Zeitschrift

werk, bauen + wohnen 06-20
Mehr als Natur
werk, bauen + wohnen 06-20
zur Zeitschrift: werk, bauen + wohnen
Die neue Philosophie behauptet: «Die Natur gibt es nicht.» Das heisst keineswegs, dass die Bäume vor den Redaktionsfenstern nur eingebildet sind, sondern dass der Begriff von «Natur» stets durch das menschliche Denken und Handeln vorgeprägt ist. Natur stellt nur einen konstruierten Ausschnitt dessen dar, was wir Menschen als «Welt» bezeichnen.
Der eingangs zitierte Ausspruch hat Konsequenzen für die Architektur. Denn plötzlich ist kein Kontrast mehr denkbar zwischen einer Kulturleistung, nennen wir sie für einmal noch kurz Architektur, und der Natur als Hintergrund. Architektur kann nicht mehr in ein dialektisches Verhältnis zur Natur gesetzt werden. So gesehen ist die Natur kein Objekt mehr, sondern quasi ein Fluidum, das alles umgibt und durchdringt. Der Philosoph Timothy Morton behauptet in seinem Buch Ökologie ohne Natur, dass gerade die für die Moderne typische Vorstellung einer von uns verschiedenen Natur dem wahrhaftig ökologischen Denken im Wege stünde. Die Wurzel dieses Übels macht er in unserem noch immer stark von der Romantik geprägten Bewusstsein aus. Gerade die Sehnsucht nach dem Naturschönen habe uns weisgemacht, dass eine veränderte Wahrnehmung auch Folgen für unser Handeln hätte. Doch angesichts der aktuellen Herausforderungen des Klimas versagt dieses Versprechen: Wirklich
ökologisches Handeln orientiert sich nicht am Bild der «Natur», sondern an den vielfältigen Beziehungen zwischen Lebewesen, Material und Raum.
Darum an dieser Stelle ein paar Vorschläge, die im vorliegenden Heft gespiegelt sind: Die Grenzen des architektonischen Objekts könnten doch so weit gefasst sein wie diejenigen eines Ökosystems – und das dürfte ja auch für den Planungsprozess und den Gebrauch nach Schlüsselübergabe gelten. Vielleicht fängt Architektur ja tatsächlich schon bei der Landschaft an – ganz in der Art, wie dies die Niederländer seit Jahrhunderten perfektioniert haben. Auch Landschaft ist immer schon menschengemacht.
Deshalb haben wir in diesem Heft Beispiele versammelt, welche die herkömmlichen Grenzen der Architektur hin zur Natur verschieben: «Höhlen» von Junya Ishigami in Japan oder von Ensamble Studio in Galizien. Das Einrichten in diesen intensivierten Naturen erfolgt nicht mehr im Sinn der romantischen splendid Isolation, sondern als vom Menschen gemachter Rückzugs- oder Gesellschaftsraum.

Nach der Natur
Architektur wird nach der Pandemie nicht dieselbe sein
Philip Ursprung

Architektur, Landschaft oder Kunst?
Water Garden in Tochigi und Restaurant Noel in Ube, Junya Ishigami
Hubertus Adam

Baden, Brüten, Laichen
Uferpark Attisholz (SO), Mavo Landschaftsarchitektur
Tibor Joanelly, Roland Züger, Corina Flühmann (Bilder)

Gebaute Landschaften
Niederländische Strategien im Umgang mit der Natur
Daniel Jauslin

Frischer Blick auf Genf
Plage des Eaux-Vives von Atelier Descombes Rampini
Anna Hohler, Serge Fruehauf (Bilder)

Zudem:
Debatte: Fotografen und Bühnenbildner wissen es: Erst der Hintergrund macht den Vordergrund plastisch. Was bedeutet das für die Architektur? Soll sich wirklich jeder Neubau in den Vordergrund drängen? Ist ihre Aufgabe nicht vor allem die, Hintergrund zu sein für das Geschehen, das sich vor und in ihr abspielt? Philipp Eschs tiefschürfende Analyse stützt sich auf Theorien der Wahrnehmung von Walter Benjamin bis Peter Sloterdijk.
Wettbewerb: Das Musée gruérien in der Freiburger Kleinstadt Bulle im Greyerzerland soll erweitert werden. Dabei war die Frage zu klären, wieviel vom Bestand des unscheinbaren Baus am Fuss der Schlosstürme erhalten bleiben muss. Das Siegerprojekt von Sergison Bates und Jaccaud Spicher setzt auf Weiterbauen im Geist des Bestehenden, erkärt Autor François Esquivé.
Bücher: Aldo Rossi beim Denken zusehen: Angelika Schnells performative Textkritik bildet Rossis Denkmuster nach, so als ob man ihm über die Schulter blicken würde. Schnell versucht das Referenzsystem in Rossis Schreiben und Bauen zu entwirren. Das gelingt ihr nicht ganz, kritisiert der Rezensent Andri Gerber. Ausserdem: Traffic space, eine internationale Beispielsammlung zur stadtgerechten Umbau von Strassenräumen.
Nachruf: Jean Pythoud, 1925 – 2020
Junge Architektur Schweiz Romina Grillo, Liviu Vasiu: Der Umbau aus der Feder des italienisch-rumänischen Architektenpaars lässt den Wohnraum mit dem neu angelegten Garten verschmelzen.
Raum als Reichtum: Im Grossstadtmoloch von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, stösst unser Autor auf Bildungsbauten, die aufgrund des knappen Baugrunds in die Höhe streben. Offene Raumstrukturen erlauben nicht nur Querlüftung und damit ein angenehmes Raumklima, sie bieten auch grosszügige Flächen für informelles Lernen: Wird unprogrammierter Raum im armen Bangladesch höher geschätzt als im reichen Europa?
werk-material: Büro- und Gewerbehaus Yond in Zürich, SLIK Architekten
werk-material: Bürohaus Goba in Gontenbad (AI), OP-Arch

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Verlag Werk AG

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