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db deutsche bauzeitung 06|2017
Anders bauen
db deutsche bauzeitung 06|2017

Offenes Quartierswohnzimmer

Die »Ru Paré community« – von der Schule zum Quartierszentrum in Amsterdam (NL)

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

2. Juni 2017 - Robert Uhde
Im Südwesten von Amsterdam wurde seit Beginn der 60er Jahre das bereits in den 30er Jahren durch den Stadtplaner Cornelis van Eesteren konzipierte Quartier Slotervaart als Stadterweiterung aus dem Boden gestampft. Seit den 90er Jahren hatte sich das Viertel durch wachsende Migration und die sukzessive Schließung sozialer Einrichtungen zunehmend zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Zu den Hot Spots zählte seinerzeit auch die Schule Ru Paré, benannt nach dem Pseudonym der Widerstandskämpferin Henrica Maria ­Paré, die während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg 52 jüdischen Kindern das Leben gerettet hatte.

Nach dem Umzug der Schule in den 2013 direkt nebenan nach Plänen von Marlies Rohmer fertiggestellten Neubau »Het Meervoud« stand das erst 1991 in schlichter funktionaler Architektur mit roten und gelben Klinkerfassaden errichtete Gebäude einige Monate leer und wurde in einem partizipativen ­Planungsprozess zu einem lebendigen Stadtteilzentrum umgenutzt: In der ­Ru Paré Community erhalten die Bewohner des Viertels nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe wahlweise Computerkurse, Sprachunterricht oder Beratung in Steuer- und Mietsachen und leisten dazu im Gegenzug andere ­gemeinnützige Dienste. Zusätzlich haben Künstler, kleinere Unternehmen oder soziale Organisationen wie eine Flüchtlingshilfe, ein Repair Café und ein Resozialisierungsprojekt für straffällig gewordene Jugendliche die Möglichkeit, günstige Büros anzumieten. Ergänzt wird das durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE geförderte, ansonsten aber finanziell eigenständige Projekt durch die Vermietung von Flächen an profitable ­Start-ups sowie durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, als Koch oder z. B. Elektriker.

Partizipatorischer Planungsprozess

Ausgangspunkt der Planung war die Initiative des Sozialunternehmers Hans Krikke, der in Reaktion auf die umfangreichen Sparmaßnahmen im Sozialbereich die Stiftung »Samen Ondernemen« Amsterdam gründete, um jenseits von staatlicher Bürokratie und Bevormundung das Zusammenleben der ­Anwohner im Quartier zu stärken. Auf der Suche nach einem Standort war der Unternehmer schnell auf die leer stehende Schule gestoßen. Auf Basis ­eines anschließend ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs zur Umnutzung des ­Gebäudes wurde das vor Ort ansässige Architekturbüro BETA eingeladen und in Zusammenarbeit mit Architektin und Urbanistin Elisabeth Boersma vom Rotterdamer Büro plan B beauftragt, das Gebäude mit einem begrenzten Budget von 575 000 Euro zum Sitz der Stiftung und zum offenen Stadtteil­zentrum umzuwandeln.

»Ausgehend vom Wunsch der Stiftung nach einer möglichst hohen Akzeptanz der Anwohner hatten wir im Vorfeld der Planung zunächst mehrere ­Veranstaltungen und Workshops mit Bewohnergruppen, Pflegedienstleistern, Sozialarbeitern, Künstlern und Jungunternehmen aus dem Viertel organisiert«, berichtet Projektarchitekt Auguste van Oppen vom Büro BETA. »In ­einem gemeinsamen Prozess konnten wir so unterschiedliche Ideen von ­unterschiedlichen Akteuren in das Projekt einfließen lassen und sie zum ­‘Miteigentümer‘ des Entwurfs machen.« Im Rahmen der Treffen wurde u. a. der Nachbarschaftsverein KlusLab gegründet, der später am Umbau der Schule beteiligt war und der gemeinsam mit Studierenden der Fachhoch­schule Amsterdam ein sogenanntes »urban mining project« durchgeführt hat, um Restmaterialien dreier zum Abbruch bestimmter Wohngebäude aus der Nachbarschaft aufzulisten und zur Reduzierung von Kosten und Energie­verbrauch für den Umbau wiederzuverwenden.

»A new kid on the block«

Im Rahmen der Planung standen die Architekten zunächst vor der Frage, die Grundrisse des dreigeschossigen Gebäudes mit seinen vielfach vorgeschobenen, verglasten Erkern für die neue Nutzung zu adaptieren. Die vorhandenen, über einen zentralen Innenhof erschlossenen ehemaligen Klassenzimmer ­ließen sich vergleichsweise unkompliziert zu offenen Büroeinheiten umfunktionieren. Als bauliche Maßnahmen erfolgten hier lediglich die zusätzliche Wärmedämmung der Fassaden sowie der Einbau neuer doppelt verglaster Fenster, um so die hohen Nebenkosten zu senken. »Diese Umbauten haben bereits einen großen Teil des Budgets aufgebraucht, entsprechend war es eine ziemliche Herausforderung, wirkliche architektonische Eingriffe zu realisieren«, berichtet Evert Klinkenberg, der vor der Gründung des Büros BETA bei Herzog & de Meuron gearbeitet und am Lehrstuhl von Gigon & Guyer an der ETH Zürich Entwurf unterrichtet hat.

