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tec21 2006|22
Dünnwandig
tec21 2006|22, Foto: Wilfried Dechau
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Müthers Freilichtmuseum

Der Ingenieur Ulrich Müther war der wichtigste Betonschalenbauer der DDR. Die Fussbebauung des Berliner Fernsehturms, die Bobbahn in Oberhof und das Restaurant „Teepott“ in Rostock werden heute noch genutzt. Abseits der grossen Städte aber verfallen Müthers Gebäude. Dabei könnten die Betonkonstruktionen zu Pilgerstätten für Architektur- und Ingenieurtouristen werden.

30. Mai 2006 - Katinka Corts-Münzner
Seiner Heimat ist Ulrich Müther treu geblieben. Er lebt wie eh und je in Binz auf Rügen an der Ostsee. Er nennt sich gern „Landbaumeister von Rügen“, denn von hier aus entwarf er in Zusammenarbeit mit verschiedenen Architekten von 1963 bis Ende der 1990er-Jahre weit über 70 Gebäude mit Betonschalendächern. Dazu gehören kleine Buswartehallen und Sportgebäude, Gaststätten und Schwimmbäder, aber auch Rennschlittenbahnen und Grossplanetarien. In allen Bauten finden sich dünne Betonschalen als Dach- oder Wandkonstruktion - sei es als Pilz-, Buckel-, Schirm-, Zylinder- oder Hyparschale. Müthers Schalenkonstruktionen waren zu DDR-Zeiten als Prestigebauten sehr begehrt. Viele, die Müthers Betongebäude kennen, sehen sie als moderne Klassiker.

Von der Tonne zur Schale

Ulrich Müther blieb das Abitur verwehrt, da er aus einer „studierten Familie“ kam, was damals nicht förderlich war. Sein Vater war Architekt und betrieb seit 1922 ein Bauunternehmen auf Rügen. Nach einer Lehre zum Zimmermann war Müther ein Jahr lang Geselle und studierte dann Bauingenieurwesen in Neustrelitz. Als Anfang der 1950er-Jahre bei der „Aktion Rose“ viele Pensionsbesitzer und Privatfirmen der Ostseeküste wegen „Spekulantentums“ enteignet wurden, verloren auch die Müthers ihr Unternehmen. Nach den Arbeiter-unruhen im Juni 1953 erhielten sie die Firma zurück.

In den folgenden Jahren wurde das Unternehmen nochmals durch den Staat umgestaltet: erst zur Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH), dann zum Volkseigenen Betrieb (VEB). Ulrich Müther hatte inzwischen mehrere Jahre in der Bauplanung gearbeitet, ein Bauingenieur-Fernstudium an der TU Dresden aufgenommen und war 1958 Technischer Leiter des Familienunternehmens geworden. „Tagsüber war ich in der Baufirma, nach Feierabend haben meine Frau und ich Projekte gezeichnet. So konnten wir Schalen aus der Schublade ziehen, sobald es eine Anfrage gab.“ Müther konnte die Sonderstellung des Unternehmens ausserhalb eines Kombinates stärken, indem er es immer weiter in Richtung Spezialbetonarbeiten ausbaute. „Für den Schalenbau war in der DDR vieles möglich. Der Staat zeigte gern Neues und war in Bezug auf Bauen nicht so konservativ“, sagt Müther.

Doch wie kam er eigentlich auf die Schalen? Schon vor seinem Studium hatte sich Müther mit Tonnenschalen und ihrer Konstruktion beschäftigt, jedoch konnte der Verlauf von Kräften und Spannungen in mehrfach gekrümmten Schalen noch nicht genau berechnet werden. Müther bekam die Möglichkeit, an einem neuen Lehrstuhl in Berlin zu arbeiten. Nach vielen Modellen und Berechnungen konnte er seine Diplomarbeit über eine gekrümmte Spritzbetonplatte, die als Terrassen-überdachung für ein Binzer Ferienheim (1963) geplant war, fertig stellen und auch ausführen. Sein Professor an der TU Dresden, Hermann Rühle, sass im Nationalen Komitee der IASS (International Association for Shell&Spatial Structures), die 1959 von Eduardo Torroja gegründet worden war. Dank dessen Kontakten konnte Müther 1966 zur Bauausstellung nach Budapest reisen. Dort lernte er wichtige Schalenbauer wie Jörg Schlaich (*1934), Josef Eibl (*1936), Stefan Polónyi (*1930) und Heinz Isler (*1926) kennen. Das Gesehene faszinierte Müther, und er entwickelte in der Folge mit kleinmassstäblichen Versuchsschalen immer neue Schalenformen. Inspiriert wurde er dabei vom traditionellen Schiffbau und seinen Erfahrungen als Segler. Für Modelle verwendete er Segeltuch, für Gussformen Sandhügel.

