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Bauwelt 4.07
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Bauwelt 4.07
zur Zeitschrift: Bauwelt

Informelles Spiel mit Modulen wird vandalismusresistentes Reihenhaus

19. Januar 2007 - Anne Kockelkorn
An einem trüben Samstag im Dezember auf dem men­schenleeren Parkplatz vor den neuen Reihenhäusern in La Louvière. Links eine überwucherte Böschung und Bahngleise, hundert Meter nach rechts die Rückseiten der Häuser an der rue mitant des champs, davor ein Durcheinander von selbstgebastelten Schup­pen, Hühnerverschlägen und Gemüse­gär­ten. Nach einigem Zögern öffnet Madame Dupont die Tür. Die neue Mieterin hat fünf Jahre auf ihr sauberes neues Haus gewartet, und sie ist stolz darauf. Nur die Architekten versteht sie nicht. Dieser unbenutzbare Innenhof und der offene Durchblick zum Parkplatz sind ihr ein Rätsel, sagt sie, und sie ist wütend, weil sie glaubt, dass deshalb Wohnzimmer und Küche so klein geraten sind. Alle Fenster hat sie mit Stores zugehängt, keiner soll ihr in die Wohnung schauen können. Im Obergeschoss zeigt sie die „Terrasse“, eine mit Dachpappe zugeklebte Außenfläche, unzugänglich hinter einem Fenster gelegen. Madame ist nicht allein zuhause; in jedem Zimmer der oberen Etage liegt ein Kind oder ein Mann auf einem Bett vor einem laufenden Fernseher – bei zugezogenen Vor­hängen.
Selten genug folgen einem Sieg beim Europan-Wettbewerb Bauantrag und Realisierung. Denninger Scholz Architekten aus Köln hatten Glück mit dem belgischen Standort La Louvière (Tim Denninger hatte 1999 mit seinen damaligen Partnern Tomoyuki Haramura und Patrick Longchamp die dortige Europan-5-Konkurrenz gewonnen, Heft 26–27/99). Das Wettbewerbskommitee kooperierte eng mit der Wallonischen Wohnungsbaugesellschaft, zudem hat die Region einen dringenden Bedarf an Sozialwohnungen – eine direkte Folge der hohen Arbeitslosigkeit nach dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie in der südbelgischen Borinage. La Louvière entwickelte sich im 19. Jahrhundert als industrielles Straßendorf, mit engen, dunklen Straßen, gesäumt von zweigeschossigen Reihenhäusern aus dunkelrotem Backstein.

Als Wettbewerbsgrundstück hatte die Stadt eine überwucherte Kohleabraumhalde zwischen Bahnhof, Glas­fabrik und Stadtrand zur Verfügung gestellt. „Mobi­li­tät und Nähe“, das Leitmotiv von Europan 5, präsen­tierte sich hier als postindustrielles Landschaftsidyll der Trostlosigkeit; der japanische Partner im Entwurfsteam traute sich beim ersten Besuch des Standortes kaum aus dem Auto.
Die Architekten schlugen ein entsprechend robustes Städtebaukonzept vor, eine Mischung aus Riegel, der örtlichen Typologie des sozialen Wohnungsbaus, und Reihenhaus mit Giebeldach. Im Masterplan des Wettbewerbs platzierten sie zehn deutlich abgegrenzte „Wohninseln“ auf das verwilderte Grundstück – jede Insel mit zwei zweigeschossigen Blöcken und zwei offenen Plätzen; an die Stadt angebunden über eine kurze Stichstraße. Die 26 Meter breiten und 15 Meter tiefen Blöcke wurden in vier schmale Grundstücksscheiben geteilt und die Grundrisse um einen kleinen Innenhof zwischen Stellplatz und Wohnzimmer organisiert. Außerdem planten die Architekten, dass die Bewohner innerhalb eines vorgegebenen Modulsystems die Größe ihrer Wohnungen selbst festlegen und bei Bedarf auch erweitern können: in Anlehnung an die informelle Gestaltungsfreiheit in den Hintergärten der traditionellen Reihenhäuser am Ort.

Es ist bemerkenswert, dass sich der Masterplan und die Grundrisstypen vom Wettbewerb bis zur Ausführung kaum verändert haben. Doch in den Diskussionen um die Details, die zwischen den Entwerfern aus Köln, dem bauleitenden belgischen Kontaktarchitekten und der Wohnungsbaugesellschaft Foyer Louvièrois geführt wurden, gewann in den meisten Fällen die Norm des sozialen Wohnungsbaus. So wurden etwa die vorgesehenen Holzteile der Fassade durch vermeintlich vandalismusrestistentere Eternitplatten ersetzt und die Dachterrassen im Obergeschoss unzugänglich gemacht – nicht aus Geldmangel, sondern als vorbeugende Maßnahme gegen die vom Bauherrn prognostizierte Vermüllungsneigung der Bewohner. Die Frage, ob das vorgeschlagene modulare Anbausystem realisiert wurde, erübrigt sich da. Doch die entscheidende städtebauliche Geste blieb erhalten: Die beiden Plätze bieten eine Sphäre gestalteten öffentlichen Raumes an, und zugleich kann die wilde Wiese unberührt weiterwuchern. Zunächst ist eine der geplanten zehn Wohninseln realisiert worden. Für eine weitere sind die Planungen abgeschlossen, mit dem Bau soll in Kürze begonnen werden.

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