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db deutsche bauzeitung 01-02|2015
Bildungsbauten
db deutsche bauzeitung 01-02|2015

Stadt in der Stadt

Ein Ehemaliges Industrie-Areal in Zürich wird zum Hochschulstandort

Der Koloss der früheren Toni-Molkerei im Züricher Industriequartier ist zu einem hybriden Gebilde umgebaut worden, das neben 100 Mietwohnungen auch eine der größten Kunsthochschulen Europas sowie Fachbereiche der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften beherbergt. Gibt sich der Bau nach außen eher hermetisch, so besteht das Konzept einer »inneren« Stadt den Praxistest und überzeugt in hohem Maße.

18. Januar 2015 - Hubertus Adam
1977 eröffnete im Westen Zürichs die größte Molkerei Europas. Unter dem Namen »Toni« verarbeitete die Milchwirtschaft des Schweizer Mittellands hier ihren Rohstoff zu Milchpulver, Joghurt und Käse. Die Dimensionen des mit Trapezblech bekleideten Kolosses waren enorm: 1 Mio. Liter Milch pro Tag wurden verarbeitet, und auf einer spiralförmigen Rampenspindel konnten Autos bis auf das Dach fahren. Überproduktion und Zusammenlegungen mit anderen Molkereien führten allerdings sukzessive in die Krise: Zunächst wurde die Produktion nach Ostermundigen bei Bern ausgelagert, dann ging Swiss Dairy Food, wie Toni inzwischen firmierte, in Konkurs. Aus der Toni-Molkerei wurde damit das Toni-Areal – eine Industriebrache, die der neuen Entwicklung harrte. 12000 t Stahl und 75 000 m³ Beton waren in den 70er Jahren in die Struktur verbaut worden. Ein Abriss kam aus Kostengründen nicht infrage, und weil niemand zunächst eine zündende Idee hatte, was mit der quartiersbeherrschenden Hinterlassenschaft anzufangen wäre, setzte zunächst eine informelle Zwischennutzung ein: Die in der Ruine eingenisteten Clubs, Rohstofflager, Toni-Molkerei und Dachkantine zählten in den Nullerjahren zu den Fixpunkten des Züricher Partylebens. Aus der Konkursmasse von Swiss Dairy Food war die Milchkathedrale inzwischen in den Besitz der Zürcher Kantonalbank übergegangen. Der zunächst in Erwägung gezogene Umbau zu Büroflächen blieb wegen der sinkenden Nachfrage nach Büros und der dadurch fallenden Mietpreise unrealisiert. Hinzu kam, dass weitere Büroflächen im Entwicklungsgebiet Zürich-West – zumindest aus städtischer Sicht – kaum zur dringend ersehnten Belebung beigetragen hätten.

Zwei Hochschulen, ein Standort

Eine Machbarkeitsstudie ebnete den Weg zum Umbau des Toni-Kolosses in einen Hochschulstandort. Hintergrund war die zur Anpassung an den Bologna-Prozess eingeleitete Neuordnung der Züricher Fachhochschullandschaft. So entschloss man sich, die aus dem Zusammenschluss der Hochschule für Musik und Theater sowie der Hochschule für Gestaltung und Kunst hervorgegangene Züricher Hochschule der Künste (ZHdK), die bislang auf 37 Standorte verteilt war, im Toni-Areal zu konzentrieren; als Satelliten erhalten blieben lediglich das Museum für Gestaltung, das Museum Bellerive und das Theater der Künste an der Gessnerallee. Und weil Raumbedarfsanlaysen ergaben, dass im Toni-Areal noch etwas Platz blieb, kamen zwei Studiengänge der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hinzu: der für Soziale Arbeit und der für Angewandte Psychologie. Die Berührungspunkte zwischen ZHdK und ZHAW dürften nicht allzu vielgestaltig sein, aber die Stichworte Konzentration und Synergie genügten zu dieser Zeit schon, um neue Investitionen zu legitimieren, mit denen andere Investitionen zu reduzieren seien. 2005 beschloss der Züricher Regierungsrat die Hochschullösung für das Toni-Areal, und noch im gleichen Jahr wurde ein Studienauftrag unter sieben Architekturbüros lanciert. Das 2006 zur Ausführung bestimmte Projekt stammte vom ortsansässigen Büro EM2N.