Eine Versuchsschale wurde früher als Buswartehäuschen genutzt und steht heute noch in Binz (Bild 4). An diesem 7u7 m grossen Vorläuferbau für die Mehrzweckhalle in Rostock Lütten-Klein (1968) konnte Müther messen, wie sich die Schale später bei der Mehrzweckhalle verhalten würde. Müthers liebste Form wurde mit den Jahren das hyperbolische Paraboloid. Die Schale besteht aus einem System gerader Linien, wodurch die statischen Kräfte genau berechnet werden können. So entstehen doppelt gekrümmte Flächen, die mit geraden Brettern geschalt werden können - „Rechenwerk und keine organisch gewachsene Kunst“, wie Müther sagt. Zudem kann die Hyparschale auf jeder Neigung und auf Erdschalung gespritzt werden. Mit seiner weiter-
entwickelten Spritzbetontechnik konnte er dann ohne Schalung bauen, der Beton wurde auf gewölbten Bewehrungsstahl und „Kaninchendraht“ aufgespritzt und blieb daran hängen.

Prestigebauten für den Sozialismus. Seine Bauten machten Müther bekannt und brachten ihm weitere Aufträge. Als in Rostock-Schutow 1966 eine Messehalle gebaut werden sollte, schlug Müther zwei gegeneinander versetzte, 7cm dicke Hyparschalen von je 20u20 m vor. Bei der Einweihung lernte Müther Vertreter der Rostocker Konsumgenossenschaft kennen, die ihn mit dem Bau eines Konsum-Pavillons beauftragten. Gleichzeitig wollte auch die Handelsorganisation (HO), der staatliche Einzelhandel, einen Neubau haben. So baute Müther 1966 das Strandrestaurant „Inselparadies“ in Baabe für die HO (Bilder 6-7) und für den Konsum in Rostock-Warnemünde das Restaurant „Teepott“ (Bild 9), das 1968 in Zusammenarbeit mit den Architekten Kaufmann, Pastor und Fleischhauer fertig gestellt wurde. Für das zweigeschossige „Inselparadies“ plante Müther im Erdgeschoss eine Essensausgabe für Strandgänger, im Inneren führte eine Treppe rund um die Stütze der mächtigen Pilzschale (16.8u16.8 m) ins Obergeschoss. Hier konnten die Gäste im Restaurant sitzen und beim Essen über die Ostsee schauen, auch Tanzveranstaltungen fanden hier statt. Heute sind die Betonkonstruktion und die filigranen Stahlrahmen der Fassade noch erhalten, das Gebäude aber findet keinen Nutzer. Gegen die herrliche Lage in einem Ostseeort, direkt am Strand, steht der touristische Nutzen: Die Hauptferienzeit für die Ostsee ist von April bis August, mit acht Monaten „Winterpause“ sind nur wenige Gebäude in den grossen Kurorten wirtschaftlich zu betreiben.

Lange Zeit stand auch der Warnemünder „Teepott“, ein von drei Hyparschalen überdachtes Gebäude, nach der Wende leer, obwohl die Lage an der Strandpromenade und neben der Westmole touristisch höchst attraktiv ist. Erst 2002 konnte er saniert werden, heute finden sich hier verschiedene Restaurants und kleinere Geschäfte. Für diese Aufteilung wurde allerdings der weite, durchgehende Raum geopfert, der früher das „Teepott“-Res-taurant im Obergeschoss ausmachte. Heute hat man im Inneren das Gefühl, das Dach liege auf den eingezogenen Zwischenwänden auf, obwohl es eine frei tragende Konstruktion ist. Die Sanierung bringt, wie Müther sagt, jetzt erst einmal Geld, später könne man die Leichtbauwände ja wieder entfernen. Der Erfolg gibt ihm Recht. Der Bau konnte durch die Nutzung vor dem Verfall gerettet werden.

