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db deutsche bauzeitung 01-02|2015
Bildungsbauten
db deutsche bauzeitung 01-02|2015

Der vertikal verlängerte Platz

Katalanische Wirtschaftskammer in Barcelona (E)

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

18. Januar 2015 - Markus Jakob
Für die einen bedeutet »Bildung« das reine Ansammeln von Faktenwissen, für die anderen bezeichnet der Begriff eine glückhafte Verbindung von allseitiger Offenheit und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und nutzbar zu machen. Für Letztere haben die Architekten Roldán + Berengué mit ihrem Neubau für die Wirtschaftskammer einen Ort geschaffen, der nicht einfach nur einen weiteren Stadtbaustein darstellt, sondern durchlässige Räume bildet, die das öffentliche Leben einsaugen, reflektieren und auch in dieses hinauswirken.

Anknüpfungspunkte und Verbindungen, v. a. historischer Art, gibt es einige: Der Platz, dessen nördliches Ende das Seminar- und Verwaltungsgebäude belegt, ist nach Galla Placidia, der letzten römischen Kaiserin benannt. In ihrem bewegten Leben bekam sie es zwischen ihrer Geburtsstadt Konstantinopel und Spanien mit Goten und Hunnen zu tun. Im Jahr 414 brachte sie, entführt und zwangsverheiratet, in Barcelona ein Kind des Westgotenkönigs Athaulf zur Welt. Daher die ehrenhafte Benennung des Platzes, den man im Grunde als eine, wenn auch beträchtliche, Aufweitung der Via Augusta ansehen kann, die ihrerseits wiederum auf das römische Straßennetz verweist.

Viele Barcelonesen hatten zu diesem Winkel in der oberen Stadtmitte, zwischen den Quartieren Gràcia und Sant Gervasi, eine sentimentale Beziehung: Hier befand sich innerhalb einer alten Industriestruktur ein kleiner Rummelplatz – sein Karussell unter dem Namen El Caspolino war stadtbekannt. Dem trägt der Neubau im Eingangsbereich mit Druckmotiven auf den Glasfassaden Rechnung, deren Vokabular zwar den Wirtschaftswissenschaften entliehen ist, aber zugleich auch die Pferdchen des alten Karussells diskret nachbildet. Ähnlich gestaltet sind die Sonnenschutzaufdrucke der Verglasungen in den OGs, wo Texte zu dekorativen Streifen zusammengebunden sind und – so heißt es – die Hälfte des einfallenden Sonnenlichts reflektieren.

Vom obersten Stockwerk mit prachtvoller Aussicht aus reicht der Blick auf der einen Seite zu Bofills umstrittenem Segel des Hotel W vor dem Meereshorizont, auf der anderen zu Fosters Kommunikationsturm hoch oben auf der Serra de Collserola. Zu Füßen breitet sich eine zum reinen Fußgängerbereich umgestaltete Fläche von 150 x 45 m aus.

Schmal, aber weit

Von dem schmalen, 380 m² messenden Grundstück nimmt sich das ebenso unterkühlt wie hochherzig auftretende Gebäude 32 m entlang der Platzkante und gerade einmal 10,5 m in der Tiefe. Von außen präsentiert es sich als von Vertikalen geprägter Abschluss des Platzes; seitlich – an der Via Augusta – gibt es sich bis auf einen verglasten Streifen hermetisch. Die Geschosseinteilung wird dabei verschleiert, indem eine übergeordnete Geometrie mit nach oben hin zunehmenden Höhen von etwa 4, dann 7 und schließlich 13 m mitunter zwei Geschosse zusammengefasst und somit eine scheinbare Dreistöckigkeit erzeugt. Dieses Spiel mit den Fassadenflächen thematisiert den Übergang vom durchschnittlich dreigeschossig bebauten Viertel Gràcia in das wesentlich höher aufragende Viertel Sant Gervasi, den der Platz markiert. Der schmale Bereich über dem EG ist vom Mehrzwecksaal belegt, im mittleren Bereich sind die Seminarräume versammelt und hinter den fast turmartig aufragenden Stufen ganz oben befinden sich kleinere Räume und die Verwaltung.

