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tec21 2006|29-30
China
tec21 2006|29-30
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Neue «deutsche» Stadt

Um Schanghai zu entlasten wurde Anting New Town als Teil der Automobile City am Reissbrett geplant. Mittlerweile steht die Satellitenstadt zu einem Drittel – eingezogen sind jedoch erst
wenige Chinesen.

17. Juli 2006 - Lilian Pfaff
China bietet mit seiner boomenden Wirtschaft für manchen Planer die Möglichkeit, ganze Städte aus dem Boden zu stampfen. In der Stadt Schanghai, die 2010 die World Expo ausrichten wird, leben die verschiedensten westlichen Siedlungsformen wieder auf und scheinen durch ihre Unterscheidung in italienische, deutsche, amerikanische oder auch schwedische Städte exemplarisch Städtebau betreiben zu wollen – sie haben aber in Schanghai mit den French, British und American Concessions, die immer noch eine Rolle im Stadtbild Schanghais spielen, ihre Vorläufer.

Dass Städte und oft auch Architektur aus der Retorte kein neues Phänomen sind, nur hier ins Extrem gesteigert, zeigt z.B. die Walt-Disney-Siedlung Celebration in Orlando, Florida, bei der namenhafte Architekten wie Robert Venturi oder Aldo Rossi die Verwaltungsgebäude entwarfen. Die amerikanische Siedlung mit einem eigenen Krankenhaus, Schule und Verwaltung soll dereinst 20000 Menschen ein idyllisches Zuhause bieten. Um einen künstlichen See herum entstanden seit 1996 Einfamilienhäuser im neopalladianischen oder auch neuenglischen Stil.
Auf Vergleichbares stösst man in China an jeder Ecke. Der so genannte «Landhausstyle» ist an den Stadträndern allgegenwärtig. Die Villenviertel sind Gated Communities, deren Ummauerung paradoxerweise mit den traditionellen Stadtmauern, wie sie ausgehend vom Kaiserpalast in Peking für die Hofhäuser und ganze Bezirke errichtet wurden, eine gewisse Tradition besitzen.

Eine Hauptstadt und neun Städte

Um das gewaltige Wachstum vermehrt auf die Region auszudehnen und damit den inneren Kern zu entlasten, d.h. konkret, die Innenstadt von heute ca. 13 Millionen Menschen bis 2020 auf 10 Millionen zu reduzieren, erliess die Stadtverwaltung Schanghai Vorgaben für die Stadtentwicklung unter dem Titel «One City – nine towns» im Comprehensive Plan (1999–2020). Dieser wurde vor fünf Jahren vom Staat verabschiedet und umfasst eine Fläche von 6340km2. Er regelt nicht nur die Bautätigkeit, sondern auch die soziale Entwicklung, den Verkehr, die Wasser- und Energieversorgung und die Infrastruktur.

Anting New Town ist eine dieser Satellitenstädte, 35km nordwestlich des Zentrums Schanghai. Nach Öffnung des chinesischen Marktes 1984 hat VW als erstes ausländisches Unternehmen zusammen mit der Shanghai Automotive Industry Corporation ein regionales Fertigungswerk errichtet. Ziel war, ein Zentrum für die chinesische wie auch die internationale Autoindustrie zu bilden. Damit ist die Shanghai International Automobile City (SIAC) Teil der Strategie der Stadt, vier räumlich getrennte Industriezonen zu schaffen: die Petrochemie im Süden in Jinshan, die Schwerindustrie im Norden in Baoshan, Elektronik/IT im Osten in Pudong und Automobilindustrie im Westen in Anting. AS&P – Albert Speer&Partner GmbH, das Büro, das nicht nur wegen des gleichnamigen Vaters des Architekten bekannt ist, sondern auch wegen des Beitrages zum Wettbewerb Zentrale Achse Peking im Rahmen der Olympia-Planung in der chinesischen Hauptstadt, gewann 2000 den internationalen Wettbewerb für den Masterplan der Shanghai International Automobile City und die städtebauliche Planung von Anting New Town. Auf einer Fläche von rund 50km2 wurden und werden Produktions-, Ausstellungs-, Handels-, Ausbildungs-, Management- und Unterhaltungsbereiche rund um das Auto gebaut, dazu eine Formel-1-Rennstrecke, Museen und Freizeiteinrichtungen sowie eine komplette Wohnstadt für 50000–70000 Einwohner (Bild 1).

