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Bauwelt 45.06
Koolhaas und die 60er Jahre
Bauwelt 45.06
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Im Zentrum der bayerischen Idylle

Wohnhaus in Hochstätt bei Rimsting

24. November 2006 - Kaye Geipel
Die Gegend rund um den Chiemsee ist sozusagen das Kernland der Bayernbilder. Überwölbt wird dieses Bild von jenem unvergleichlichen Voralpenlicht, das die Landschaft rotgold färben und – so meinen einige – den Touristen geradezu betrunken machen kann. Architektur kommt hier nur in der Kategorie Vergangenheit vor. Die letzte nenneswerte Eintragung stammt von 1878, Schloss Herrenchiemsee von Georg Carl Heinrich von Dollmann und Julius Hofmann. Vor Ort stört dies niemand. Die großen Auftraggeber, vor allem die sich ausbreitenden Sport- und Kurkliniken, zeigen Camouflagearchitektur in großem Maßstab. Neue Siedlungen, deren Flächen den im Grundstückshandel versierten Bauern für saftige Preise abgerungen werden, ducken sich weg. Erschließungstechnisch geschieht dies meist über eine Ringstraße, um die sich eine Ansammlung vom Typus „Oberbayerisches Alpenhaus“ gruppiert. Wenn solche Siedlungen dann noch eine begrünte Böschung haben, sind es bayerische gated communities.

Auch im Umkreis des kleinen Weilers Hochstätt gibt es solche Schleifen. Der Typus des oberbayerischen Hauses ist hier längst ein Versatzstück ohne Bezug zur Geschichte. Es geht um die Akkumulation regional-pittoresker Dekors im Kleinen und Kleinsten. Wo einst große Höfe mit enormen Dächern die Architektur prägten, zeigen die Neubauten kleinteilige Hausfassaden mit zu groß geratenen Dachüberständen; statt der in den Langbauten typischen Trennung in Mauerwerk für den Wohntrakt und Holz für den Stall respektive die Scheune gibt es jetzt Fassadencollagen auf engem Raum; die einst über die ganze Breite führenden Balkone mit ihrer abstrakten Gliederung schrumpfen zu putzig dekorierten Austritten. In puncto Nutzung aber ist die Gegenwart eingezogen: Neben einigen Bauern leben hier ein Rechtsanwalt, ein Pilot und eine Stewardess, ein Kunsthandwerker, ein Cafébetreiber und eine Firma, die innovative Zeltdächer entwirft. Selbst diese Firma versteckt sich in einem großen Bauernhaus.

In das hermetische Gefüge von Hochstätt platzte der Entwurf für ein Atelierhaus. Das Grundstück ist zurückgesetzt, es hat einen Übereck-Blick auf den See. Das Baurecht hätte eine zweigeschossige Bauweise möglich gemacht. Die Bauherren –ein Ehepaar aus München und mit ihnen der Architekt – wollten aber etwas anderes: keinen traditionellen Grundriss, keine weggeduckte Simulation, sondern einen aufgelösten Typus, der zur Rückseite einen Hof ausbildet und dort, über eine Scheunenrückwand des Nachbarn, das phänomenale Licht einfängt. Zur Seeseite gibt es zwei längere Riegel, die den Blick gleichsam verdoppeln. Alles wurde auf einen terrassierten Sockel gestellt, aber eben – eine vertrackte Selbstbescheidung gegenüber der Bauordnung – nur ein Geschoss hoch. Eine Architektur des Stegs also, so, als sei der See dem Hochstätter Hügel hier komplizenhaft nahegerückt. Man hätte sich ein solches Haus in den Sechzigern wohl nur als radikal gläsernes Bauwerk vorstellen können. Bernd Meyerspeer hüllt es in eine hölzerne Ganzfassade aus getackerten Fichtenholzlatten und macht durch die Art, wie er den traditionellen Aufriss adaptiert, daraus einen transparenten Ausguck zum Wasser.

Der Bauausschuss der Gemeinde Rimsting stellte schnell klar, dass er ein solches architektonisches Danaergeschenk nicht akzeptieren wolle. Nicht die überbordende Form steht in Konflikt mit der Bauordnung, sondern die sparsame. Es ist die Abstrahierung der Dachform, die stört, es provoziert die Ökonomie, mit der weggelassen wurde, was nicht nötig ist.

In der Tourismusfalle

Wenn ein einzelnes und zumal ein so kleines Haus auf dem Land so viel Streit erzeugt, so stellt sich die Frage, wofür die Auseinandersetzung geführt wurde. Die Chronologie des Hochstätter Bauprozesses (Seite 24–25) erinnert in manchem an das scheinbar blinde Stakkato eines Karl-Valentin-Liesl-Karlstadt-Disputs. Aber unter der Oberfläche manifestiert sich ein stellvertretend geführter Machtkampf, in dem darum gepokert wird, von wem das in den letzten Jahrzehnten entstandene kulturelle Vakuum in puncto Architektur wieder gefüllt werden darf. Der Streit zeigt hier, wie sich die bloß noch formal gedachte Typisierung regionaler Architekur selbst blockiert, wenn sie nicht – wie etwa in Vorarlberg – von einer ganzen Reihe von Akteuren weiterentwickelt wird (Heft 22). Das zuständige Landratsamt Rosenheim hat den Kreisbaumeister abgeschafft, weil es ihn schlicht nicht mehr braucht. Die zuständigen Bauverwaltungen können den Standard mit den Mitteln des Baurechts reproduzieren. Solange auch der Zustrom der Touristen dies zu stützen scheint, gibt es keinen Grund, an eine Weiterentwicklung der regionalen kleinstädtischen und architektonischen Modelle zu denken. Allein solche polternden Auseinandersetzungen wie in Hochstätt machen sich dann und wann bemerkbar. Es ist vielleicht bloß ein Wunsch, dass über solche individuellen Debatten, die sich nur sehr dickköpfige Architekten und Eigentümer leisten, etwas im Größeren in Bewegung kommt. Das Schöne an diesem Haus ist, dass es seine besonderen Qualitäten genau dort nachweisen kann, wo der Entwurf das vorgeschriebene Modell verlässt: Das Haus bietet einen sinnvolleren Grundriss, der die verschiedenen Funktionen auf Tuchfühlung bringt, statt sie in die isolierten Kammern des traditionellen Hauses zu stecken. Es greift das sterile Balkonthema auf und baut es zu einem Arbeitsbereich und einer Sightseeing-Bühne auf – das Haus hat trotz seiner Symmetrie zwei grandios unterschiedliche Seiten. Schließlich durchbricht der Bau das abgeschlossene Nebeneinander der Grundstücke und zeigt im Kleinen städtebauliche Qualitäten, die einen Austausch möglich machen. Ein bescheidenes Haus, ein störrischer Entwurf, ein sehr gutes Beispiel.

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Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

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