Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 2020|07-08
Ornament
db deutsche bauzeitung 2020|07-08

Körper mit Spin

Gebäude der Provinzregierung in Antwerpen (B)

Die Dreiecksstruktur von Konstruktion und Fassade resultiert aus der Notwendigkeit, den Rest eines Vorgängerbaus stützenfrei zu überspannen. Nach außen hin machen die Dreiecke das Bürohaus zusammen mit seiner Drehung unverwechselbar, innen entstehen je nach Geschoss ganz eigene räumliche Situationen, die wahlweise als Ornament erkennbar bleiben, oder aber auch zonierend wirksam werden.

6. Juli 2020 - Olaf Winkler
Seit den 70er Jahren ragte in der südlichen Antwerpener Innenstadt ein schmuckloses Musterexemplar des internationalen Bürobau-Stils auf, wenig geliebt, aber vertraut. An die Stelle des Vertrauten ist jetzt ein kantiges, seltsam verdrehtes und von Dreiecken gleichmäßig perforiertes Objekt getreten. Strahlend weiß und sehr, sehr glatt steht es im umgebenden Grün.

Um mit dem Naheliegenden zu beginnen: Die Funktion ist über den Architekturwechsel hinweg gleich geblieben. Weil ihr alter Amtssitz technisch nicht mehr haltbar und mit 71 m zu hoch für die Einflugschneise des nahen Regionalflughafens war, schrieb die Provinz Antwerpen 2011 einen »Open Oproep« aus, ein vom Flämischen Baumeister auf Regierungsebene begleitetes Wettbewerbsverfahren. Ein jüngerer, quaderförmiger Teil des Bestands sollte bewahrt werden, außerdem das Parken unter die Erde wandern und somit ein öffentlicher Park entstehen. Erhaltenswerte Bäume gab es v. a. im rückwärtigen, bisher gleichsam abgeriegelten Teil. Gewünscht war zudem Passivhausstandard.

Der Siegerentwurf von Xaveer de Geyter Architects (XDGA) antwortet darauf pragmatischer als es scheint. Ziel war es insbesondere, so de Geyter, möglichst wenig Grund zu überbauen, zumal durch flexible Workspaces und die Verlagerung einiger Kompetenzen weg von der Provinz künftig weniger Raum benötigt wird. Der Fußabdruck orientierte sich am Altbauquader, ­jedoch um 90 ° gedreht, wodurch der Eingang dichter an die Straße rückt. Die Funktionen sortierten sich dann schlüssig. Ein auch extern genutztes Kongresszentrum und der Ratssaal kamen im querenden Pavillon unter. Dessen Dach wird zur eindrucksvoll gerahmten Terrasse der Cafeteria, während die Büroflächen bis zur zulässigen Höhe von rund 59 m aufsteigen, mit den ­Deputiertenräumen rund um einen Patio zuoberst. Weite Blicke über die Stadt wiegen die Entrücktheit der teilöffentlichen Bibliothek im 11. und 12. OG – die im Grunde der klaren Teilung in eher öffentlichen Sockel und »privateren« Turm widerspricht – wieder auf.

Torsion

Alles ganz einfach also, bis der Körper jenen unerwarteten Spin erhielt. Ausschlaggebend war die Besonnung der Nachbarhäuser und, so de Geyter, dass der hintere Teil des Terrains mit seinen alten Bäumen visuell geöffnet werde. Das allerdings auf geometrisch komplexe Weise: Da der Drehpunkt des Turms nicht im Zentrum, sondern über der nordwestlichen Ecke liegt, schwenkt der Körper vorn stärker aus. Die tragende Fassade und die beiden Kerne beginnen sich gegeneinander zu bewegen, oder anders formuliert: Der östliche Kern scheint mit zunehmender Höhe von der einen Seite zur anderen zu wandern. Gleichzeitig werden die Geschosse nach oben schrittweise schmaler.

Um den querenden Gebäudeteil zu überfangen, waren außerdem drei Fachwerkträger nötig, zwei davon verborgen in den Fassaden, was schließlich die dreieckigen Fenster erklärt: Sie rühren von den wie eine Bewehrung in den Beton eingelassenen Diagonalstreben her. Einmal derart motiviert, breiten sie sich über den Gesamtkörper aus. Im Bereich der Torsion erhält dabei jedes Betondreieck eine andere, leicht dreidimensionale Krümmung. Da das gesamte Gebäude aus Ortbeton errichtet wurde, entwickelte die ausführende Firma spezielle, individuell verformbare Schalungssysteme. Obwohl die Fenster plan sind, wirkt die Oberfläche wie, im Wortsinn, aus einem Guss.

Purismus

Die Entwurfsentscheidungen bauen gewissermaßen aufeinander auf. Wobei die logische Kette dann doch einen nicht unwesentlichen Knick bekam, als sich – spät – herausstellte, dass die Bewahrung des Altbauquaders wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Die Pläne wurden nicht mehr geändert, stattdessen auch dieser Teil neu und nun viel filigraner errichtet. Mit doppelter Kon­sequenz: Der ursprüngliche Anlass für die aufwendige Konstruktion ist weggefallen – gleichzeitig hat dies dem Projekt gut getan. Ohne den Umweg hätte es den geradezu immateriell wirkenden Kongressbereich, der zu großen Teilen einfach aus offenem Raum besteht, so nicht gegeben. Schon das Foyer ist hell und weit, profitiert aber zusätzlich von den über Split-Level anschließenden Ebenen, die mit Aluminiumboden und einem Deckenraster aus Polycarbonat fast entgrenzt scheinen. Mittig steigt darin die Wendeltreppe zur Terrasse auf, erst offen in Stahl, dann umfangen von Glas. Der Blick geht hinaus ins Grün und von dort auch hinein.

