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TEC21 2015|05-06
Vater und Sohn Neufert
TEC21 2015|05-06
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Pragmatisch-eleganter Systemiker

Architekten kennen Ernst Neufert als Verfasser der Bauentwurfslehre. Dass er ab der Zwischenkriegszeit seine Systeme bei Bauten erprobte und als Meister des Industriebaus galt, ist jedoch wenig bekannt.

30. Januar 2015 - Michael Kasiske
Zu Lebzeiten galt Ernst Neufert als Deutschlands bekanntester Architekt von Industriebauten.[1] Bezeichnend war seine klare Analyse von Bauaufgaben, aus der effiziente Konzepte hervorgingen. Jedoch überstrahlte das Bild der Autorität im weissen Anzug seine Rolle als aktiver Entwerfer – so wie heute seine Bauten hinter der Bauentwurfslehre, «dem Neufert», zurücktreten.

Bis in die 1970er-Jahre vermeldete die Bauwelt regelmässig Auszeichnungen und Ehrenprofessuren von Ernst Neufert. Im Nachruf 1986 steht die ironische Bemerkung: «Von seinem Ruf, der typische unpolitische Architekt zu sein, hat er sich nie ganz befreien können.»[2] Damit wird er in die Phalanx deutscher Architekten gestellt, die ihre ersten Erfolge den Aufträgen des «Dritten Reichs» verdanken. Sie beteiligten sich selbstverständlich in der Nachkriegszeit am Wiederaufbau, wobei Neufert unter ihnen eine zentrale Rolle einnahm.[3] «Er ruht auf dem bombensicheren Fundament des von ihm erfundenen Rasters», schrieb ein Kollege 1949 lakonisch, «und mit seiner Entwurfslehre verdient er erneut viel Geld.»[4]

Autarkes Anwesen in Krisenzeit

1929 entwarf Neufert sein erstes eigenes Haus als Holzbau in Gelmeroda bei Weimar. Das 10 × 10 m grosse kompakte Versuchshaus für industrielles Bauen mag durch seine aus Zweck und Bautechnik gegründeten Gestalt ideell konzipiert gewesen sein (Abb. rechts oben). Das Holzskelett wurde in der amerikanischen «Balloon Frame»-Bauweise in nur zweieinhalb Tagen errichtet.[5]

Zeit- und Kostengewinn – etwa 15 % gegenüber Ziegelbauten – gingen mit dem Bemühen progressiver Architekten der Weimarer Republik einher, ein «Haus für alle» zu ermöglichen.[6] Die Ästhetik des Baus ist nach praktischen Aspekten ausgerichtet, wie das ungewöhnlich weit auskragende flache Zeltdach und die Fensterbänder zeigen. Im Innern erschliesst ein zentrales Treppenhaus alle Räume und erübrigt Flure; Einbaumöbel nutzen das begrenzte Volumen optimal aus. Mit dem grossen Garten zur Selbstversorgung und zur körperlichen Ertüchtigung schuf Neufert zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ein autarkes Anwesen.

Architektur als Bedeutungsträger

Dagegen erscheint das über zwanzig Jahre später geplante Ledigenheim in Darmstadt altbacken (Abb. S. 18). 1951 hatte Neufert den Entwurf beim Darmstädter Gespräch zum Thema «Mensch und Raum» präsentiert.[7] Detailliert leitete er den U-förmigen Block mit der Hochhausscheibe aus der städtebaulichen Lage ab, ebenso wie er den Funktionen genau ihren Platz zuwies: vom Pförtner, der alle Kommenden und Gehenden im Blick hat, bis hin zur Disposition der Apartments, in denen es trotz der Enge nicht zu unkomfortablen Doppelnutzungen wie etwa Sofa/Bett kommen muss. Der einseitig ausgerichtete Entwurf des «Junggesellenhauses» fusst auf Neuferts Idee eines städtischen Ferienheims nah am Wald und ohne Gegenüber.[8] Sie wurde jedoch später nicht realisiert. Der Raster der Fassade aus dunklem Klinker kontrastiert mit vorgefertigten Balkonen und Stürzen aus Sichtbeton. Diese Expressivität scheint unbeabsichtigt, denn der Betrachter soll lernen, «das Echte, Logische, Gewachsene und Notwendige von dem rein äusserlich Ästhetischen und dem um der Sensation willen Sensationellen zu unterscheiden».[9]

Charakteristisch beim von 1955 bis 1965 nach einem Gesamtkonzept Neuferts bei Heidelberg errichteten Eternit-Werk (Abb. S. 20) ist der verwendete, in Eigenfabrikation hergestellte Baustoff.[10] Da die Hallen schnell gebaut und erweitert werden mussten, sind die Hauptwände des tragenden Stahlskeletts mit Porenbetonsteinen ausgefacht. Als raumabschliessende Hülle für Wände und Dächer dient Welleternit, denn es sichert die kubische Geschlossenheit und zeigt sich von eigentümlichem Reiz und selbstständiger Wirkung.[11] Es gab handfeste Gründe: Asbestzement fand im Industriebau aus Kostengründen und weil es für Sonderanschlüsse leicht verformbar war Verwendung.[12] Konstruktiv reizvoll ist der lichte Speisesaal (Abb. S. 20) mit seinen Filigranträgern. Eine sparsame Farbgebung lässt die Fabrik beeindruckend minimalistisch erscheinen.