Acht Jahre später, zum Wintersemester 2014, wurde der neue Kunstcampus in Betrieb genommen, was für Schweizer Verhältnisse und angesichts der Dimensionen des Projekts durchaus akzeptabel anmutet. Aber die Fertigstellung verzögerte sich trotz Baubeginn 2008 mehrfach – zunächst weil die Clubbetreiber eine längere Dauer der Zwischennutzung erwirken konnten, und später weil die Komplexität des Gesamtprojekts alle Beteiligten an ihre Grenzen brachte. Spricht man über die Beteiligten, so ist zunächst das Gesamtfinanzierungsmodell erklärungsbedürftig.

Auch wenn es sich bei der ZHdK und der ZHAW, die den Großteil des Volumens beanspruchen, um staatliche Hochschulen handelt, trat der Kanton Zürich hier nicht als Bauherr auf, sondern als Nutzer. Für die Finanzierung und Umsetzung des Projekts zeichnete die, zudem als Generalunternehmer fungierende Allreal verantwortlich, die das Toni-Areal Ende 2007 von der Züricher Kantonalbank erwarb und damit zur Eigentümerin der Liegenschaft wurde. 547 Mio. CHF will die Allreal als Baukosten investiert haben, 228 Mio. steuerte der Kanton einmalig für Innenausbau und Ausstattung bei. Zudem wurde ein Vertrag über 20 Jahre geschlossen, demzufolge der Kanton jährlich 15,2 Mio. Nettomiete an Allreal zahlt. Um das Ganze noch attraktiver zu machen, umfasste das Bauprogramm auch 100 Mietwohnungen, für die der zur Pfingstweidstrasse hin orientierte zwölfgeschossige Hochbauteil des Bestands um weitere zehn Geschosse aufgestockt wurde und nun eine Höhe von 75 m erreicht.

Von suburbanem Geist geprägtes Umfeld

Mit Mietpreisen zwischen etwa 3 000 und 7 000 CHF pro Monat wird jene Zielgruppe anvisiert, die auch die in den letzten Jahren ringsum aus dem Boden geschossenen Hochhäuser besiedeln soll: Menschen, die sich problemlos auch ein Domizil am gediegenen Zürichberg leisten könnten, aber dennoch das Industriequartier bevorzugen. Dieses besitzt zwar den von Marketingstrategen ohne Unterlass beschworenen Nimbus des Trendquartiers, doch die wirklich trendigen Clubs muss man mittlerweile suchen, die angesagten Orte finden sich in anderen Teilen der Stadt. Hochhäusern und Bauboom zum Trotz: der Westen Zürichs entlang der Ausfallachse Pfingstweidstraße ist eine öde Gegend und – trotz zum Teil herausragender Architektur wie dem Zölly-Hochhaus von Meili, Peter Architekten – ein Desaster, ja eine Bankrotterklärung der Stadtplanung. Die einzelnen Bauten wirken wie abgestellt, weil eine konsistente Freiraumplanung nicht existiert. Baulich wird mit einer Phalanx von Hochhäusern Dichte suggeriert, doch wer sich auf Bodenniveau bewegt, durchquert eine Pseudo-Parklandschaft von suburbanem Geist: Abstandsgrün allerorten, bemüht gestaltet – jeder Schrebergarten, der am Rand des Gleisfelds einst bestand, trug mehr zur Belebung des Quartiers bei als die heutige Mischung aus Teermeer und Begrünungskrampf.

Dass seit jüngstem 3 600 Studierende und 1 650 Lehrende und Mitarbeitende das Quartier bevölkern, ist gleichsam ein Geschenk für das Entwicklungsgebiet im Zürcher Westen. Doch die tatsächliche Verzahnung mit dem Umfeld lässt Fragen offen. Auf der Seite der Pfingstweidstraße führt eine Rampe hinauf zum Haupteingang und zur zentralen Halle der Hochschulen. Von der Tramhaltestelle aus kann man in das Gebäude hineinschlüpfen, doch allein mit dem Taxi vorzufahren ist unmöglich. Nicht besser ist es auf der Nordseite: Die weit ausgreifenden Rampenspindeln, die früher den Lkw dienten, wirken zwar als große Geste, sind aber durch Poller abgesperrt und harren einer Nutzung. Vielleicht gilt es, bis zum Frühjahr zu warten ...

