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tec21 2006|22
Dünnwandig
tec21 2006|22, Foto: Wilfried Dechau
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Siebenfüssler und andere Naturformen

Am 26. Juli wird Heinz Isler 80 Jahre alt. Er hat Hunderte von Schalen gebaut und weltweit Hunderte von Vorträgen gehalten. Seine Welt ist die der Schalen. Deren Möglichkeiten und Grenzen hat er sein Leben lang ausgelotet. Zu Besuch in Islers Schalenwelt, in seinem Büro und Garten.

30. Mai 2006 - Ivo Bösch
Islers Welt ist die der Betonschale, der er sein ganzes Berufsleben gewidmet hat. Deshalb erzählt er schon in der ersten Viertelstunde der Begegnung vom wunderbaren Baustoff Beton. Von der Natur, von der Geologie, vom Kies, der unter der Landschaft liegt, durch die er uns auf dem Weg fährt.

Formsuche

Statt uns direkt in sein Büro zu führen, zeigt er eine seiner über 1000 gebauten Schalen, genauer gesagt zehn Schalen, die für eine Gewerbehalle in der Nähe von Burgdorf aneinander gestellt wurden. Das Grundelement besteht aus Islers weit verbreiteter „Industrieschale“, einer 1954 entwickelten Buckelschale. Zuvor hatte Isler sich an der ETH in Zürich zum Bauingenieur ausgebildet. Schon für seine Diplomarbeit entwarf er ein Schalentragwerk. Danach besuchte er für neun Monate die Kunstgewerbeschule, kehrte aber dann zum Ingenieurberuf zurück. Der kurze Umweg zeigt, wie wichtig für Isler ein gesamtheitlicher Blick ist. Stets interessierte er sich für die schöne Form. In der Eingangshalle seines Büros sehen wir später ein selbst gemaltes Bild: Durch den Nebel, der die Themse einhüllt, dringen gleissende Sonnenstrahlen. Ein Licht, das ihn so faszinierte, dass er zum Malkasten griff. So erstaunt nicht, dass er sich mit den Formen der Schalen nicht zufrieden gab, die er als junger Ingenieur kennen lernte.

1995 schrieb er, dass bis Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Bauten mit Schalendächern entstanden, aber dass sich „die Schalenformen auf wenige Formtypen beschränkten: Zylinderdächer, zylindrische Schalensheds, Kegelausschnitte, Kugelausschnitte und Hyperboloide“.1 Diese der elementaren Geometrie entlehnten Formen gefielen Isler nicht. Ihre Tragkraft war beschränkt, und sie enthielten meistens Zonen mit Zugspannungen, sodass der Beton Risse erhält und mit einem Dachbelag abgedichtet werden muss. Besonders störten Isler die Geraden. Ein liegender Halbzylinder weise zum Beispiel in der einen Richtung eine Kreisform auf, in der anderen hingegen eine Gerade, also einen Bogen mit unendlichem Krümmungsradius, und es sei bekannt, dass die Krümmungsradien wesentlich über die Qualität einer Schale entscheiden würden. Während seiner zweieinhalb Jahre als Assistent bei Professor Pierre Lardy hatte er den Wert von Modellen für statische Untersuchungen kennen gelernt. 1954 inspirierte ihn sein Kopfkissen zum Bau eines „technischen Kissens“. Er spannte eine Gummimembran in einen rechteckigen Holzrahmen und blies sie auf. Das war seine erste Methode zur Formfindung. Die entstandene Buckelschale war äusserst leistungsfähig. „Damit war der Ausbruch aus den engen Grenzen rein geometrischer Formen geschafft.“