Deutlich schwieriger gestaltete sich die Umnutzung der in Richtung Südosten in den oberen beiden Ebenen diagonal in den Quader integrierten, bislang ­lediglich durch zwei Glasbausteinflächen geöffneten Sporthalle der Schule: »Um eine schlüssige Gesamtlösung für das Gebäude zu entwickeln und gleichzeitig eine neue Zugangssituation zu schaffen, haben wir vorgeschlagen, den mehr als 7 m hohen »Beletage-Raum« zu einem luftigen Foyer mit Sitzgelegenheiten, Tresen und einer kleinen Bühne umzuwandeln«, beschreibt van Oppen. Das vormals auf der Fassade aufgebrachte Mosaik des Künstlers Hugo Kaagman wurde dabei dokumentiert, um später an anderer Stelle eingefügt zu werden. Aus Kostengründen und als Reminiszenz an die vormalige Nutzung ist der alte Boden der Sporthalle mit den Spielfeldmarkierungen erhalten ­geblieben.

Einen massiven baulichen Eingriff erforderte hingegen der Einbau von vier mittig in die Front eingefügten, senkrecht nach oben verfahrbaren Garagen-Sektionaltoren, mit deren Hilfe sich der zweigeschossige Raum den Sommer über je nach Witterungsverhältnissen per Knopfdruck vollständig öffnen lässt. Um einen unmittelbaren Kontakt zum Viertel herzustellen und eine ­direkte sowie barrierefreie Erschließung des »Stadtteilwohnzimmers« über den ehemaligen Schulhof zu ermöglichen, ergänzten die Architekten außerdem eine Stahltreppe, einen mit Gitterrosten ausgeführten Balkon zum Vorplatz sowie einen Aufzug zur barrierefreien Erschließung. Der ehemalige Schulhof ist inzwischen mit gemeinschaftlich gepflegten Grünflächen als ­öffentlicher Platz für die Nachbarschaft gestaltet worden.

Zusätzliches Zwischengeschoss

Als weiterer wichtiger baulicher Eingriff wurde die bestehende Tragkonstruktion der Halle durch zwei Stahlstützen und zwei Stahlträger ergänzt, um so ein zusätzliches Zwischengeschoss in den Raum einfügen zu können und damit eine optimierte Wirtschaftlichkeit des Projekts zu erreichen. Auf der neu ­hinzugewonnenen Fläche haben die Planer fünf ausrangierte Gewächshäuser ­eines Gartenbaubetriebs in Delft als verglaste Haus-in-Haus-Büros integriert: »Die Einheiten bieten attraktive Adressen für soziale und kreative Start-up-Unternehmen und stellen gleichzeitig gemeinschaftlich nutzbaren Raum zum Co-Working zur Verfügung«, so van Oppen. »Architektonisch brechen sie ­zudem den eher geschlossenen Charakter des Gebäudes auf und sorgen für attraktive Blickachsen und Perspektiven.«

Die Erschließung der fünf Einheiten erfolgt über fünf Öffnungen in der Zwischenfassade und dort ­jeweils eingefügte Brücken aus Gitterrosten. Komplettiert wird das Projekt durch den Einbau einer neuen Heizungsanlage sowie einer neuen Anlage zur Entlüftung. Weitere Umbau- und Sanierungsmaßnahmen haben Architekten und Bauherr bewusst zurückgestellt: »Aufgrund des knappen Budgets haben wir uns zunächst auf das Notwendigste beschränkt. Weitere Maßnahmen können dann später erfolgen.« Das Ergebnis des Umbaus überzeugt dennoch – oder gerade deshalb: Denn es ist den Architekten gelungen, den an sich völlig banalen Bau mit gezielten und überraschenden Eingriffen zu ­einem vorbildlichen Gemeinschaftsprojekt umzuwandeln, das beispielhaft neue Wege für Umnutzung, Partizipation, Quartiersarbeit, Start-up-Förderung und Nachhaltigkeit aufzeigt. Die vorhandene Struktur der Schule mit den zum Innenhof verglasten ehemaligen Klassenräumen hat sich dabei als geradezu ideal erwiesen, um den Anspruch der Stiftung nach Transparenz und Offenheit architektonisch umzusetzen. Im direkten Austausch der unterschiedlichen Nutzer ist eine ­lebendige Atmosphäre entstanden, die Raum zum kreativen Arbeiten schafft und die gleichzeitig einen bewusst niederschwelligen Ort zum Zusammenkommen unterschiedlicher Nutzer bietet. Ein Projekt also, das dringend zur Nachahmung aufruft!

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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