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Bauwelt 43.06
Wohnungsbau, privat finanziert
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Baustelle Stadt

Erfahrungen mit der Maskerade der Architektur

10. November 2006 - Klaus Theo Brenner
Seit sich das Interesse von Bauherren, Investoren, Planungspolitikern und Architekten wieder der Stadt, genauer: dem Stadtzentrum, zugewendet hat, ist nicht nur klar geworden, dass das Wohnen in der ursprünglichen komplexen Bedeutung des Begriffs wieder zum städtischen Leben gehören soll; es haben sich auch die räumlichen und die architektonischen Zielvorstellungen grundlegend verändert. Vom Siedlungsbau zum Stadtbau – eine reale Veränderung unserer Arbeitsperspektive, verbunden mit einem neuen Leitbild von städtischer Architektur. Seit der Moderne der zwanziger Jahre bis weit in die neunziger Jahre hinein haben vollkommen andere, dazu gegensätzliche Vorstellungen geherrscht: Entflechtung, Diversifikation, das Wohnen im Grünen und ein Architekturbegriff, der sich um das frei stehende Objekt drehte, entweder als mehr oder weniger ungebunden im Siedlungsraum herumstehender Wohnungsbau oder als spektakuläres Einzelbauwerk, das, auch wenn es im städtischen Kontext platziert wurde, erst einmal Raum um sich herum beanspruchte (was meist den Abriss des historischen Bestands voraussetzte). Diese Vorstellungen, so stadtfeindlich sie waren, haben das architektonische Denken, das sprachliche Vokabular der Architekten und auch die Entwurfslehre an den Hochschulen dominiert. Wenn wir uns jetzt (wieder) mit städtischer Architektur beschäftigen, ist die Veränderung der Ziele und der zum Erreichen dieser Ziele notwendigen architektonischen Mittel radikal. Wer sich das nicht klarmacht, wird diesen neuen Herausforderungen nicht gerecht, und die Chance wäre vertan, die jetzt allerorts aufgespürten und noch aufzuspürenden innerstädtischen oder stadtnahen Areale mit Häusern zu bebauen, die nicht nur (und zwar zwingend) öffentlichen Raum bilden, sondern auch hohe individuelle Wohnqualitäten aufweisen; die repräsentativ und wohnlich zugleich sind und die bei aller Dichte und Komplexität räumlich und funktional doch Großzügigkeit – un certo respiro! – ausstrahlen. Dass dieser Perspektivwechsel auf allen Ebenen schwieriger ist als gedacht, zeigt sich daran, dass die meisten Projekte, die heute realisiert werden, entweder so aussehen, als hätte man den Siedlungsbau in die Stadt getragen, oder als ginge es immer noch um das spektakuläre Einzelobjekt. Auch das Gegenteil dazu gibt es natürlich, den Bodensatz an architektonisch nichtssagenden Bauten, die sogenannte Investorenarchitektur, tödlich für die Atmosphäre der Stadt und von Architekten tatkräftig mitgestaltet.

