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TEC21 2014|12
Gezupft, gerupft, getupft
TEC21 2014|12
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Kirgisischer Filz

Ihre Herstellung ist arbeitsintensiv, ihre Muster sind ausdruckstark: Shyrdaks – doppelt genähte Filzteppiche – werden in Zentralasien seit Jahrhunderten hergestellt. Mit ihren kraftvollen Motiven lassen sie sich auch mit europäischen Interieurs erstaunlich gut kombinieren.

21. März 2014 - Tina Cieslik
Sie sind weich, flauschig, warm – und sie riechen nicht nach Schaf: In Kirgisistan werden Shyrdaks als textile Allzweckwaffe zum Isolieren der Jurten ebenso eingesetzt wie als Satteldecke. In den abgesteppten grafischen, meist symmetrischen Mustern manifestiert sich die Kultur der Region. Jedes Motiv hat eine Bedeutung – vorwiegend aus der Pflanzen- und Tierwelt oder aus dem Familienleben. Beliebte Formen sind beispielsweise das stilisierte Horn des Schafbocks (kochkor muyuz) oder abstrahierte aneinander gereihte Vogelschwingen als umlaufende Bordüre (kush kanat); oft sind es Bilder aus dem kirgisischen Nationalepos Manas.

Da es von jedem Ornament eine Positiv- und eine Negativform gibt, braucht es fundiertes Wissen, um die Kombinationen, die je nach Farbe variieren, korrekt lesen zu können. Tatsächlich lässt sich aber keinem Motiv eine universell gültige Bedeutung zuordnen, da jeder Shyrdak einen intuitive Komponente beinhaltet: Träume und Ziele der jeweiligen Herstellerin fliessen in die Produktion mit ein. Darauf weist auch das kirgisische Wort für «Idee, Ziel, Gedanke» hin, das auch «ein Design zum Ausschneiden entwerfen» bedeutet.

Während die Shyrdaks – «shyrdama» bedeutet «heften, nähen» – im Westen zunehmend bekannter werden, verliert die Tradition in Kirgisistan an Bedeutung. Die jungen Menschen übersiedeln in die Städte, für die Möblierung ihrer Wohnungen ziehen sie industriell hergestellte Ware aus synthetischen Stoffen vor. Seit Ende 2012 ist die Kunst der Shyrdak-Herstellung daher in der UNESCO-Liste des gefährdeten immateriellen Kulturerbes klassifiziert.[1] Filzen ist Frauenarbeit, die Mutter gibt ihr Wissen an die Tochter weiter. Der Shyrdak ist ein traditionelles Hochzeitsgeschenk der Älteren an die Jüngere. Verkauft wurden Shyrdaks früher nicht. Die seit 1991, seit der Unabhängigkeit des Landes, langsam, aber stetig steigende Nachfrage aus Europa sorgt nun aber dafür, dass mehr und mehr Frauen mit der Herstellung der Shyrdaks ihren Lebensunterhalt verdienen können. Denn trotz dem engen Bezug zur halbnomadischen Lebensweise der Kirgisen lassen sich die expressiven Teppiche gut mit europäischen Interieurs kombinieren. Die positiven Eigenschaften des Filzes – kälteisolierend bei geringem Gewicht, schalldämmend und feuchtigkeitsregulierend – tun ein Übriges. Bei guter Pflege besitzt ein Shyrdak eine Lebensdauer von etwa 30 Jahren.

Mit Muskelkraft und Seife

Neben den Shyrdaks nutzen die Kirgisen Filz für eine ganze Palette an Produkten, wie Taschen, Schuhe, Hüte oder Zeltplanen. Die Herstellung hat sich dabei kaum verändert. Nassfilzen ist eine der ältesten Techniken, um Textilien zu produzieren; Überreste von gefilzten Gegenständen können bis ins Jahr 6000 v. Chr. nachgewiesen werden. Auch heute noch wird in Kirgisistan zur Herstellung eines Shyrdaks zunächst die Wolle, hauptsächlich von Schafen, aber auch von Ziegen oder Yaks, gekämmt und durch Ausklopfen mit zwei Holzstäben gereinigt. Für einen grossen Filz benötigt man die Wolle von vier bis fünf Tieren. Die Wolle wird nun in drei Schichten auf einer Bastmatte (chij) ausgelegt. Dann übergiessen die Frauen die Wolle mit kochendem Wasser und Seife. Diese wirkt als alkalische Filzhilfe: Die Haare der Schafe besitzen eine dachziegelartig geschuppte Oberfläche, deren Plättchen aus Keratin sich durch Einwirkung der Seife aufstellen – eine optimale Vorbereitung für das spätere Verzahnen durch Walken.

