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werk, bauen + wohnen 12-20
Renée Gailhoustet
werk, bauen + wohnen 12-20
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Sozialer Wohnungsbau muss nicht schematisch aussehen. Das zeigt eine Strassenkreuzung im Zentrum des Pariser Vororts Ivry-sur-Seine. Die 1929 in Algerien geborene Architektin Renée Gailhoustet hat es während zwei Jahrzehnten umgebaut. Bis heute lebt sie, in hohem Alter, in der von ihr entworfenen Siedlung Le Liégat. Die seit Jahrzehnten kommunistisch regierte Vorstadt und ihr Wohnungsbauunternehmen OPHLM boten den Nährboden für das Experiment eines Sozialwohnungsbaus im Dienst des Individuums. Gegen serielle Gleichförmigkeit traten bereits die ersten Bauten Gailhoustets an: Die Hochhausscheiben Raspail und Lénine beherbergen Duplexwohnungen und Gemeinschaftsflächen auf dem Dach. Die Bauten danach nahmen ganz neue architektonische und städtebauliche Gestalt an: Sternförmige Grundrisse, die durch Schnitt und Drehbewegungen zu einem bewohnten und begehbaren Hügel geschichtet werden – Referenzen wie der Mont St. Michel oder die Stadt Matera lassen sich herbeiziehen. Sie betonen die Individualität der Bewohnerinnen und Familien, schaffen aneignungsoffene und begrünte Aussenräume trotz hoher Dichte.
Auch die Arbeit des Architekten Jean Renaudie ist mit Ivry und Renée Gailhoustet verknüpft, denn ihm erteilte sie mehrere Aufträge – auch privat waren sie ein Paar und hatten zwei gemeinsame Töchter, aber immer getrennte Büros. Von Renaudies Bauten an der Avenue Casanova in Ivry, im Volksmund Les Etoile mit den gezackten Grundrissen, ist auch Gailhoustets spätere Architektur beeinflusst. Sie entwickelt freie Grundrisse, die von innen nach aussen wachsen als Abbild eines sozialen Gesellschaftsideals, wo Selbstverwaltung gelebt wird und der Mensch im Zentrum steht. Das Experiment von Gailhoustet und Renaudie und ihre Emphase für weite Schwellenräume hat nun nach fünfzig Jahren eine Renovation verdient. Für manche der heute teils leer stehenden Ladenlokale müssen neue Ideen gefunden werden. Warum nicht im Geist der damaligen Umbaumassnahmen unter Einbezug der Bewohner? Das Zentrum von Ivry-sur-Seine eröffnet auf jeden Fall das ideale Feld für einen Situationistischen Spaziergang abseits der Touristenpfade der französischen Metropole.

Situationen in Ivry-sur-Seine
Giaime Meloni

Klassenkampf und Kultur
Masterplan für die Sanierung der Innenstadt von Ivry-sur-Seine
Vanessa Grossman

Ensemble Spinoza 1966 – 73
Orthodoxe Corbusier-Typologie
Julia Tournaire

Ensemble Danielle Casanova 1970 – 72
Les Etoiles – erste Grundrisse in Sternform
Julia Tournaire

Sozialer Stadtumbau
Raymonde Laluque im Gespräch mit Vanessa Grossman

Ensemble Jeanne Hachette 1970 – 75
Der Wohnhügel
Julia Tournaire

Ensemble Marat 1971 – 86
Wohnen um den Innenhof
Julia Tournaire

Experimente für Ivry
Kurze Biografie der Architektin entlang ihrer Bauten
Bénédicte Chaljub

Bauten und Projekte, Bücher, Filme, Archive

Zudem:
werk-notiz: Die online-Version des werk-materials geht in eine neue Runde: Eigene Projekte können jetzt erfasst und mit dem ganzen Datenbestand verglichen werden. Das stärkt die Position der Projektierenden.
Debatte: Das Wegwerfen und Vernichten von Bauteilen muss ein Ende haben, fordert das Baubüro in situ. Architektinnen und Architekten können dazu beitragen, dass die Klimaziele positiv und sinnlich wahrgenommen werden können.
Wettbewerb: Über Burgdorf thronen Gymnasium und Fachhochschule als Akropolis der Bildung. Nach dem Wegzug der Fachhochschule wird für die Berufsschule umso mächtiger neu gebaut. Im Wettbewerb für einen «Bildungs-Campus» machten pragmatische Lösungen das Rennen.
Nachrufe: Heinrich Helfenstein, 1946 – 2020, Pierre von Meiss, 1938 – 2020
Bücher: Endlich gibt es einen umfassenden Architekturführer für Zürich. Werner Huber, Redaktor von Hochparterre, hat ihn publiziert. Valentin Groebner reflektiert, warum früher das Reisen noch half.
Junge Architektur Schweiz TEN: Über die ganze Welt spannt das Netzwerk ihres Büros, und über dem Boden schwebt das Haus in Serbien. Versuch einer Annäherung via die Lingua franca Englisch.
Poesie der Härte: Ausgehend von einer traditionellen Typologie hat die Architektin Frida Escobedo in Mexiko-Stadt ein modellhaftes Wohnhaus für den Mittelstand geschaffen, das mehr als Enge «in sich hat».
werk-material: Wohnsiedlung Im Stückler in Zürich, Adrian Streich Architekten
werk-material: Wohnsiedlung Letzigraben in Zürich, von Ballmoos Partner Architekten

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