Nach Max Weber handelt es sich bei städtischer Architektur im Wesentlichen um die Architektur „eingebauter Häuser“. Eingebaut meint „Wand an Wand“ stehend, eingebunden in eine dichte bauliche Struktur, die auf engstem Raum öffentliche und private Räume bildet. Das klassische Bild dieser Struktur aus „eingebauten Häusern“ ist der städtische Baublock, aus einzelnen Häusern zusammengesetzt, mit geschlossenen Raumkanten zur Straße und (im komplementären Kontrast dazu) einem mehr oder weniger grünen Innenraum. Statt „eingebaute Häuser“ könnte man auch Reihenhäuser sagen; Reihenhäuser (egal welcher Dimension, vom Einfamilienhaus bis zum Hochhaus) sind Häuser, die einen öffentlichen Raum bilden und gleichzeitig diesen gegenüber dem eher privaten Raum der Höfe oder Gärten abgrenzen. Das städtische Haus bezieht aus diesem Umstand seinen zweigesichtigen Charakter: zur Straße die repräsentative, anspruchsvolle, möglicherweise bis zur Maskenhaftigkeit stilisierte Fassade mit dem Hauseingang als Mittler zwischen Innen und Außen, und nach hinten die informelle Seite, ganz der Beziehung zwischen Wohnung und Garten gewidmet. Die Ignoranz ganzer Architektengenerationen dieser eigentlich sehr einfachen traditionellen Grunddisposition des städtischen Hauses gegenüber hat zur Folge, dass sich die Architekten heute gerade mit der öffentli­chen, repräsentativen Seite des Hauses, seiner Straßenfassade, besonders schwertun, obwohl die Geschichte bis in die dreißi­ger Jahre hinein (mit den Architekten der „Anderen Moderne“, also denjenigen, die nicht in den Siedlungsbau geflüchtet sind und im traditionellen Stadtkontext weitergearbeitet ha­ben) reich ist an beeindruckenden Beispielen für charaktervolle Stadtarchitektur, gerade in ihrer Wirkung im öffentlichen Raum. Werner Hegemann hat, und das ist erstaunlich, wenn man den damaligen Zeitgeist berücksichtigt, im Jahre 1927 sein Buch „Reihenhausfassaden“ veröffentlicht, wo er der Straßenfassade des städtischen, eingebauten Hauses eine besondere Bedeutung zumisst und seine historische Sammlung nach Ländern und Fassadentypen ordnet. Die Geschichte gut zu kennen und sie, ohne historienselig zu werden, in unsere Zeit weiterzutragen, ist die eine Herausforderung der neuen Stadtarchitektur; die andere ist, aktuelle ästhetische Tenden­zen und atmosphärische Ansprüche auf die traditionelle Versuchsanordnung für städtische Architektur anzuwenden – sicherlich eine interessante, experimentelle Situation. Architekten wie Loos, Ponti, Muzio, Perret, Lubetkin, Höger und in Berlin die Gebrüder Luckhardt, Bruno Paul oder Paul Zucker haben schon in den zwanziger und dreißiger Jahren gezeigt, wie man mit dieser Situation kreativ umgehen kann; expressionistische, surrealistische und diverse Abstraktionstenden­zen haben damals mit Erfolg Einzug in die Stadtarchitektur gehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte dieses Interesse in Berlin noch einmal auf beim Bau der damaligen Stalinallee.

Zusammengefasst handelt es sich um vielleicht vier Themen, um die es immer wieder geht, wenn wir uns mit der Ästhetik des städtischen Hauses und seiner Fassade beschäftigen, wobei allein schon der Begriff des Hauses, der eine klar begrenzte Einheit und einen definierten Typus im städtebauli­chen Kontext (im Block, an der Straße, in der Reihe) bezeichnet, vor dem Hintergrund der „Entgrenzungstendenzen“ der Moderne, die auch das architektonische Objekt erfasst haben, von grundlegender Bedeutung ist:

1. Dimension und Maßstab der Gesamterscheinung eines Hauses im städtischen Kontext;
2. die plastische Grobgliederung von Körper und Fassade zwischen Gehweg und Dach;
3. die Sprache des Materials;
4. die strukturelle Textur der Fassadenoberfläche mit Fensteröffnungen, Vor- und Rücksprüngen usw.

Jedes gute städtische Haus, egal in welchem Stil (oder auch Material) erbaut, entwickelt seinen individuellen Charakter innerhalb dieser Themen und teilt diesen der Straße mit. Über die Nutzer oder Bewohner eines Hauses hinaus sind ja all die anderen – Spaziergänger und Passanten (das sind tausendmal so viele Menschen als diejenigen, die wirklich in den Häusern wohnen) – unmittelbar davon betroffen. Neben Form- und Stilfragen rückt dabei auch wieder die Frage der Ikonographie, nach Sinn und Bedeutung der Form in den Vordergrund der Betrachtung. Für Adolph Loos (am Haus Tzara) und Giovanni Muzio (an der Ca’ Brütta) war die Frage der Ikonographie ein zentrales Problem der architektonischen Komposition. Ästhetische Mutmaßungen über die Fassade des städtischen Hauses von heute finden dort ihr spezifisches Experimentierfeld, wo über den Stil hinaus über „Typus und Kultur“ im Sinne von Erwin Panofsky geredet wird. Hier tut sich ein ungeheures Potential für die architektonische Gestaltung auf, gerade weil der entwurfliche Rahmen, wo wir es nicht mehr mit „frei schwebenden Körpern“ zu tun haben, so eng und begrenzt ist auf die Fassade des Hauses und deren dreidimensionale Erscheinung. Sehr schnell erweisen sich dabei viele unserer gewohnten Tricks als untauglich, schon allein deshalb, weil vieles nur graphisch gedacht ist und nicht materiell und kon­struktiv, oder weil sich kompositorische Spielereien eher negativ auf die Präsenz des Hauses als stehendes Bild im bewegten städtischen Raum auswirken.