Designcode

Der Auftraggeber wollte aufgrund der schon bestehenden VW-Werke eine deutsche Siedlung errichten, im Stil von Weimar oder Heidelberg. Anstelle des rechteckigen, schachbrettartigen Grundrisses der chinesischen Stadt sollte ein runder mittelalterlicher Stadtgrundriss, mit Kanälen durchzogen, entstehen. Der Masterplan von AS&P versucht denn auch, diese Strukturen in die Stadtanlage zu integrieren (Bild 2), indem er eine deutliche Abstufung der öffentlichen Räume und Strassen vornimmt, ausgehend vom Marktplatz zu den Quartierplätzen und die Seitenstrassen. Dabei wurde das typisch «Deutsche» als lebendige, nachhaltige und vielfältige Stadt interpretiert und die Architektur vom ursprünglich gewünschten architektonischen Vorbild der Fachwerkhäuser mit Butzenscheiben zu einer nachhaltigen, energiesparenden und qualitätvolle Architektur umgedeutet. Aus einem Workshop mit zahlreichen deutschen Architekten in China wurde ein Designcode entwickelt, um die Architektur nicht monoton, aber auch nicht wahllos erscheinen zu lassen. Man einigte sich dabei auf einige Prinzipien: mulitfunktionale Blockstrukturen, öffentliche Plätze und fussgängerfreundliche Strassenräume sowie die Mischung der Funktionen im Stadtzentrum. Aus dem Workshop wurden 2002 fünf deutsche Architekturbüros ausgewählt, die Wohnbauten und den Stadtkern zu entwerfen, und die entsprechenden Strassenzüge wurden zugeteilt. Mit dabei waren auch AS&P, die 1000 Wohnungen, ein Ausstellungszentrum, eine Mustersiedlung (Model Unit) sowie ein 5-Sterne-Business-Hotel realisieren konnten. Zuerst wurde die Model Unit am äussersten Rand der Stadt mit Freiräumen und Parkanlagen erstellt, um den Käufern eine Idee von der «Bauhaus»-Architektur zu vermitteln und die Kombination von Wohnen und Arbeiten in zweistöckigen Reihenhäusern aufzuzeigen. Diese Bebauung vor den Toren der Stadt blieb jedoch Modell, in der eigentlichen Stadt herrschen Mehrfamilienhäuser in Blockstrukturen mit Innenhöfen vor. Fünfstöckige Gebäude stehen an der Hauptstrasse (Bild 5), die für deutsche Verhältnisse die Breite einer Autobahn einnimmt, wohingegen innerhalb der Wohnblocks und an den Siedlungsrändern die Höhe auf drei- bis vierstöckige Gebäude reduziert wurde (Bilder 4 und 6). Im Zentrum soll ein Hauptplatz mit Kirche, Theater, Rathaus, Einkaufszentrum und Läden im Erdgeschoss entstehen. Wert gelegt wurde auf nachhaltige Bauweise und geringen Energieverbrauch, was auch als Verkaufsargument verwendet wurde. Deutsche Standards für Wärmedämmung wurden ebenso geplant wie doppelt verglaste Fenster eingesetzt, was in China Seltenheitswert besitzt. Beheizt und gekühlt werden die Gebäude über ein Blockheizkraftwerk. Auf die Ausführung hatten die deutschen Planer jedoch keinen Einfluss, da aus Kostengründen verschiedene chinesische Generalunternehmer beauftragt wurden.