So kommt der Wegfall des Altbaus Xaveer de Geyters Entwerfen entgegen, das von der Konstruktion, klaren Raumzuschnitten und v. a. auch der unvermittelten Fügung rauer und feiner, immer »pur« anmutender Materialien herrührt. Im parabelförmigen Ratssaal treffen neben dem Aluminium gold­glänzendes Messing und eine weiße Lederpolsterung aufeinander, eine Handschrift, die in den anderen Räumen wiederkehrt. In der zweigeschossigen Bibliothek steht klar lackierter Stahl dem Sichtbeton und Böden mit einer schwarzen Gummischicht gegenüber; im Foyer des Gouverneurs taucht, nun in Schwarz, das Leder wieder auf. Selbst dem sehr grünen Teppich in den offenen Büros ging eine längere Suche voraus. Statt üblicher Mischtöne wollte de Geyter ein »reines Grün«, was den Boden allerdings ein wenig tonpapierartig erscheinen lässt.

Ornament

All dies führt schließlich auch zum Thema des Ornaments, oder zur Frage danach. Die rautenförmige Ledersteppung im Ratssaal besitzt diese Qualität. Andererseits, wie de Geyter lächelnd feststellt, »irgendeine Form müssen die Nähte ja haben«. Diese Nonchalance ist kennzeichnend. Es geht nicht um Ornamente, sondern um hergeleitete Strukturen, die dann sozusagen ein paralleles Leben als Ornament entwickeln. So auch in der Fassade. Eine Definition von Ornament als reine Schmuckform gilt dort nicht. Die Dreiecke sind konstruktiv motiviert und haben als Fenster offensichtliche Funktion, mit Nach- und Vorteilen. So sind sie auf Augenhöhe, beim Sitzen am Schreibtisch, weniger breit als ein Rechteck gleicher Fläche, was die Ausblicke stärker einschränkt. Gleichzeitig – für de Geyter wichtigstes Argument – lassen sie besonders im oberen Bereich, wo es sinnvoll ist, viel Licht herein, während sich der Gesamtanteil der (Dreifach-)Verglasung auf für den Energieverbrauch günstige 40 % reduziert, was neben Geothermie und anderen Maßnahmen zum Passivhausniveau beiträgt.

Gerade dieses Für und Wider deutet indes an, dass es doch entschieden auch um Form-, um nicht zu sagen: Schmuckwillen geht, mit dezidiert ästhetischer Wirkung. So wurde der ganze Körper mit sehr hellen, eine feine Haptik erzeugenden Glasmosaiksteinen überzogen. Die Fenster sind darin perfekt bündig eingepasst und geben dem Bau jene fast abstrakte Glätte. Dass alle Fensterrahmen mit baugleicher Höhe produziert wurden, scheint naheliegend. Nach dem Einbau reichen sie daher allerdings, entsprechend der variierenden Fassadenneigung und ausgehend von der immer gleichen Oberkante, unterschiedlich weit herab. Dabei wurden einzelne Fenster durchaus individuell verzerrt – in der Breite, hin zu einer Asymmetrie, um die Torsion des Gebäudes noch zu betonen.

Eigentlich ist dies schlicht eine Lochfassade, deren Geschossigkeit ablesbar ist. Die ungewohnten Formen und die kaum spürbaren Abweichungen in der Anordnung führen aber zum gegenteiligen Effekt, zur Betonung des Monolithischen: des Körpers von außen, im Ganzen.

Stadtraum

»Wir neigen nicht zu spektakulären Bauten«, sagt Xaveer de Geyter im Gespräch. Das ist richtig, weil es eher um die Verfeinerung von Konstruktion und Material geht. Und falsch, weil das die ungewöhnliche Form nicht ausschließt. Den Beweis liefert die einem skelettierten Schirm gleichende Überdachung der Metrostation Rogier in Brüssel, die einem zugigen Platz neuen Halt gegeben hat. Oder auch der Entwurf für das Antwerpener Hafenhaus, bei dem XDGA über einer alten Feuerwehrkaserne einen mächtigen Kubus in die Luft stemmten. Letztlich durfte dann Zaha Hadid ihr Projekt realisieren. Von derlei frei im weiten Raum stehenden Landmarken unterscheidet sich das Provinciehuis allerdings stadträumlich: XDGAs weißer Körper steht in komplexerem Terrain. Die Kräfte, die diesen Körper verbiegen, rühren aus seiner unmittelbaren Umgebung, von der heterogenen Umbauung, den beiden Parks, den rückwärtigen Bäumen, dem neuen Grün. Das macht den Neubau nicht weniger weit sichtbar und nicht weniger gewöhnungsbedürftig. Um seine Qualitäten zu beurteilen, muss man ihn von Ferne sehen und von innen; es kommt aber v. a. auch auf den Moment des Herantretens an.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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