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db deutsche bauzeitung 2019|10
Berlin
db deutsche bauzeitung 2019|10

Eine vergebene Chance

Campus Rütli – CR²

Einst ein Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration und das Scheitern der Schulform Hauptschule hat sich die Berliner Rütli Schule, die heute unter dem Namen Campus Rütli firmiert, zu einem pädagogischen und sozialen Vorzeigeprojekt entwickelt. Die Neubauten auf dem Campus aber, die in achtjähriger (!) Planungs- und Bauzeit entstanden, sind eher eine Enttäuschung.

14. Oktober 2019 - Mathias Remmele
Es war ein Brief, der die Rütli-Schule im Jahr 2006 bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Geschrieben hatte ihn das heillos überforderte Lehrerkollegium, der im nördlichen Teil des Berliner Bezirks Neukölln gelegenen Hauptschule. Berichtet wurde darin zum einen von der wachsenden Gewalttätigkeit und Disziplinlosigkeit einer Schülerschaft, die zu über 80 % aus Familien mit Migrationshintergrund stammte. Zum anderen aber auch von der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die sich in ihrer Lernunwilligkeit spiegele und das offensichtliche Scheitern der Schulform Hauptschule belege. Beklagt wurde daneben die extrem mangelhafte personelle Ausstattung der Schule sowie die fehlende Sprachkompetenz für eine effektive Kommunikation mit den Eltern. Der »Brandbrief« machte die Rütli-Schule zu einem Symbol für die unbewältigten Probleme der Migration sowie für das Versagen der Berliner Schul- und Innenverwaltung. Das von ihm ausgelöste mediale Echo zwang die Politik zum Handeln. Dabei war klar, dass die hier aufgetretenen Probleme nicht allein mit schulischen Mitteln zu lösen waren.

Neuartiges Bildungskonzept

Bereits 2007 wurde auf Bezirksebene die Idee zu einem »Campus Rütli« entwickelt, die wesentlich darin bestand, ein neues, umfassendes Bildungskonzept zu erarbeiten und dies mit der Schaffung eines in den Kiez ausstrahlenden Sozialraums zu verbinden, in dem alle irgendwie betroffenen und beteiligten Akteure zusammenkommen und -wirken sollten.

Konzipiert wurde das »Campus Rütli CR2« getaufte Modellprojekt dezidiert als »sozialer Erlebnisraum«, der in seinen Modulen »einheitliche Bildungsbiographien von der Kindertagesstätte bis zum Eintritt in die Berufsausbildung« ermöglichen sollte und alle schulischen Abschlüsse bietet.

Ein erster Schritt zur Realisierung des Konzepts war der 2008/09 erfolgte Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule, der Heinrich-Heine-Realschule (die sich bisher ein Schulgebäude teilten) sowie der wenige Blocks entfernten Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli. 2011 wurde eine gymnasiale Oberstufe geschaffen, die sich seither wachsender Beliebtheit erfreut. Zwei Kindertagesstätten sowie der Kinder- und Jugendclub an der Rütlistraße, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, wurden organisatorisch mit der Gemeinschaftsschule verkoppelt. 2012 konnte die vom Berliner Büro plus 4930 entworfene Quartierssporthalle fertiggestellt und als erster Neubau in den Campus integriert werden.

Das ambitionierte Konzept des Campus, aus dem sich ein erheblicher Raumbedarf ergab, hätte nicht entstehen bzw. realisiert werden können, wären an seinem Standort nicht glücklicherweise bereits große Flächen beiderseits der namensgebenden Rütlistraße im Besitz der öffentlichen Hand gewesen. Einer Autowerkstatt und einer Kleingartenkolonie, die bisher Teile des Areals nutzten, konnte kurzfristig gekündigt werden. So stand also genügend Platz für die notwendige baulichen Ergänzung des Campus zur Verfügung, der insgesamt eine Fläche von fast 5 ha umfasst. Im Einzelnen ging es dabei um eine Erweiterung des Schulhauses (zur Integration der Grundschule), ein Werkstattgebäude (für das Unterrichtsmodul Werkstatt, Arbeit, Technik), eine Erweiterung der Mensa sowie um ein Stadtteilzentrum (mit Räumlichkeiten für Elterncafé, Campusverwaltung, Pädagogische Werkstatt, Jugendamt, Zahnärztlicher Dienst und Volkshochschule Neukölln).

