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TEC21 2013|51-52
Im Avers
TEC21 2013|51-52
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein Tal – zwei Gemeinden – zehn Fraktionen

Für Städter wirkt das Avers wie eine andere Welt. Die Stille und Schönheit der Berge beeindrucken. Die Bevölkerung verdient ihr Brot noch zu einem guten Teil in der Landwirtschaft. Wie ein Besuch vor Ort zeigt, glaubt man im Hochtal an eine Zukunft mit der Berglandwirtschaft. Im tiefer gelegenen Ferrera hingegen lebt nur noch ein einziger Bauer. Hier profitiert die Gemeinde von den Einnahmen aus der Wasserkraft und investierte kürzlich in die Modernisierung der Dorfsägerei.

13. Dezember 2013 - Lukas Denzler
Kurz nach Andeer GR, bei der Ausfahrt Ferrera/Avers, beschreibt die A13 eine scharfe Kurve Richtung Rheinwald und San Bernardino. Reisende in den Süden lassen das Ferreratal und das Avers in aller Regel links liegen. Wir verlassen jedoch die Nationalstrasse in der Roflaschlucht (vgl. Karte rechts) und fahren südwärts das 23 km lange Tal hoch. Die ersten Siedlungen sind die Dörfer Ausser- und Innerferrera, die 2008 zu einer politischen Gemeinde fusionierten. Der Name weist auf die Bergbauvergangenheit im Ferreratal hin.

In der Blütezeit um 1817 beschäftigten die Gebrüder Venini & Co. 200 Mann im Eisenerzbergbau und in den Verhüttungsanlagen im Tal . Diese erfolgreiche Periode dauerte allerdings nicht lange, denn schon bald waren die Wälder vollständig abgeholzt. Wer den üppigen Wald im Ferreratal heute sieht, kann kaum glauben, dass die Hänge vor nicht einmal 200 Jahren kahl geschlagen waren.

Nach Innerferrera verengt sich das Tal. An der Grenze zu Italien führt die Strasse über eine Betonbrücke, die durch zwei Tunnels eingerahmt wird. Die spektakuläre Lage und die Eleganz der Brücke eröffnen sich einem nur, wenn man zu Fuss auf der alten Averserstrasse wandert. Die alte Brücke über den Reno di Lei liegt direkt unter der modernen Betonbrücke (Abb. 03, S. 23). Auf der alten Talstrasse verkehrten bis 1960 noch Postautos. Beim Bau der neuen Strasse wurde sie mit Schutt überdeckt, und erst seit 2007 ist sie zu Fuss wieder begehbar (vgl. «Die alte Averserstrasse», S. 26). Anschliessend öffnet sich das Tal wieder, und das Avers beginnt. Noch vor Campsut, der ersten Fraktion der Gemeinde Avers, zweigt die Strasse ins Valle di Lei ab. Hinter der Bergkette verbirgt sich mit einem Speichervolumen von knapp 200 Millionen Kubikmetern Wasser der fünftgrösste Stausee der Schweiz. Ganz korrekt ist das zwar nicht, denn der Lago di Lei liegt fast komplett auf italienischem Staatsgebiet. Nur die Staumauer steht – dank einem staatlichen Landabtausch – auf Schweizer Gebiet. Die Stromproduktion erfolgt auf Schweizer Boden.

Das Avers ist eine typische Walsersiedlung, die aus acht Fraktionen und einzelnen Höfen besteht. Der bekannteste Ort ist Juf, die am höchsten gelegene ganzjährig bewohnte Siedlung der Alpen. Die zentrale Siedlung mit Kirche, Schule und Gemeindehaus ist Cresta.

