwerk unattraktiv erscheint – sei es unansehnlich oder verdeckt, ab­genutzt oder überholt, unmodisch oder einfach nur in ein schlechtes Licht gerückt –, sind es schliesslich doch die tragenden Teile, die das Bauwerk zusammenhalten. Die Kunst, ein Tragwerk schlank auszulegen oder mit einer raffinierten ­Konstruktion oder Technik weite Spannweiten oder ausgeklügelte Details zu ermöglichen, ist eine bemerkenswerte Leistung, die es zu würdigen, schätzen zu lernen und schliesslich auch zu erhalten gilt.

Tragwerke haben Stil und sind fotogen

Tragwerke als Ingenieurbauwerke haben im Übrigen durchaus einen Stil, den es nicht nur kritisch zu bewerten gilt, sondern den es auch fotografisch einzufangen lohnt – wenn man denn ein ingenieurspezifisches Auge dafür hat oder entwickelt. Die oben stehenden Fotos mögen andeuten, welches Potenzial in der Bebilderung von Ingenieurbauwerken noch steckt. Mit attraktiven Fotografien von Rohbauten oder Baustellen zum Beispiel liessen sich vermehrt Emotionen für Tragwerke wecken – einen immateriellen Wert also, der sich – so bitter es sein mag, dass man so argumentieren muss – grundsätzlich auch versilbern liesse, wenn man ihn entsprechend als wertvoll vermarktete. In­sofern werden die immateriellen Werte gegenüber den materiellen Werten klar unterschätzt.


Anmerkungen:
[01] B. Schnitter, M. Aczél, H. U. Aeschlimann, M. Diggelmann, C. Haldemann, L. Held, A. Kölliker, N. Ruoss, M. Wohlgemuth: «Erhaltungswert von Bauwerken», SIA-Merkblatt 2017. Zürich, 2000.
[02] Als materielle Werte sind u. a. standort- und nutzungsspe zi fi sche, substanzielle, gesellschaftli - che, wirtschaftliche und/oder umweltspezifische Werte aufzufassen; zu den immateriellen zählen da gegen die situativen, historischen und soziokul - turellen, gestalterischen, handwerklich-techni - schen und/oder emotionalen Werte.
[03] Eugen Brühwiler: «Grundsätze der Denkmal - pflege bei Bahnbrücken» in: Schweizer Bahnbrü - cken. Zürich, 2013, S. 215–220

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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