Für diese Neubauvorhaben wurde 2011 ein Realisierungswettbewerb lanciert, den das Büro Schulz und Schulz Architekten aus Leipzig gewann. Die Bauarbeiten begannen 2015. Mittlerweile sind das Werkstattgebäude und das Stadtteilzentrum vollendet. Der Schulerweiterungsbau kann möglicherweise in diesem Schuljahr bezogen werden, während die neue Mensa erst im kommenden Jahr fertig sein dürfte. Die Bauarbeiten auf dem Campus werden freilich noch eine Weile andauern: ab dem nächsten Jahr steht eine Grundsanierung des Altbaus an.

Überzeugender Städtebau und nüchtern-kühle Architektur

Zu den überzeugenden Qualitäten des Entwurfs von Schulz und Schulz gehört die damit verbundene städtebauliche Lösung. Quasi als Herzstück des Campus schlugen sie am Treffpunkt der Erschließungsachsen – der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rütlistraße und der von Osten auf den Campus führende Ossastraße – eine zentral gelegene Platzanlage vor. Definiert und begrenzt wird sie einerseits vom winkelförmig angelegten, viergeschossigen Neubautrakt der Gemeinschaftsschule, dessen einer Flügel direkt an die nördliche Brandmauer der Bestandsschule anschließt, und andererseits vom diagonal gegenüberliegenden, zweigeschossigen Stadtteilzentrum, das ebenfalls einen winkelförmigen Baukörper aufweist. Das Werkstattgebäude verlegten die Architekten in den nördlichen Teil des Campus, in die Nachbarschaft zur Quatierssporthalle. Auch dieses, nur eingeschossige Gebäude besitzt einen winkelförmigen, in diesem Fall aber vom Straßenraum abgewandten Grundriss. Abweichend von diesem Schema haben Schulz und Schulz die Mensa-Erweiterung als achteckigen Pavillon entworfen und aus funktionalen Gründen (Verbindung zur bestehenden Schulküche) etwas versteckt hinter dem Altbau der Schule platziert.

Gestalterisch präsentieren sich die Neubauten mit ihren Betonfertigteil- und Putzfassaden – von der Mensa einmal ausdrücklich abgesehen – als denkbar nüchterne Zweckbauten. Man könnte ihre Anmutung, je nach Temperament, als kühl-sachlich, als unambitioniert oder als erschreckend uninspiriert beschreiben. Und es dürfte Leute geben, die angesichts dieser Fassaden eher an ein Finanzamt oder irgendeine andere Behörde als an eine Schule denken. So oder so, als Einladung zur positiven Identifikation der Nutzer mit den Campus-Neubauten wird man diese Fassaden schwerlich interpretieren – als Einladung an Graffiti-Sprayer hingegen schon. Darauf lässt sich wetten.

In ihrem überaus wortreichen Erläuterungstext erklären die Architekten »die zurücknehmende Gestaltung der Erweiterungsbauten« damit, dass sie »einen übergeordneten Campuscharakter« stärke und »das heterogene Erscheinungsbild in eine ausgeglichene, homogene Bildungslandschaft« überführe. Worin der Vorteil von »Homogenität« für den Campus liegen sollte, erschließt sich daraus nicht. Abgesehen davon ist und bleibt der Campus ein sehr heterogenes Gebäudekonglomerat. Man muss sagen: glücklicherweise!

Konventionell oder wegweisend?

Ein Blick ins Innere der Neubauten offenbart, dass Schulz und Schulz Architekten auch räumlich und grundrisstechnisch ihr Heil fast immer (die noch unvollendete Mensa bildet die Ausnahme) in durch und durch konventionellen Lösungen suchten. In ihrem Erläuterungstext heißt es zwar, »die Organisation der Raumstrukturen« ziele »auf die Belebung eines positiv besetzten Lebensumfelds, aus dem eine kreative und motivierende Lernatmosphäre resultiert«. Wie dieses Wunder gelingen soll, bleibt aber offen.

