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TEC21 2014|49
Kernkraftwerke rückbauen
TEC21 2014|49
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Von heiss zu kalt

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.

5. Dezember 2014 - Paul Knüsel
In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.
Text: Paul Knüsel

Der Traum vom eigenen Reaktor begann auf einer grünen Wiese im unteren Aargauer Aaretal. Ab Mitte der 1950er-Jahre lotete ein Konsortium der damaligen Grossfirmen Brown Boveri & Cie, Gebrüder Sulzer sowie Escher, Wyss und Cie das industrielle Potenzial der zivilen Atomtechnologie aus.[1] Walter Boveri persönlich schloss den Kaufvertrag für die abgelegene Parzelle zwischen Aare und Wald ab; in der Folge entstand darauf das Reaktorzentrum Würenlingen (Schweizerische Bauzeitung, Jg. 76, H. 38), und heute ist dies das östliche Gelände des Paul-Scherrer-Instituts (PSI). Hier erforschen Physiker und Chemiker der ETH nun Materialien, Supraleiter und Photovoltaikzellen; vor 57 Jahren trat die Schweiz an diesem beschaulichen Standort aber ins Atomzeitalter ein: Am 30. April 1957 wurde der erste Versuchsreaktor hochgefahren und die Uranspaltung in Gang gesetzt.

Die Testanlage war ein Swimmingpool-Reaktor mit Leichtwasser im Kühlbecken, dessen bläulicher Schimmer dem Reaktor den Namen Saphir verlieh. Die Anlage war eine US-amerikanische Entwicklung und zwei Jahre zuvor als Demonstrationsobjekt für die erste UNO-Atomkonferenz aus Übersee nach Genf gebracht worden. Die inländische Reaktor AG konnte den funktionstüchtigen Kleinreaktor erwerben und erhielt als Gastgeschenk noch 6 kg hoch angereichertes Uran dazu. Über drei Jahrzehnte dienten Saphir und die Brennstäbe der inländischen Reaktorforschung. Ende 1993 war Schluss: Anstandslos nahmen die Amerikaner die Uran-Isotope zurück; die Leute vor Ort kümmerten sich um den grösseren Aufwand für Ausserbetriebnahme, Dekontamination und Rückbau der Saphir-Anlage.

1998 reichte die PSI-Direktion das offizielle Stilllegungsgesuch ein, zwei Jahre später genehmigte der Bundesrat die Demontage. Die Rückbauarbeiten begannen 2002, und bis 2008 waren die Reaktorbestandteile, insbesondere die Unterwasserinstallationen und der Pool, mithilfe fernbedienter Werkzeuge zerlegt. Die Aufsichtsbehörde, die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK, heute: Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi), erlaubte, das Reaktorwasser ohne Kontaminationsgefahr für die Umwelt in die Aare einzuleiten. Vollständig aus der Welt sind die zerlegten oder eingeschmolzenen Rückbaumaterialien der Saphir-Testanlage trotzdem nicht: Die 500 t schwere Masse wurde möglichst klein verpackt und in 200-l-Fässer und Kleincontainer für die Zwischenlagerung einbetoniert (konditioniert).[2]

Weil sich im Untergeschoss des Saphir-Gebäudes ein temporäres Kernbrennstofflager befindet, bleibt die Aufsichtspflicht bestehen, und eine anderweitige Nutzung ist ausgeschlossen.[3]

Einmaliger Entlassungsentscheid

Auf dem östlichen PSI-Areal steht ein weiteres Gebäude, das seine kerntechnische Vergangenheit bereits überwunden hat. Über Jahrzehnte wurde darin ein zweiter Forschungsreaktor, Diorit, betrieben. Die schmucklose Halle mit Hochkamin verrät kaum, dass in ihr zwei Pionierleistungen für das Atomland Schweiz stattgefunden haben: 1960, drei Jahre nach Saphir, wurde der erste Forschungsreaktor «made in Switzerland» in Betrieb genommen; ein Team unter Leitung des ETH-Physikers Paul Scherrer hatte den Schwerwasser-Natururan-Typ mit 20 MW Leistung entwickelt. 53 Jahre später ist erstmals der vollständige Rückbau inklusive Entlassungsbescheid an einer kerntechnischen Forschungsanlage umgesetzt worden. Aber auch deren Bestandteile sind nur teilweise verschwunden: In der Zwilag-Spezialhalle für hochaktive Abfälle steht ein Castor-Transportbehälter mit einbetonierten Diorit-Brennelementen; 26 dickwandige Sicherheitscontainer mit 4.5 m³ Volumen stapeln sich in der Halle für schwach- und mittelaktive Abfälle. Hier warten sie auf die Eröffnung eines Tiefenlagers.

Stilllegung und Rückbau des Diorit-Forschungsreaktors nahmen fast zwei Jahrzehnte in Anspruch; eine solche Zeitspanne reicht inzwischen für das Abräumen ganzer Kernkraftwerke aus. Zwar lassen sich weder Dimension, Struktur noch Geometrie der Versuchsanlagen mit einem KKW vergleichen, doch bei der Vorgehensweise und dem Umgang mit radioaktiven Materialien sind Parallelen unverkennbar. Bei der Wahl der Rückbaustrategie und mit teilweise selbst entwickelten Dekontaminations- und Konditionierungsverfahren haben die Verantwortlichen am PSI sogar gut verwertbare Pionierarbeit geleistet. Einerseits war Mitte der 1980er-Jahre die Umsetzung eines Rückbauentscheids für die Schweiz technisches, organisatorisches und regulatorisches Neuland. Konzeption und Planung übernahmen die mit den Kleinreaktoren vertrauten PSI-Forscher. Für zusätzlichen Wissenstransfer sorgten Kontakte nach Süddeutschland: In Bayern begann 1987 der Rückbau des mittelgrossen Kernkraftwerks Niederaichbach; ebenso waren in Karlsruhe Stilllegungsarbeiten an Testanlagen im Gang. Andererseits gelang es den PSI-Verantwortlichen, mehr als die Hälfte des über 7 m hohen Zylinders aus Baryt- und Colemanit-Beton, Stahlblech, Gusseisen und Aluminium in strahlungsfreie und daher konventionelle Abbruchmaterialien aufzutrennen.