Lange Winter – kurze, arbeitsreiche Sommer

In Cröt biegen wir von der Kantonsstrasse ab und fahren ins Madristal. Am Ende der öffentlichen Strasse wohnt Kurt Patzen, der Gemeindepräsident von Avers. Mit seiner Familie bewirtschaftet er einen Bauernhof mit 45 Hektaren landwirtschaftlicher Nutzfläche. Das Madristal war in den späten 1980er-Jahren einer der Schauplätze der Kämpfe zwischen Gegnern und Befürwortern eines weiteren Ausbaus der Wasserkraft. Geplant war ein Pumpspeicherkraftwerk. «Wir verhielten uns damals passiv», sagt Kurt Patzen. «Aber natürlich sind wir froh, dass das Projekt nicht realisiert wurde.» Passiv sei man gewesen, weil das Tal der Wasserkraft viel verdanke. Mit dem Kraftwerksbau ab 1957 sei die Infrastruktur im Tal stark verbessert worden; die zuvor ausgeprägte Abwanderung habe gestoppt werden können. Wäre das Kraftwerk nicht gebaut worden, wäre das Avers heute wohl nicht mehr besiedelt, vermutet Patzen. Aktuell zählt die Gemeinde Avers 174 Einwohner. Die Bevölkerung ist stabil. Schulpflichtige Kinder hat es aber nur wenige – aktuell besuchen acht Kinder die Schule in Cresta. An der eigenen Primarschule will man so lange wie möglich festhalten.

«Die Walser sind ein spezielles Volk», erzählt Patzen. Doch man werde nicht als Walser geboren. Das raue Klima sei es, das die Menschen hier oben zu Walsern forme. Die Winter sind lang und schneereich, die Sommer kurz und arbeitsintensiv. Böse Zungen behaupten, im Avers herrschten neun Monate Winter – und die restlichen drei Monate sei es kalt. Die erste urkundliche Erwähnung der Walser geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Das Hochtal hatte stets enge Verbindungen nach Süden, in erster Linie zu Bivio, Soglio und Chiavenna. Die erste Strasse vom nördlich gelegenen Schams ins Avers baute der Kanton erst Ende des 19. Jahrhunderts, und die Averser mussten dafür kämpfen, dass die Strasse bis nach Cresta gebaut wurde. Das Avers bildete schon früh eine eigene Gerichtsgemeinde und ist heute noch ein eigener politischer Kreis. «Das bringt Vorteile, denn so haben wir mindestens einen Vertreter im Grossen Rat», sagt Patzen. Dieser könne im Kantonsparlament die Sichtweise und spezifischen Probleme der Region einbringen. Als Beispiel nennt er die Abwasserbehandlung. Der Kanton fordert für Bauzonen eine aerobe biologische Abwasserreinigung. Aufgrund der weitläufigen Siedlungsstruktur mit den verstreuten Fraktionen ist diese Vorgabe für die Gemeinde eine kostspielige Angelegenheit (vgl. Kasten).

Zur Walser Eigenart gehört wohl auch, dass das Avers dem Naturpark Beverin, der 2012 die Anerkennung als regionaler Naturpark von nationaler Bedeutung erhalten hat, nicht angehört. Die Einheimischen sind skeptisch und befürchten, dass die Parkregeln später durch den Bund verschärft werden könnten.

Am Rand des Randes

Beim Thema Randregion bleibt der Gemeindepräsident gelassen. Das Avers sei eine Randgemeinde in einem Randgebiet in einem Randkanton. «Der Druck kommt in erster Linie von der Politik und den sogenannten Denkfabriken», sagt Kurt Patzen. Die Schweizer Bevölkerung habe jedoch Verständnis für die Anliegen der Berggebiete und lasse diese nicht einfach fallen. Als Beispiel nennt er Seuzach. Die Gemeinde im Kanton Zürich ist seit zwei Jahren eine Patengemeinde von Avers. Die Partnerschaft zwischen den beiden Gemeinden sei auf Initiative von Seuzach entstanden und habe sich dank gegenseitiger Besuche sehr erfreulich entwickelt.

Im Avers wirtschaften aktuell 16 Bauernfamilien. Ohne massive staatliche Unterstützung in Form von Direktzahlungen könnte die Landwirtschaft nicht überleben. Überspitzt formuliert: Die Bergbauern pflegen den Erholungsraum der Städter. Im Avers glaubt man an eine Zukunft mit der Berglandwirtschaft, sonst hätte man vor fünf Jahren nicht eine Gesamtmelioration eingeleitet. Die Bewirtschaftung der Wiesen und Weiden wird durch kleine Parzellen behindert. Eine Güterzusammenlegung soll die gegenwärtige Zahl von rund 1500 Parzellen deutlich reduzieren; gleichzeitig werden Güterwege und Zufahrten zu den Höfen verbessert oder neu gebaut. Das Projekt wird voraussichtlich 25 Jahre dauern und kostet insgesamt 21 Millionen Franken. 83 % der Kosten tragen Bund und Kanton. An die restlichen Kosten leistet die Gemeinde einen Beitrag von 30 %, für den Rest kommen die Grundeigentümer auf.