100 000 Pakete pro Tag

Der ebenfalls 1955 begonnene und bis 1975 abschnittsweise realisierte Komplex des Versandhauses Quelle in Nürnberg ist voluminöser und funktional dichter. Anlass war die gewünschte Steigerung des Ausstosses auf mindestens 100 000 Pakete täglich. Dafür wurde ein dreigeteiltes System entwickelt: «ein koordinatengesteuertes Kommissionierungslager, ein ‹chaotisch› arbeitendes Überfliesslager und ein Auslieferungslager, in dem die Waren auf Band so zusammenliefen, dass ein Bestellvorgang in einem Packvorgang mündete».[13]

Das Informatiksystem Quelle bestand aus Bandanlagen, Kreisförderer und Paternoster, die bestimmten gesteuerten Abläufen gehorchen mussten.[14] «Hier muss der Architekt unkonventionelle Wege gehen», erkannte Neufert, «und sich auch mit […] Transportanlagen beschäftigen, um alles zu einem harmonischen Ganzen zu führen.» Er schlussfolgerte, dass «dazu eine weise Beschränkung auf nur wenige Baustoffe anzuraten [ist]».[15] Deshalb wurde der Quelle-Komplex als flexibler Stahlbetonbau mit einer Verkleidung aus Klinker errichtet, deren Verband fliessend wirkt (Abb. S. 21).

Auch die übereck geführten, mit Sichtbeton abgesetzten Fensterbänder lassen die horizontalen inneren Abläufe sichtbar werden. Neben eleganten Details beeindruckt der Bau vor allem als wirtschaftlich errichtete Masse.

Im seinem Schaffen blieb Neufert der Ökonomie von Funktion, Geometrie und Material verpflichtet. Selbst die Villen erscheinen wie Einfamilienhäuser, jedoch stets mit besonderem Bezug zur Landschaft. Ernst Neuferts Erfolg lag in seiner Person begründet, wie die Charakterisierung eines Hochschulkollegen ahnen lässt: «Neufert war ein Meister des Aufschneidens und der subtilen Verfälschung, in Letzterem Albert Speer nicht unähnlich, sagen wir doch einfach: Er war ein Architekt.»[16]


Anmerkungen:
[01] Vgl. Werner Durth, Deutsche Architekten. Biografische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig 1986, S. 378 f.
[02] Autor unbekannt, Bauwelt, 77. Jg., Heft 10, Berlin/Gütersloh 1986, S. 306.
[03] Durth, a. a. O., S. 115, S. 152 ff.
[04] Rudolf Wolters in einem Brief an Paul Bonatz, Dezember 1949, zitiert nach: Durth, a. a. O., S. 270.
[05] Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert, zusammengestellt von Walter Prigge, Frankfurt/New York 1999, o. S. [S. 188].
[06] Vgl. Kurt Junghanns, Das Haus für alle. Zur Geschichte der Vorfertigung in Deutschland, Berlin 1994, S. 76 ff.
[07] Siehe: Mensch und Raum. Darmstädter Gespräch. Herausgegeben im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1951 von Otto Bartning, Darmstadt 1952, S. 182 ff.
[08] Ebenda, S. 185.
[09] Fritz Gotthelf, Ernst Neufert. Ein Architekt unserer Zeit, Frankfurt und Berlin 1960, S. 19.
[10] Ernst Neufert: Industriebauten, herausgegeben von Joachim Peter Heymann-Berg, Renate Netter und Helmut Netter, Wiesbaden-Berlin/Hannover 1973, S. 72.
[11] Ebenda, S. 78.
[12] Ebenda, S. 8.
[13   14] Detlev Borchers, Versandhaus Quelle. Am Anfang war ein grosser Fluss. In: c’t Magazin für Computertechnik, 19.12.2009, zitiert nach www.heise.de/ct/artikel/ Versandhaus-Quelle-Am-Anfang-war-ein-grosser-Fluss-890227.html
[15] Ernst Neufert: Industriebauten, a. a. O., S. 8,
[16] Max Bächer in einem Brief vom 22.7.1998 an Gert Kähler, zitiert nach: Gert Kähler, Pragmatisch, Praktisch, Gut. Neufert und die Industriearchitektur nach 1945. In: Neufert, Normierte Baukunst im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 265.

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