Das Innere ist v. a. von Holzoberflächen geprägt und wird dadurch zu einer Art städtischem Wohnzimmer. Durch die Mischung edlerer mit sehr günstigen Materialien und z. T. vorfabrizierten Elementen konnte man im Kostenrahmen bleiben. Erstaunlich ist, auf wie einfache Weise – übrigens durchweg mit marktgängigen Materialien und Objekten ausgestattet – ein solches Kleinod ein anderes, dem viele Barcelonesen nachtrauerten, würdig ersetzen kann.

Es finden sich subtile Details wie z. B. die seitlich zwischen den Gebäudestützen eingelassenen Sitznischen des Auditoriums im 1. UG, deren modisch abgeschrägte Holzvertäfelung den Blick aufs Podium erweitert.

Kaum prägnanter hätte die Trennung zwischen den Schulungsräumen und den vorgelagerten Vestibülen mit hölzernen, in den Pausen weit zu öffnenden Zwischenwänden ausfallen können. Der massive Wechsel von den hermetisch wirkenden, ganz in Weiß gehaltenen Seminarräumen zu den warmtonigen, sonnendurchfluteten Flurzonen muss jedem Seminaristen wie eine Offenbarung vorkommen.

Mit dieser längsseitigen Zweiteilung wurden auf allen sechs Geschossen sich wiederholende Räume geschaffen. Die kommunikativen Flure dienen dabei als klimatische und akustische Pufferzonen. Man darf sie getrost als Balkone ansehen. Sie liegen zwar hinter der doppelten, das Klima kontrollierenden und – zumindest rechnerisch – fast drei Viertel der eingestrahlten Energie abwehrenden Glasfassade, nehmen zum Platz aber dennoch eine symbiotische Beziehung auf, quasi als dessen vertikale Verlängerung. Ein Vergleich mit den Terrassen japanischer Tempel erscheint nicht abwegig. Japanische Einflüsse, etwa die in Tatami-Manier ausgelegten keramischen Bodenbeläge, werden weder verleugnet noch hochgespielt. Die stützenfreien Geschosse sind wie Räume eines japanischen Hauses frei konfigurierbar gedacht. Auch die Verwandtschaft der bedruckten Gläser mit Papierwänden darf man anerkennen, wenngleich sie eher einer Neuinterpreation altbekannter Brise-Soleils gleichkommen, wie sie traditionell zum Bild Barcelonas gehören. Die Architektin Mercè Berengué meint dazu: »Das Lattenfenster ist Buchstabe geworden.«

Trotz der beengten Verhältnisse nimmt das Gebäude von den rückseitig angrenzenden Bauten etwa einen Meter Abstand. Große Teile der Innenräume lassen sich somit beidseitig belüften und von Norden her belichten. Fenster zu den Nachbargebäuden und zu einem Innenhof hin erlauben ein Minimum an Licht in den unteren Stockwerken, ausreichend davon in den vom Platz abgewandt liegenden Räumen und in den obersten beiden Geschossen. Durch den kompakten Baukörper, die großen Glasflächen der Doppelfassade und den Sonnenschutz erhofft man sich eine Energieeinsparung von 45 % gegenüber dem spanischen Standard.

Tagsüber reflektiert das Glas der Fassaden den Himmel und das Treiben auf dem Platz, nachts wird es durchsichtig und das Gebäude nimmt den Charakter eines Setzkastens an. Mit seiner Offenheit und der Art, wie es je nach Beleuchtung von seinem Innenleben erzählt, bietet das Gebäude den Nutzern die Gelegenheit, nicht nur physikalisch ihren Blick in die Stadt hinein zu weiten, sondern auch ihre Gedanken aus der Innensicht in die Außenwelt zu übertragen.

Mit diesem Werk haben die Architekten bereits eine ganze Reihe regionaler und auch internationaler Preise eingeheimst – angesichts der Vielzahl guter Ideen und der hochästhetischen Gestaltung völlig zu Recht.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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