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Rhythmische Staffelung am Hang

John Cranko Schule in Stuttgart

Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.

8. Dezember 2020 - Ulrike Kunkel
Der Ruf John Crankos ist in Stuttgart legendär. Nachdem der britische Choreograf 1961 die Leitung des Stuttgarter Balletts übernommen hatte, formte er in der guten Dekade bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1973 daraus eine hochgelobte, auch international erfolgreiche Kompagnie. Das Debut 1969 an der Metropolitan Opera in New York geriet zum fulminanten Siegeszug, Gastspielreisen führten die Stuttgarter rund um den Globus. Und es gelang, den Erfolg unter den nachfolgenden Intendanten und Intendantinnen zu verstetigen.

Eine der Gründe für dieses »Stuttgarter Ballettwunder« war eine eigene Ballettschule, die Cranko 1971 in Stuttgart gegründet hatte. Heute werden zwei Drittel der Tänzer und Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts an der John Cranko Schule ausgebildet. Ansässig war die Institution lange Jahre in einem umgebauten Druckereigebäude an der Urbanstraße nordöstlich der Innenstadt. Dem kanadischen Intendanten Reid Anderson gelang schließlich der entscheidende Schritt: Seine langjährige Überzeugungsarbeit in den Kreisen von Politik und Sponsoren führte zum Beschluss eines eigenen Neubaus für die Schule. 2011 konnte ein prominent besetzter Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Überraschungssieger wurde der Beitrag des seinerzeit nahezu unbekannten Münchner Büros Burger Rudacs. Sie konnten die nationale und internationale Prominenz ausstechen, darunter Lederer Ragnarsdóttir Oei, Zaha Hadid, Nieto Sobejano, gmp, Snøhetta, Delugan Meissl und Sauerbruch Hutton.

Herausforderung Topografie

Als einzigen Teilnehmern des Wettbewerbs war es dem Architekturbüro aus München gelungen, mit einer Staffelung von Volumina auf die Herausforderungen der Topografie zu reagieren. Denn das Baugrundstück – vormals Standort eines alten Wasserwerks, dessen denkmalgeschützte unterirdische Kavernen erhalten bleiben mussten – erstreckt sich am Hang zwischen Urban- und Verastraße und weist eine Höhendifferenz von 21 m auf. Burger Rudacs ließen die nördliche Hälfte des Grundstücks frei, um eine für den Stuttgarter Talkessel wichtige Frischluftschneise zu bewahren, und konzentrierten die Baumasse auf der Südseite. Insgesamt fünf durch hofartige Einschnitte deutlich voneinander differenzierte Segmente erklimmen den Hang, wobei der viergeschossige Riegel des Internats mit Doppelzimmern für 80 der insgesamt 150 Schüler den markanten oberen Abschluss bildet. Die Segmente darunter werden jeweils aus der Kombination eines größeren, über Oberlichter talseitig belichteten und eines kleineren, großflächig zum Park hin geöffneten Probensaals gebildet. Mit 12 x 12 und 9 x 9 m besitzen die Säle quadratischen Zuschnitt; dem insgesamt 90 x 36 messenden Gebäude liegt ein 3-m-Raster zugrunde. Von außen kaum erkennbar, schiebt sich unter das talseitige Ende des Gebäudes eine große Probebühne mit einer Zuschauertribüne und einem doppelgeschossigen, mit einer elliptischen Öffnung verbundenen Foyer. Mit 30 x 24 m entsprechen die Abmessungen des 10 m hohen Bühnenraums exakt denen der Staatsoper, die gar nicht weit entfernt unten im Talboden liegt. Die auch für öffentliche Aufführungen genutzte Probebühne unten und der private Internatsbaukörper oben bilden mithin zwei Pole mit eigenen Eingängen, zwischen denen sich die terrassierte Sequenz der eigentlichen Unterrichtsräume aufspannt.

Begleitet wird diese auf der Südseite von einer Spange, welche die Administration, Räume für das Lehrpersonal und eine Bibliothek aufnimmt. Von den Korridoren aus erlauben große Verglasungen Einblicke in die Probensäle, am jeweiligen Ende der Gänge befinden sich kleine Loggien. Der größte Außenraum indes ist die große, mit einer kreisförmigen Dachöffnung versehene Terrasse, die sich an die im EG des Internatsbaus untergebrachte Mensa anschließt und damit so etwas wie das kommunikative Binnenzentrum des Hauses darstellt. Aufgrund dieser Anordnung ist der an dieser Stelle befindliche Probensaal hier in den Sockel verschoben.