In den 1980er-Jahren schaffte Müther es, seine Bauten als Devisen exportfähig zu machen. Für den VEB Carl Zeiss Jena, dessen optische Geräte sozialistische Exportschlager waren, baute Müther im Ausland Kuppeln: zunächst ein Raumfahrtzentrum und Planetarium in Tripolis, dafür gab es Öl aus Libyen. Für die Ausführung der Bauten nahm Müther sein bewährtes Team aus der DDR mit. Der Aufwand lohnte sich, es folgten Planetarien für Kolumbien (1982) und Kuwait (1984), eine Moschee in Jordanien (1984) und das Universarium Vantaa in Finnland (1987). Auch die Bundesrepublik erhielt in Wolfsburg eine Zeiss-Sternwarte. Als Komensationsgeschäft lieferte Volkswagen 10000 Golf an die DDR.

Mit dem Ende der DDR wurde es schwerer für Müther, sich gegen die internationale Konkurrenz auf dem Baumarkt zu behaupten. Zudem waren die Kosten für Baustoffe im Verhältnis zu den erfolderlichen Lohnkosten stark gesunken. Die aufwändige Bauweise wurde bis in die späten 1990er-Jahre nur noch vereinzelt eingesetzt, zum Beispiel für ein Planetarium in Algier (1990), eine Kirche in Hannover (1992) und zwei Radrennbahnen für Eisenhüttenstadt und Cottbus. Diese Aufträge in den ersten Nach-Wende-Jahren konnten aber nicht verhindern, dass Müther 1999 den Konkurs seiner Baufirma anmelden musste.

Neue Nutzung gesucht

Heute versucht der Schalenbauer von damals seine Bauten zu retten, beteiligt sich an Sanierungsplanungen oder legt selbst Hand an. Die Schalen stehen noch, und ihre Konstruktion ist statisch unbeschadet. Weil der Schutz seitens der Denkmalbehörden fehlt, verfallen die Fassaden, der Ausbau wird durch Vandalismus zerstört. Zum akuten Verfall seiner Bauten sagt Müther sarkastisch: „Immerhin ein Härtetest, den die Schalen trotz jahrelangen Leerstands ohne substanziellen Schaden bestanden haben.“ Im Jahr 2000 protestierten renommierte Baufachleute und Historiker gegen den Abriss des völlig intakten Berliner Restaurants „Ahornblatt“. Das Interesse wurde damit sogar in der Tagespresse wieder auf Müthers Bauten gelenkt, der Abriss konnte aber nicht verhindert werden. Jetzt muss der Investor, der das denkmalgeschützte Gebäude zu Gunsten einer klobigen und unattraktiven Blockrandbebauung abgerissen hat, die Aufarbeitung der Baugeschichte leisten und eine Dokumentation über das „Ahornblatt“ finanzieren.

Andere Beispiele zeigen aber, dass auch eine Sanierung und Neunutzung der Schalen möglich ist. In Dresden wurde das ehemalige Ruderzentrum zu einer Sporthalle ausgebaut, die Bauten am Fuss des Berliner Fernsehturms werden für Gastronomie genutzt, der „Teepott“ ist wieder eine Touristenattraktion, und der Strandwachturm in Binz (Bild 10) ist in den Händen seines Erbauers, der ihn liebevoll saniert hat. Die 1968 gebaute Rettungsstation wurde nicht mehr zur Strandsicherung gebraucht. Müther nutzt sie heute als Büro und Vortragsraum, empfängt hier auch spontan Gäste und gibt Interviews. Und der heute 71-Jährige hat immer wieder neue Ideen und Pläne: Im Strandturm gibt es genug Platz für Vorträge, die grossen Fenster können als Projektionsfläche für Filme genutzt werden - die Zuschauer sitzen dann in Strandkörben -, und bald erwartet er die Zulassung zur Standesamt-Aussenstelle für den Strandwachturm.

Müthers Architektur ist ein Kind ihrer Zeit. Die geringe Überbauungsdichte in fantastischen Lagen und die aufwändige Bauweise der Schalen würden sich heute nur schwer rechtfertigen lassen. Umso mehr sollten deshalb die wenigen erhaltenen Exemplare aus der DDR-Nachkriegsmoderne geschützt werden.
Literatur/Anmerkung:
[1] Filmbeitrag „Für den Schwung sind Sie zuständig“. D 2003, 58 Min., vhs@fuerdenschwung.de
[2] Wilfried Dechau (Hrsg.): Kühne Solitäre. Ulrich Müther - Schalenbaumeister der DDR. Buchreihe der Zeitschrift db - deutsche bauzeitung. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH 2000 (derzeit vergriffen).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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