Neue Güterstrassen

Derzeit wird im Avers an vielen Güterstrassen gebaut. Für eine zeitgemässe Bewirtschaftung ist die Verbesserung des Wegenetzes zweifellos wichtig. Als Besucher kann man sich des ersten Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass hier etwas mit der grossen Kelle angerichtet wird. Der Landschaftsschutz drohte vor drei Jahren denn auch mit Einsprachen. Im Gespräch habe man sich aber einigen können, sagt Wieland Grass, der Präsident der Meliorationskommission. «Auf Wunsch der Landschaftsschützer haben wir die Linienführung einer neuen Strasse angepasst, und wir konnten überzeugend darlegen, dass diese Güterstrassen einfach nötig sind, wenn das Avers weiterhin bewirtschaftet werden soll.» Dass die artenreichen Wiesen auch künftig gemäht würden, sei gerade auch ein Anliegen des Naturschutzes, erklärt Grass.

Moderne Hilfsmittel halten auch im Avers Einzug. So lösen beim Heuen immer mehr Heubläser die Rechen ab. Ähnlich den Laubbläsern lässt sich mit ihnen die Arbeit leichter bewältigen; angeblich ersetzt ein Heubläser drei gute Recher. Doch ihr Einsatz verursacht Lärm – das führt zu Konflikten mit dem Tourismus, dem anderen wichtigen Erwerbszweig im Avers. Dessen wichtigstes Kapital ist neben der Landschaft und der Natur nämlich die Ruhe. Ihretwegen schätzen die Gäste das abgelegene Hochtal. Auf den ersten Blick wirkt das Avers noch recht ursprünglich. Das Tal ist aber stark durch den Menschen geprägt worden. Der bedeutendste Eingriff geschah zweifellos zwischen 1956 und 1963, als die Kraftwerke Hinterrhein AG (KHR) die grösste Kraftkwerkskombination in Graubünden erstellte.

Das Avers steuert einen wichtigen Teil des Wassers bei. Es wird in Juppa gefasst ( und Abb. 06), in einem Stollen ins Madristal und von dort in einem weiteren Stollen in den Lago di Lei geleitet.

Vom Bergbauerndorf zur finanzstarken Wasserkraftgemeinde

Ferrera, auf dessen Gemeindegebiet die Staumauer im Val di Lei steht, ist noch ausgeprägter als das Avers eine Wasserkraftgemeinde. Dank den Einnahmen aus Wasserzinsen, Unternehmens- und Liegenschaftssteuern ist Ferrera eine der finanzstärksten Gemeinden im Kanton Graubünden. Um 1950 lebten in Ferrera noch mehrheitlich Bauern; heute wirtschaftet hier nur noch einer. Mit dem Kraftwerk kamen etwa 15 Familien neu ins Dorf. Die KHR schuf in Ferrera und im Valle di Lei 16 Arbeitsstellen. Nach der Pensionierung zogen einige wieder weg, und die heutigen Angestellten der KHR wohnen nicht mehr zwingend in Ferrera. Das Dorf droht zu überaltern; die Schule musste bereits 1990 schliessen. Das Schulhaus wird derzeit von der Gemeindekanzlei und dem Forstamt genutzt. Die 87 Einwohner zählende Gemeinde gibt Gegensteuer, indem sie möglichst viele Arbeitsplätze im Dorf zu erhalten versucht. «Zurzeit beschäftigen wir neun Personen, zwei davon sind Lernende», sagt Gemeindepräsident Fritz Bräsecke.

Noch kann sich Ferrera das leisten. Am Horizont ziehen jedoch düstere Wolken auf. Die Einnahmen aus der Wasserkraft gehen nämlich zurück. Die Wasserzinsen wurden in der Vergangenheit zwar mehrere Male angehoben, die von den Elektrizitätsunternehmen bezahlten Steuern nahmen aber deutlich ab. Besonders hart könnte Ferrera zudem die Reform des kantonalen Finanzausgleichs treffen. Laut Bräsecke könnten diese Zahlungen von heute jährlich 140 000 Franken ab 2015 auf das Dreifache steigen. Zumindest einen Teil der künftig fehlenden Gelder soll ein neues Kleinwasserkraftwerk generieren. Die Gemeindeversammlung hat im Sommer die Konzession für die Realisierung mit deutlicher Mehrheit erteilt.