Cordula Heckmann, die engagierte, langjährige Direktorin der Schule und Campus-Leiterin, ist in erster Linie glücklich, dass die drängenden Raumbedürfnisse endlich erfüllt werden. Die gestalterische Qualität der Neubauten mag sie nicht kommentieren. Über den Erweiterungsbau der Schule aber meint sie, dass »das Modell Flurschule«, wie es hier realisiert wurde, »heutzutage schon für einen eher konservativen Ansatz« stehe, was aber der sozialräumlichen Idee, die sich im zentralen Campusplatz zeige, geschuldet sei.

Bemerkenswert übrigens, wie wenig sie und ihr Kollegium oder auch die Schülerschaft in die Planungen involviert waren. Die Bauherrschaft lag nicht bei der Schule, sondern beim Stadtbezirk.

Angesichts dieses Befunds stellt sich (wieder einmal) die Frage, was Architektur leisten kann und auch leisten muss, um ein bildungs- und sozialpolitisches Modellprojekt wie den Campus Rütli in seinen begrüßenswerten Zielsetzungen zu unterstützen und um ihm eine adäquate bauliche Form zu verleihen.

Schulz und Schulz Architekten haben für den Campus eine pragmatische und zumindest auf den ersten Blick zweckdienliche architektonische Lösung entwickelt. Und womöglich haben sie angesichts eines knappen Budgets, auch was Bauqualität und Materialwahl betrifft, herausgeholt, was herauszuholen war. Und sicher, Schüler- und Lehrerschaft erhalten neue, helle und zeitgemäß ausgestattete Klassenzimmer, über die sie sich natürlich freuen.

Die Konventionalität ihrer Lösung aber, die schon bei einer »normalen« Schule unbefriedigend wäre, ist bei einem Modellprojekt wie dem Campus Rütli enttäuschend. Wo, wenn nicht bei dieser Gelegenheit hätte die Chance bestanden Neues auszuloten und eine wegweisende Gestaltung zu entwickeln? Die Neubauten auf dem Campus Rütli aber sind nicht nur nicht wegweisend, sondern sie bleiben, wie etwa der Blick nach Skandinavien und nach Finnland offenbart, auch hinter dem zurück, was anderenorts hinsichtlich inspirierender Lernräume bereits erfolgreich umgesetzt wurde. Das mag auch etwas mit Geld zu tun haben – die Ausgaben für Bildung sind in Deutschland im europäischen Vergleich noch immer beschämend niedrig –, aber das ist keine Entschuldigung für eine weitgehend ideenlose Gestaltung.

Abschließend – weil das einfach nicht unkommentiert bleiben darf – ein Wort zum in städtebaulicher Hinsicht so überzeugenden zentrale Campus-Platz, der ja gewissermaßen als Herzstück und Visitenkarte des Areals gedacht war. Stefan Bernard Landschaftsarchitekten haben dafür einen wahrlich atemberaubenden Entwurf vorgelegt: zu rund 80 % präsentiert sich der großzügige Platz jetzt als graue Asphaltfläche! Jenseits aller ästhetischen Empfindungen ist das im Jahr 2019 eine völlig indiskutable Idee. Wem angesichts der berechtigten Forderung nach einer Verbesserung des städtischen Mikroklimas durch Begrünung – die nach dem zweiten Hitzesommer in Folge immer dringender erhobenen wird – und vor dem Hintergrund der schon längst bekannten Problematik der Flächenversiegelung nichts anderes einfällt, als einen solchen Platz ohne sachliche Notwendigkeit in eine öde Asphaltwüste zu verwandeln, der sollte einmal ernsthaft sein berufliches Selbstverständnis hinterfragen. Das gilt auch für die zuständigen Ämter, die eine solche »Lösung« genehmigt und finanziert haben.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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