Auf der Buckelschale

Neben solch einer Schale stehen wir nun, und ehe der zurückhaltende Ingenieur viel erklärt, steigt er die Metallstufen am senkrechten Schacht hoch. Das Dach der Gewerbehalle besteht aus einer ruhigen Betonlandschaft (Bild 1). Isler zeigt, dass die 22u22 m überspannenden Schalen am besten über die Diagonale bestiegen werden. Wir sind fast 8 m über Boden, nur 8cm Beton tragen uns. Isler erzählt, wie er die ersten Oberlichter, die später zum Markenzeichen der Industrieschale wurden, eigenhändig habe giessen müssen. Die glasfaserverstärkten Polyesterschalen mit einem Durchmesser von 5 m wurden später in grossen Mengen in Lizenz produziert. Hier oben erklärt uns Isler auch, wie seine anfänglich weissen Betonschalen mit der Zeit grau und schwarz werden „wie Felsen“. Danach heften sich Moos und Flechten an den Beton. Nie dringen sie in die Schale ein, denn diese habe eben keine Risse. Und tatsächlich lässt sich auf diesen nackten Betonkuppeln kein einziger Riss finden. 44 Jahre haben die Schalen auf dem Buckel, und man glaubt Isler gern, dass sie auch noch weitere Jahrzehnte mühelos überdauern werden. Dann führt uns der 80-jährige Schalenbaumeister den „Stampftest“ vor. Er weiss, an welcher Stelle er aufspringen muss, damit die ganze Schale zu vibrieren und zu tönen beginnt. Diesen Test habe er bei jeder Schale gemacht, nachdem man die Holzschalung zuerst 5cm gesenkt hatte und die Schale sich nach dem Betonieren zum ersten Mal selbst trug.


Im Modellgarten

Wir sind „im Schachen“ zwischen Burgdorf und Kirchberg, wo Isler 1964 sein einstöckiges Bürohaus errichtete. Am dreiflügligen, flach gedeckten Bau wandte Isler das gleiche Konstruktionsprinzip an wie bei den Schalen. Die Decke, die sonst durchhängen würde, ist vorgespannt. Durch diesen Druck können an der Aussenfläche keine Risse entstehen. Auch hier bildet nur der Beton die Dachhaut. Inzwischen ist das Flachdach ganz eingewachsen, es musste noch nie saniert werden.

Das Land um sein abseits gelegenes Büro war immer auch ein Testgelände. Hier stehen Kunststoffschalen im Gras wie Skulpturen in einem Park. Man findet beispielsweise ein 1:1-Modell für erdbebensichere Bauten im Iran (1977), die zusammen mit dem Architekten Justus Dahinden entwickelt wurden (Bild 3). Das „Bubble House“ - so würde man es heute nennen - sollte mit einem aufgeblasenen Ballon als wiederverwendbare Schalung gebaut werden. Der Sturz des Schahs setzte dem Projekt ein Ende. Daneben steht das 1:10-Modell der Schale für die Migros in Bellinzona (1964). An diesem 3.40u3.40 m grossen Modell erkennt auch ein in statischen Stärken Ungeschulter die hohe Tragfähigkeit einer Schale: Man getraut sich kaum, die knapp 1cm dünne Zementschale zu berühren, und fürchet, dass sie zerbrechen könnte. Doch die Schale ist hier seit mehr als 40 Jahren unbeschadet Frost, Wind und Wetter ausgesetzt (Bild 4).

Freie Formen

Vorbei an einem Vogelhaus aus einer Kunststoffschale, einem Modell einer Tennisschale, die Isler Ende der 1970er-Jahre entwickelte, betreten wir sein Büro (Bild 2). Zu den besten Zeiten arbeiteten hier 40 Personen, heute begrüsst Isler nur noch Herrn Glanzmann, seinen „Assistenten“, der ihn seit 40 Jahren begleitet. Dieser hat im Hausdienst begonnen, baute Modelle, kontrollierte Armierungen und bildete sich nach und nach zum Ingenieur weiter. Seit Isler einen neuen Beruf hat - er pflegt seine erkrankte Frau fast rund um die Uhr -, ist er nur noch selten im Büro anzutreffen. Deshalb leitet Glanzmann die anstehenden Arbeiten. Letztes Jahr waren das acht neue Industrieschalen in Bubendorf (BL). Trotzdem scheint die Zeit stillgestanden zu sein. Man kann sich gut vorstellen, wie hier die Ingenieure in den 1960er- und 1970er-Jahren in weissen Kitteln intensiv und gleichzeitig in Keller und Garten an den heute noch vereinzelt herumstehenden Modellen gearbeitet haben.