Farbigkeit und Grundrisse

Angelehnt an die deutsche Stadt sollte auch Anting New Town farbige und nicht weisse Fassaden erhalten. Den Vorschlag für die Farbgebung, die abschnitts- und strassenweise unterschiedlich sein sollte, veranschaulichten AS&P den Auftraggebern an einem kleinen Modell. Ihre ersten Ideen fanden sie kurze Zeit später schon auf den Fassaden der Häuser wieder, ohne dass die Farben eingehend diskutiert oder ausgearbeitet wurden. Die Farbe hat letztlich dieselbe Funktion wie das Label deutsche Stadt, gekennzeichnet durch die mehrgeschossigen Gebäude und Giebeldächer, nämlich die Stadt schon von weitem von der Autobahn her sichtbar und damit vermarktbar zu machen. Die Wohngrundrisse seien auf chinesische Verhältnisse abgestimmt worden, heisst es über Anting New Town immer wieder. Letztlich unterscheiden sich die gebauten Wohnungen jedoch kaum von denjenigen in einer europäischen Stadt. Die Wohnungen sind vor allem aufgrund des chinesischen Familienzusammenhalts grösser, da hier meist immer noch drei Generationen einer mittelständischen Familie zusammenwohnen. Ausserdem sollten die Wohnräume nach Süden ausgerichtet sein, was jedoch nicht überall der Fall ist und zu Problemen beim Verkauf führte. Zudem waren einige Feng-Shui-Regeln zu beachten, wonach z.B. Unterzüge nicht im Schlafzimmer über dem Bett verlaufen dürfen. Die Tatsache, dass erst vor kurzem einige 100 Personen eingezogen sind, obwohl die Gebäude eigentlich seit über einem Jahr fertig gestellt sind, liegt zum einen darin begründet, dass die Wohnungen zu 80% verkauft sind, aber für den Innenausbau, für den in China üblicherweise der Käufer selbst verantwortlich ist, kein Geld vorhanden ist oder sich der Einbau verzögert bzw. die Gebäude von Spekulanten aufgekauft wurden. Zum anderen ist der mangelnde Erfolg auch auf die fehlenden öffentlichen Verkehrsmittel zurückzuführen, denn die eigentlich für 2005 geplante U-Bahn-Linie wird wohl erst 2008/2009 bis nach Anting reichen. Erst 1/3 des Bauvolumens der Stadt ist bisher realisiert. Momentan ist das Stadtzent-rum mit dem Hotel im Bau, von der Kirche ist noch nichts zu sehen. Der gesamte Bereich des zweiten Abschnitts östlich des Platzes fehlt. Nach Meinung der Architekten war das Ziel der Bauherrschaft, in zwei Jahren eine Stadt zu bauen, von Anfang an unrealistisch. Es fehlte an Kapazität und Management, die Infrastrukturen und die Serviceleistungen zu synchronisieren.

Anting II

Die Hoffung, dass die Apartments in Anting New Town alle bereits in kürzester Zeit verkauft sein würden, führte bereits 2003 zur Planung der östlichen Erweiterung, Anting East (Anting II), für die AS&P ebenfalls den Masterplan entwarfen (Bild 2). Im Unterschied zur ersten, ringförmig angelegten Stadt, die ihr städtebauliches Charakteristikum aus Blockrandbebauung erhält, versuchte AS&P nach der Erfahrung der ersten Planung, eine andere Gestalt für das für 15000 Einwohner vorgesehene Gebiet mit eigenem Golfplatz zu finden. Denn die von den Chinesen gewünschte südliche Ausrichtung der Wohnräume ist denkbar ungünstig für eine Blockbebauung, weshalb man das Konzept revidierte und nun Reihenhäuser als Zeilenbauten, Apartmenthäuser, frei stehende Villen oder Stadthäuser am Wasser entwickelte, in Anlehung an die Gartenstadttradition. Ob hier schon eine Baubewilligung erteilt wurde, ist unklar, gebaut ist jedenfalls noch nichts. So hoffen die deutschen Architekten auf lukrative und finanziell lohnende Folgeaufträge, auch einzelne Strassenzeilen architektonisch umzusetzen.

Zusatz:

Zweite Stadt in Changchun
Anfang des Jahres hat das Büro Albert Speer&Partner ein weiteres Projekt in einem internationalen Wettbewerb für Changchun Automotive Industry Development Area gewonnen. Mit 120 km2 ist das Gebiet doppelt so gross wie Schanghais Automobile City. Es sollen neben zwei Test- und Rennstrecken ein Wohngebiet für 300000 Einwohner entstehen, eine Hochschule und Industrieareale für die Produktion, die Zulieferungs- und Herstellerfirmen und die Designteams gebaut werden. Heute wohnen in Changchun im Nordosten von China 2.7 Millionen Einwohner – die Zahl wird sich in zehn Jahren verdoppeln. Auch hier besitzt das Gebiet eine gewisse Tradition im Automobilbau. Zu den bereits bestehenden Werken von VW, Audi und Mazda sind bis in zehn Jahren weitere fünf geplant. Der neue Stadtteil soll mit dem Zentrum über eine Schnellbahn verbunden werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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