Offen für alle(s)

Man mag über die gewellte und perforierte Streckmetallhaut, die das gesamte Gebäude umhüllt, streiten: sie soll an die industrielle Vergangenheit der Toni-Molkerei erinnern und wirkt doch mit ihrem gräulich-generischen Charakter zumindest aus der Ferne wenig anziehend, erst recht nicht nach Kunstschule und visionärem Inkubator.

Doch die Struktur des inneren Aufbaus, die EM2N schon im Wettbewerb vorgeschlagen hatten, überzeugt. Die Rampe von der Pfingstweidstraße führt hinauf zur zentralen Halle, die sich an der Schnittstelle zwischen Hoch- und Flachbau befindet und mit einer Länge von 90 m das Volumen in seiner Breite durchsticht. Es ist der zentrale Verteilerraum des Gebäudes, und, bestückt mit Holzmöbeln, auch sein informelles Foyer. Café und Mensa schließen sich an, rechts – im Sockel des Hochbaus – gelangt man zum Ausstellungsbereich des Museums für Gestaltung und zum Schaudepot, links schließen sich zwei große Auditorien an. Unterhalb der Betondecke sind die Leitungen offen geführt; der experimentelle Charakter wird hier sichtbar wie sonst nur an wenigen Stellen. Denn die bis auf jeden Quadratmeter durchgeplante Nutzung des Gebäudes lässt kaum noch erahnen, dass es sich im Grunde um ein bestehendes Tragwerk handelt. Zahlreiche Zwischendecken, die in das Betonskelett gesägten fünf Innenhöfe, die Aufstockungen und die Streckmetallhülle haben jegliche Rauheit abgeschliffen.

EM2N, die ja selbst von der niederländischen Architektur der 90er Jahre inspiriert sind, konnten unter Schweizer Bedingungen in ihrem hybriden Gebilde selbstredend nicht jenes radikale Resultat erzielen, das man sich vielleicht gewünscht hätte: eine parasitäre Eroberung einer bestehenden Struktur.

Von der Halle aus führt die »Kaskade« diagonal durch den Flachbau, in dem die ZHdK untergebracht ist. Eine breite Treppenanlage bildet gleichsam das Rückgrat, das die Ebenen miteinander verbindet und bis zum Konzertsaal hinaufführt, der sich auf dem Niveau des Dachs befindet. Da es EM2N gelungen ist, die Fluchtwege so zu organisieren, dass sie nicht über die Kaskade verlaufen, ist diese weit mehr als nur Erschließung: Sie bietet Orientierung in einem mit seinen ungefähr 1 500 Räumen tendenziell unübersichtlichen Gebäude, und sie kann überdies für Aufführungen oder Ausstellungen genutzt werden. Schließlich handelt es sich um die zum Flanieren einladende Promenade in der inneren »Stadt«, wie die Architekten ihr Gebäude verstehen. Und wie Städte aus repräsentativen Bauten und Alltäglichem bestehen, so differenzieren EM2N zwischen einfachen Räumen wie den Werkstätten und Übungsräumen, die sich unter anderem auch in den Tiefen der Kellergeschosse befinden, und den »Perlen«, also den Sondernutzungen mit öffentlicheren Funktionen: der Konzertsaal, ein mit Orgel ausgestatteter Kammermusiksaal mit schwarzen bubbleartigen Wandverkleidungen, ein Studiokino, ein Jazzclub, aber auch die › › geräumige Bibliothek, die sich im Hochbau befindet. Die ebenfalls in diesem Bauteil angesiedelten Fachbereiche der ZHAW werden durch eine kleinere Kaskade erschlossen, in diesem Fall ein Treppenschacht von piranesiartig anmutenden Charakter.

Die Stadt, die EM2N in die Tragstruktur der Toni-Molkerei integriert haben, besitzt auch Parks. In den Innenhöfen, die zur Belichtung unabdingbar sind, v. a. aber auf dem Dach des Flachbaus. Hier hat das Büro Studio Vulkan eine grandiose, fast dschungelartig wirkende Landschaft aus Pflanzkästen entstehen lassen, die – und das ist das Beste – allen offen steht, den Studierenden, den Lehrenden, aber auch den Besuchern. So wie sich auch jeder frei durch die Hallen, die Korridore und die Kaskaden bewegen kann. Mit 600 Veranstaltungen im Jahr ist irgendwo auch immer etwas los. Hier ist sie wirklich entstanden, die lebendige Stadt, die man in der Umgebung vermisst.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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