In den Gängen hängen Bilder von Islers wichtigen Projekten. Er zeigt uns das Gartenzentrum Wyss in Solothurn. Es war 1962 seine erste „freie Form“ - so nennt Isler die Schalen, die er mit seiner zweiten Methode zur Formfindung entwickelte. Die berühmten „Hängeformen“ gehen auf eine Beobachtung auf einer Baustelle zurück: Auf einem Armierungsnetz lag ein Stück Sacktuch. Nass von der vergangenen Nacht, zeigte es die schöne Gestalt der hängenden Form. Bei den folgenden Versuchen „fror“ er jeweils die Formen ein und drehte sie um. „Dabei wechseln die Spannungen das Vorzeichen. Sie gehen vom reinen Zug zum reinen Druck über.“ Später sollte Isler noch an einer dritten Methode arbeiten, an der Fliessmethode. Ziel dabei ist, dass das Material seine eigene Form findet: „selbstwerdende“ Formen, die man nur „richtig starten“ muss.

Isler zeigt uns die Kirche im solothurnischen Lommiswil (1967) und die Autobahnraststätte Deitingen (1968), die vom Abbruch bedroht war und heute geschützt ist. Er erzählt von seiner Mitarbeit an den Sportbauten für die Olympischen Spiele in München (1967-68), von seinem „Siebenfüssler“ für die Fabrikhalle Sicli in Genf (1970), von seinen Dutzenden von Gartencentern, die er in der Schweiz und in Frankreich bauen konnte, und von seiner grössten 54u58 m messenden Buckelschale für das Coop-Verteilzentrum in Wangen bei Olten (1960). Sie überspannt, in der Diagonale und in der Krümmung gemessen, 90 m - mit einer Stärke von 15 cm Beton. „Ist doch verrückt“, sagt Isler selbst.

Modellforschung

In einzelnen Büroräumen stapeln sich Archiv- und Planschachteln. Sie sollen dem Architekturmuseum in München übergeben werden. Was mit Büro und Garten geschieht, ist noch offen. Die Modelle im Keller sollen aber auch in die Pinakothek der Moderne transportiert werden, sobald dort Lagerplatz gefunden ist. Ja, die Modelle: Monatelang wurde an ihnen gearbeitet. Isler blüht auf, wenn er durch den Keller führt, auf die Plexiglasscheiben drückt, um die Wirkung einer Schale zu erläuten, an den unzähligen zusammengehängten Gewichten zieht.

Was hier verspielt aussieht, war jahrelange seriöse Forschung mit eigenen Mitteln. Isler konnte sich bei seinen Neuheiten keinen Fehler leisten. Die grossen Modelle, die ihn bis zu 100000 Franken gekostet haben, dienten dazu, die Grenzen der Schalen kennen zu lernen. Sie zeugen von Islers Gründlichkeit, aber auch von seiner Experimentierfreudigkeit, und sie machen deutlich, dass Isler kein fantastischer Entwerfer, sondern stets auch Baumeister war. Eberhard Schunk redet von der baumeisterlichen Einheit bei Isler.[2] Tatsächlich spricht selbst Isler von einem System. Sie hätten keine Einzelidee entwickelt, sondern sich immer auch mit der Witterung oder etwa mit der Betonmischung beschäftigt. Isler beurteilte die Schalen und kontrollierte die Ausführung. Dafür baute er ein ganzes Netz von Firmen und Zulieferern auf. Er bedauert, dass dieses Know-how langsam verloren geht. Der Architekt Pius Flury zitierte Alberti für Islers Bauwerke: „Eine Figur oder Form ist dann vollkommen, wenn sie ein einheitliches Ganzes bildet, dem man nichts mehr hinzufügen und dem man nichts mehr wegnehmen kann.“[3] Sein Assistent, Herr Glanzmann, fährt uns an den Bahnhof in Burgdorf zurück.
Anmerkungen
[1] Heinz Isler: Schalen der neuen Generation. In NZZ, 8. Februar 1995.
[2] Ekkehard Ramm und Eberhard Schunk: Heinz Isler - Schalen. Ausstellungskatalog, 3. ergänzte Auflage, Zürich, 2002.
[3] Pius Flury: Die Suche nach der perfekten Schale. In: tec21, 49-50/2002.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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