Purismus und Klarheit

Der klaren Organisation der Räume entspricht eine ebenso klare Materialsprache. Das gesamte Gebäude wurde innen und außen in, durch weiße Titandioxid-Pigmente leicht aufgehelltem Sichtbeton realisiert, wobei Schaltafeln im liegenden Format von 3 x 1,75 m Verwendung fanden. Die Außenwände sind zweischalig aufgebaut. Eine besondere Herausforderung stellte die stützen- und unterzugslose Konstruktion der Probebühne dar: Hier fungieren die Wandscheiben der darüberliegenden Übungssäle als Träger. Die gesamte Haustechnik ist in den Decken und Wänden verborgen: Elektrorohre, Sprinkleranlage, Betonkernaktivierung und Dachentwässerung. Nichts stört damit den puristischen Charakter, der das Gebäude auch im Innern prägt.

Hinzu treten nur wenige weitere Materialien: Holz und eloxiertes Aluminium an den Fenstern, polyurethanbeschichtete Fußböden, Holzbekleidungen und natürlich die großflächigen Verglasungen. In den Tanzsälen reichen die Wandbekleidungen bis zu den Oberlichtern, die Spiegel besitzen dieselbe Höhe. Die Klarheit und Präzision, mit der Burger Rudacs vorgegangen sind, beeindruckt: Auf alles, was ablenkt, wurde verzichtet, auch auf zusätzliche Farbigkeit, um möglichst neutrale Räume für die jungen Tänzer und Tänzerinnen zu schaffen. Gottlob verhallte die von politischer Seite aus zwecks Kostenreduktion erwogene Realisierung mit einem Wärmedämmverbundsystem ungehört.

Die Architekten sprechen angesichts ihrer Baukörper von Rhythmus und Struktur und von einer Analogie zu Musik und Tanz. Solche Vergleiche mögen mitunter etwas floskelhaft anmuten – doch bewegt man sich durch das Haus mit seiner terrassierten Abfolge von Räumen und Sälen, so wird die Inspiration hier tatsächlich erlebbar. Das gilt auch für die dem Park zugewandte Südseite. Dank der Einkerbungen gliedert sich die Baumasse in fünf miteinander verbundene und doch differenziert wahrnehmbare Baukörper – die unteren vier mit den Tanzsälen, zuoberst der Wohnblock mit den Apartments der Studierenden. Eine Betontreppe führt parallel zum Gebäude durch den Park. Geplant war sie als Teil einer öffentlichen Wegverbindung von der Uhlandshöhe zum Zentrum. Doch die Schulleitung befürchtet, dass die Treppenstufen Voyeure anlocken, sodass der attraktive Weg zunächst nicht öffentlich ist.

Neuer Baustein der Kulturmeile

Burger Rudacs haben aber nicht nur einen extrem funktionalen, logischen, im besten Sinne dienenden und bei allem Purismus auch körperlich präsenten Baukörper errichtet, ihnen ist es überdies gelungen, das relativ große Volumen mit 6100 m² Nutzfläche stadtbildverträglich zu integrieren. Durch die Staffelung der Segmente wirkt die Kompaktheit nicht erdrückend und fügt sich in die Maßstäblichkeit der Umgebung wunderbar ein. Das ist umso wichtiger, als man den Neubau von verschiedenen Punkten der Stadt aus gut erkennen kann, etwa vom Turm des amputierten Hauptbahnhofs oder von der anderen Seite des Talkessels. Direkt oberhalb der Alten Staatsgalerie am Hang gelegen, ist die John Cranko Schule für die Kulturmeile der Landeshauptstadt ein wichtiger Zugewinn. Zu hoffen bleibt, dass die Öffentlichkeit möglichst bald Veranstaltungen besuchen und sich ein eigenes Bild machen kann; coronabedingt ging die offizielle Eröffnung im September weitgehend digital über die Bühne.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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