Lebenswelten spielen sich vor, in und hinter den Häusern ab. Sie sind ebenso getrennt, wie sie sich im Tagesablauf der Stadtbewohner vermischen. Während der architektoni­sche Raum der Straße den Bewohnern, aber mehr noch den Passanten gehört, bilden Hof oder Garten das genaue Gegenteil dazu. Dazwischen allerdings liegt die Wohnung, der Kernraum der Häuser, der in jeweils spezifischer, mehr oder weniger offener Form mit den diversen Außenräumen kommuniziert. Diese spannungsreiche Konzeption zwischen öffentlichem und privatem Raum steht dem „Allraumprinzip“ der Moderne, das auf eine Nivellierung sämtlicher Unterschiede abzielt, diametral entgegen. Liegt die Wohnung wieder in der Stadt, liegt sie mitten in diesem Spannungsfeld. Nach Simmel liebt der Stadtbewohner gerade diese Spannungszustände. Was heißt das für den Entwurf der Wohnung? Wo liegen die Möglichkei­ten ihrer Gestaltung? Im Wesentlichen werden ihr Grundriss und ihre räumliche Struktur von ihrer Größe im Verhältnis zur Raumanzahl und zur Zielgruppe beeinflusst: je großzügi­ger das Raumprogramm, desto größer der entwurfliche Spielraum, wobei zu erwarten ist, dass der Wohnungsgrundriss in den kommenden Jahren neben der Fassade das interessanteste Spielfeld darstellen wird, wenn wir uns mit dem Entwurf städtischer Häuser beschäftigen. Dieser Spielraum wird umso größer, je geringer die Bindungen an die herkömmlichen Zwänge sind, die in den letzten Jahrzehnten eigentlich alle etwas mit den Vorschriften zum Sozialen Wohnungsbau zu tun gehabt haben. Grundsätzlich stehen drei Entwurfsstrategien zur Verfügung: das Kammer-Modell mit abgeschlossenen Zimmern als die rationalistische Lösung im Sinne von Funktionalität auf engstem Raum, wie wir sie in Hotels oder Apartmenthäusern finden; das bürgerliche Modell der guten alten Stadtwohnung mit der Differenzierung zwischen Wohn- (groß und repräsentativ) und Schlafräumen (intim und ruhig, meist zum Garten gelegen) und schließlich die „Einraumwohnung“, eingeschossig als offenes Loft oder mehrgeschossig nach dem Raumplan (Loos) oder als Maisonette-Wohnung organisiert, die gestapelt eine Art Haus-im Haus-Lösung darstellt.

Die Struktur des Hausgrundrisses wirkt entscheidend auf das Lebensgefühl der Bewohner, so wie die Fassade des Hauses entscheidend ist für die ästhetische Qualität der Stadträume. Inwiefern beide Welten miteinander kommunizieren und wie offen oder abgetrennt ihre Beziehung sich architektonisch artikuliert, ist erst einmal die Frage. Da wir, dem Stadtbild verpflichtet, nicht mehr im Sinne des Funktionalismus davon ausgehen müssen, dass die Fassade des Hauses zwangsläufig die inneren Funktionen widerspiegeln muss, könnten wir theoretisch hinter jeder Fassade (als Maske) jede Art von Grundriss inszenieren. So wurden bereits erfolgreich Lofts in romani­sche Kirchen oder ein Hotel in eine ehemalige Großbank ein­gebaut. Wir stoßen damit auf die Frage: In welchem Stile sollen wir bauen? Da gibt es die „Klassizisten“ im Sinne einer antiquarischen Stilauffassung und die „Modernisten“, denen die Glasfassade alles ist. Die eigentliche Herausforderung aber ist, starke Häuser zu entwerfen, die über jeden Stilkanon hinaus authentisch, vielleicht geistreich oder kultiviert, ebenso zeitlos wie präsent städtische Architektur darstellen und sprachlich artikulieren.

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Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

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