1994 bewilligte der Bundesrat den Rückbau

des Diorit-Reaktorblocks. Definiert waren vier Demontagephasen und ein Dutzend Auskern- und Zerlegungsschritte, verteilt auf neun Jahre. Leicht verstrahlte Rückbauteile wurden anfänglich in ein geschütztes Abklinglager gebracht. Der Einsatz von Diamantkreissägen und Bohrmaschinen wurde aus dem Kommandoraum fernbedient gesteuert und überwacht; solche Trennverfahren (vgl. Kasten S. 29) werden bei Leistungsreaktoren inzwischen standardmässig eingesetzt. Neuartige Techniken waren am 1 : 1-Modell («Mock-up») hinsichtlich des Störfallrisikos zu erproben. Und eine zusätzliche Erkenntnis war, dass das Zerlegen und Konditionieren der Abfälle den Aufbau einer Infrastruktur vor Ort bedingt: Im Kellergeschoss des Diorit-Gebäudes steht ein Induktionsofen, in dem der zerteilte Aluminiumtank eingeschmolzen wurde. Eine Betonieranlage diente dem Verfüllen der Entsorgungscontainer. Diese Dekontaminierungs- und Konditionierungsinfrastruktur kann für künftige Rückbauarbeiten verfügbar sein. Ausserdem war ein Mess- und Überwachungssystem in- und ausserhalb des Diorit-Forschungsgebäudes einzurichten. Eigens dazu wurden Grundwasserbrunnen ausgehoben, um den allfälligen Austritt von Radioaktivität nicht zu verpassen.

Premiere bei der Abfallkonditionierung

Die Rückbauformel in aktuellen Stilllegungskonzepten lautet: von heiss zu kalt. Bereits der Diorit-Reaktorzylinder ist von innen nach aussen und von oben nach unten ausgeräumt worden.[4] Standard damals und heute ist ebenso, das Reaktor-Containment – die biologische und die thermische Schutzhülle – sowie die Lüftungsanlage so lange nicht anzutasten (vgl. «Rückbau von KKW», S. 22), bis das hochaktive Kernmaterial und weitere radioaktive Reaktorteile entfernt sind. Die grösste Innovation ist den Forschern der PSI-Sektion Rückbau und Entsorgung allerdings bei der Konditionierung der verstrahlten Diorit-Abfälle gelungen. Um das Volumen von rund 40 t radioaktivem Grafit zu reduzieren, entwickelten sie ein Verfahren, von dem die Kraftwerksbranche bis heute profitiert. Statt das Grafit, ein Puffermaterial im Kernreaktor, separat in Endlagerbehälter einzubetonieren, wird es vermahlen als Sandersatz dem Füllmörtel beigemischt.[5] Die Konditionierungstechnik mit PSI-Patent verringert die Zahl der Abfallgebinde, zudem festigt grobkörniger Grafit die Füllmasse.

Aktuell wartet auf dem PSI-Gelände eine dritte Forschungsanlage auf die kerntechnische Demontage; Proteus, ein wandelbarer Reaktortyp, wurde 2011 nach 43 Jahren ausser Betrieb genommen. Der Rückbau ist bereits geplant; er wird von den positiven Erfahrungen und den unvorhersehbaren Ereignissen bei den Demontagearbeiten an Saphir und Diorit profitieren. Zweimal musste die Aufsichtsbehörde damals intervenieren:
So war die Strahlendosis für das Rückbaupersonal kurze Zeit leicht erhöht, wurde aber als «tolerierbar» eingestuft.[6] Und als beim Auftrennen einer Rohrleitung Asbest auftauchte, wurden die Abbrucharbeiten mehrere Monate unterbrochen. Mehraufwand ohne erhöhtes Sicherheitsrisiko verursachte zudem die Demontage des Diorit-Zylindermantels. Radiologische Messungen in der 2.5 m dicken Betonwand zeigten eine stärkere Verstrahlung als ursprünglich gedacht. 25 cm tief war die radioaktive Schicht mit einem Hohlrohrbohrer zu entkernen. Der äussere Mantel blieb unverschmutzt, sodass rund 60 % der Diorit-Reaktormasse, vor allem Beton und Stahl, nach dem Freimessen Abbruchmaterial von unbedenklicher Entsorgungsqualität sind.


Anmerkungen:
[01] Tobias Wildi, Die schweizerische Atomtechnologie-Entwicklung 1945–1969, Zürich 2003
[02] Hans-Frieder Beer, Radioactive waste management at the Paul Scherrer Institute, Nuclear technology & radiation protection 2009
[03] Ensi-Gutachten zum Stilllegungsprojekt der PSI-Versuchsverbrennungsanlage, Brugg 2012
[04] Fritz Leibundgut, Decommissioning and dismantling of the diorit research reactor, PSI 1998
[05] Hans-Frieder Beer, Complete Conditioning of Activated Reactor Graphite, Strahlenschutzpraxis 4/2009
[06] Aufsichtsbericht zur nuklearen Sicherheit und zum Strahlenschutz in den schweizerischen Kernanlagen, Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) 2004

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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