Nun rollen die Frauen die Bastmatte zusammen, verschnüren sie zu einem Paket und versehen sie mit einem Überzug. Dann lassen sie das Paket etwa eineinhalb Stunden lang von einem Esel durch die Strassen ziehen oder stossen es mehrfach eine Anhöhe hinauf und hinunter – so soll der Filz die richtige Dichte erhalten. In einer zweiten Stufe rollen mehrere Frauen das Filzpaket über den Boden (Abb. oben). Auch in der Schlussphase kommen die Ellbogen zum Einsatz: Nachdem die Bastrolle entschnürt ist, walken die Frauen mit ihnen den Filz noch einmal nach. Durch die mechanische Bearbeitung entsteht ein fester Verbund, wobei das Ge- webe um etwa ein Drittel schrumpft.

Textile Intarsien

Je nach Verwendung erfolgt nun das Färben: Die nicht sichtbare Unterseite der Shyrdaks behält in der Regel die ursprüngliche Farbe der Wolle. Für die dekorativen Ornamente auf der Oberseite kommen traditionell natürliche Färbemittel wie Zwiebel- oder Baumnussschalen zum Einsatz. Diese Naturtöne sind vor allem im Westen beliebt. Die Kirgisen begeistern sich inzwischen für kräftige, bunte Muster aus synthetischen Farben.

Um ein Ornament herzustellen, legt die Handwerkerin zwei gleich grosse, verschiedenfarbige Filzstücke aufeinander. Anschliessend zeichnet sie mit Kreide freihändig die Hälfte oder ein Viertel eines Ornaments und klappt den Filz dann zusammen, sodass die gespiegelte Teilform zu einem Ganzen wird. Diese Arbeit verlangt ein ausgeprägtes räumliches Verständnis – es gilt, nicht nur das geometrische Verhältnis von Form und Randfläche zu beachten, sondern das Gesamtdesign des Teppichs im Auge zu behalten. Frauen, die die Ornamente zeichnen können, werden daher als Meisterinnen (usta) bezeichnet, das Talent dafür gilt als angeboren.

Das Muster wird mit einer Schere, früher oft auch mit einem scharfen Messer, durch die beiden zusammengehefteten Filzlagen hindurch ausgeschnitten. Sowohl das ausgeschnittene Ornament als auch die Negativform werden weiterverwendet, entweder für andere Elemente im selben Shyrdak oder in einem anderen Teppich. Es existiert also von jedem Exemplar ein farblich gespiegeltes Gegenstück, Reste gibt es keine. Im nächsten Schritt werden die Ornamente wie ein textiles Mosaikstück in die farblich kontrastierende Negativform eingelegt und mit einem Doppelzopfstich entlang der Konturen mit einem gesponnenen Faden (shona) vernäht. Farblich assortierte Kordeln (dje’ek) kaschieren die Naht und betonen gleichzeitig die Form des Ornaments. Zum Schluss versteppen die Näherinnen die dekorative Ober- mit der unifarbigen Unterseite. Pro Quadratmeter Teppich benötigen die Frauen zwischen 43 und 67 Arbeitsstunden, je nach Jahreszeit (im Winter mehr, im Sommer weniger) und Farbe der Filze (naturfarbige Filze brauchen weniger Zeit, bunt eingefärbte mehr).

Tradition und Objekt

In der Kultur der Kirgisen spielte die Herstellung der Teppiche einst eine wichtige Rolle, Shyrdaks gehören zu den bedeutendsten Kunstobjekten des Volks. Das Wissen über die Herstellung der Teppiche, ihre künstlerische Vielfalt, die Ornamentik und die damit verbundenen Zeremonien bilden eine Einheit und gaben dem kirgisischen Volk ein Gefühl von Identität und Kontinuität.

Heute hilft das westliche Interesse an den Textilien, dieses Erbe bewusst zu machen. Inzwischen gibt es mehrere Textilkooperativen, die Shyrdaks herstellen. Das Nationalmuseum in der Hauptstadt Bishkek führt zweimal jährlich Shyrdak-Ausstellungen durch. Neben diesen wichtigen kulturellen Funktionen überzeugen Shyrdaks aber vor allem als gute Produkte. Herstellung, Form und Funktion gehen hier eine schlüssige und attraktive Verbindung ein.


Anmerkungen:
[01] Dem Shyrdak verwandt sind die ebenfalls in Zentralasien verbreiteten Ayakiliz-Teppiche, bei denen die Ornamente bereits im ersten Filzdurchgang in den Teppich gelegt werden. Auch sie stehen auf der Liste des bedrohten Kulturerbes.
[02] Label-STEP gehörte bis Ende 2013 zur Max-Havelaar-Stiftung, die ein Gütesiegel für fair gehandelte Produkte vergibt. Seit Anfang 2014 ist die Organisation Teil der Entwicklungsorganisation «Brot für alle». Label-STEP engagiert sich für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in den Produktionsgebieten von handgefertigten Teppichen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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