Das Gesuch liegt nun beim Kanton, und wenn alles rund läuft, liegt Mitte 2014 die Bewilligung vor (vgl. Kasten links). Ob die Rechnung wirklich aufgeht, wird sich zeigen. Möglicherweise stellen die jungen Menschen, die seit einigen Jahren in Scharen nach Ausserferrera strömen, um ihrem Hobby, dem Felsblockklettern – auch Bouldering genannt – zu frönen, das grössere Entwicklungspotenzial für die Gemeinde dar (vgl. Kasten S. 20).

Moderner Forstbetrieb mit eigener Sägerei

Die finanziell gute Situation von Ferrera widerspiegelt sich auch im Forstbetrieb. Er verfügt über einen modernen Maschinenpark. Dazu zählt auch ein Seilkran, mit dem sich das Holz aus dem Wald transportieren lässt. Im steilen Gelände kann man praktisch an keiner Stelle mit Maschinen in den Wald hineinfahren. «Auf 90 % der Fläche kommt der Seilkran zum Einsatz», sagt Thomas Voneschen, der Leiter des Forstbetriebs in Ferrera. Im Forstrevier Ferrera/Avers wachsen Fichten (65 %), Arven (22 %), Lärchen (10 %) und Föhren (3 %). Eine besondere Bedeutung hat der Wald, der die Verkehrswege vor Naturgefahren schützt; die Kantonsstrasse ist der Lebensnerv für das ganze Tal. Ein beträchtlicher Teil des Walds sei überaltert, sagt Voneschen. Den Schutzwald zu pflegen sei deshalb gut investiertes Geld.

Der Forstbetrieb führt auch Arbeiten für die Gemeinde aus. Die Jahreszeiten geben den Takt vor: Das meiste Holz wird im Winter geschlagen. Wenn es schneit und die Arbeit im Wald nicht möglich ist, werden die Strassen geräumt. Weitere Aufgaben sind die Betreuung der Kläranlage und der Strassenbeleuchtung sowie der Unterhalt von Wanderwegen und Brücken. Seit drei Jahren kooperieren die fünf Forstbetriebe im Schams, Ferrera und Rheinwald. Die lose Zusammenarbeit habe sich bewährt, erklärt Voneschen. So könnten etwa die Maschinen besser ausgelastet werden.

Nachdem die Grosssägerei in Domat/Ems GR 2010 ihren Betrieb einstellte, ist es in Graubünden schwieriger geworden, das Holz zu einem guten Preis zu vermarkten. Der überwiegende Teil des Bündner Holzes wird nun nach Österreich verkauft. Holz wird auch in der eigenen Gemeindesägerei in Innerferrera eingeschnitten. Die Gemeinde investierte kürzlich 400 000 Franken in die Modernisierung der Anlage. Mit der alten Säge, deren Betrieb sehr arbeitsintensiv war, sei das Defizit immer grösser geworden, sagt Voneschen. Die Dorfsägerei aufgeben wollte man jedoch nicht. Die diesen Sommer neu eingebaute horizontale Blockbandsäge stammt aus einem Betrieb, der schliessen musste. Verarbeitet werden vor allem Lärchen-, Fichten- und Arvenstämme aus dem Tal und der Region. Balken, Latten und Bretter werden auf Bestellung hergestellt. Zu den Kunden zählen Zimmereien, Dachdecker und Schreinereien.

Ein Gegenpol zu den hektischen Städten

Beim Verlassen des Tals begleiten uns die Eindrücke einer doch ziemlich anderen Welt. Solche abgeschiedenen und und ruhigen Täler bereichern die Schweiz enorm. Es ist gut, dass es diese andere Welt noch gibt – als Gegenpol zu den hektischen und hyperventilierenden Städten in den Metropolräumen. Der Schweiz sollte es etwas wert sein, auch ihren abgelegenen Bergtälern eine Zukunftsperspektive zu bieten.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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