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TEC21 2007|08
Protesen
TEC21 2007|08
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Sehhilfe

Man kann das von Meixner Schlüter Wendt umgebaute und erweiterte Haus Wohlfahrt-Laymann in der Kleinstadt Oberursel im Norden von Frankfurt als ein System aufeinander bezogener Sehhilfen verstehen: Das Neue macht Qualitäten des Alten sichtbar und umgekehrt, beide müssen freilich dafür ihre Autonomie aufgeben. Das Alte und das Neue stehen zueinander in einer prothetischen Beziehung.

19. Februar 2007 - Christian Holl
Das englische Sprichwort «You can’t have your cake and eat it, too» bezeichnet einen Sachverhalt, der sich in vielen Zusammenhängen nachvollziehen lässt: Der Gebrauch einer Sache zerstört seine Existenz, aber rechtfertigt eben auch erst diese Existenz.
Das lässt sich auf die Architektur beziehen: Der Gebrauch des Hauses verändert es, es wird nie das bleiben können, was es nach seiner Fertigstellung gewesen ist. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn ein Gebäude nicht mehr den Anforderungen entspricht, die an es gestellt werden. Ein Haus zu erweitern, umzubauen, umzunutzen, ist nur um den Preis des Verlustes der Qualitäten zu haben, die es ursprünglich ausgezeichnet haben.

Wer einen Umbau konzipiert, kann das Alte aber trotzdem nutzen, ohne gleich des Eskapismus bezichtigt werden zu müssen. Man kann dem Bestehenden etwas hinzufügen, das in einer neuen Sprache spricht, durch den Kontrast das Neue wie das Alte zu seinem Recht kommen lässt und damit ausdrückt, dass das Bestehende das Entstehende beeinflusst. Oft wird dabei der Weg gewählt, das Neue in der alten Hülle zu entwickeln und nur in einzelnen Elementen aussen abzubilden; ebenso populär ist die Variante, Neues und Altes nebeneinanderzustellen.

Ein dritter Weg

Die Frankfurter Architekten Meixner Schlüter Wendt haben keine dieser beiden gängigen Strategien gewählt, sondern eine dritte entwickelt. Die Aufgabe stellte sich in einem Einfamilienhaus­gebiet in Oberursel nördlich von Frankfurt. Ein auf einem Natursteinsockel stehendes Holzhaus aus den 1930er-Jahren sollte abgerissen werden, weil es für ein zeitgemässes Einfamilienhaus zu klein und seine Bausubstanz ungenügend war. Doch die Architekten reizte das traditionelle Haus als Ausgangspunkt einer architektonischen Auseinandersetzung, die nicht nur die Spuren der Veränderung nachvollziehbar machen sollte. Auch die Qualität der Räume mit ihrer eigenen Atmosphäre lockte, zumal sich Raumanordnung und Zuschnitt als geeignet erwiesen, die gewünschten Nutzungen aufzunehmen.

Aus Studien, in denen sich die Architekten unabhängig von diesem Entwurf mit dem Verhältnis von innen und aussen, mit Form, Raum und Volumen beschäftigt hatten, die sich durch die Umkehrung und Reduktion gewöhnlicher Raumsituationen ergeben, hatten sie ein Gespür für das Potenzial entwickelt, das banal oder selbstverständlich wirkenden Anordnungen zu entlocken ist. Anstatt nun das bestehende Haus abzureissen, umhüllten sie es mit einem Kubus, der fast bis an den First des bestehenden Hauses reicht. Damit entledigten sie sich der Aufgabe, die einfache Konstruktion an aktuelle Ansprüche und Vorschriften für Schutz- und Dämmwirkungen anzupassen. Die neue Hülle übernimmt diese Aufgaben, die alte brauchte nur instand gesetzt zu werden. Das hiess auch, dass der neue Kubus konstruktiv nicht mit dem alten verbunden werden konnte; die zweigeschossigen Wände, eine Mischkonstruktion aus Mauerwerk und Stahlbeton, werden also nicht durch eine Geschossdecke ausgesteift, diese Rolle müssen Fundamente und das über die ganze Grundfläche spannende Dach übernehmen.

Raumgewinn

Aber auf diese Weise kann die alte Raumdisposition genutzt werden und musste nur leichten Änderungen unterworfen werden. Der alte Kellerabgang etwa wurde geschlossen und in den Raum zwischen alter und neuer Aussenwand gelegt. Das Raumangebot konnte erheblich erweitert werden, zunächst dadurch, dass durch die neue Kubatur sich die Bereiche nach oben öffnen lassen, die bislang durch die Dachschräge beeinträchtigt waren.

Ausserdem gewannen die Architekten Raum, indem sie die neuen Aussenwände in unterschiedlichem Abstand zu den alten setzten und Zwischenräume verschiedenen Charakters schufen. Zur nach Westen gerichteten Gartenseite ist ein neuer, über zwei Geschosse geöffneter Wohnraum mit verglaster Front entstanden, zwischen ihm und den Räumen das Altbaus vermittelt die alte Veranda als Übergangsraum. Der dunkle Holzboden des neuen Raums verbindet sich mit der vor der Glasfassade liegenden Terrasse zu einer Einheit, die lediglich durch die Glasfassade in einen inneren und einen äusseren Teil getrennt wird. Nach Süden hin ist der neu gewonnene Raum so breit, die neue Kellertreppe aufzunehmen, im Norden ist er schmaler und bietet einen Nischen- und Rückzugsraum. Nach Osten hin wurde der Raum zwischen alter und neuer Hülle für haustechnische Installationen genutzt. Die Räume werden in Schichten unterschiedlicher Privatheit zwischen innen und aussen zoniert. Auch in dieser Hinsicht ist der Schutzbedarf gestiegen, die Nachbarn sind näher gerückt, als es früher der Fall war.

Schnitte und Abstraktionen

Seine besondere Qualität bekommt das Entwurfskonzept aber erst durch die Idee, die Öffnungen des alten Hauses mit Stutzen bis zur neuen Hülle hin zu verlängern – und sie umgekehrt von dort, wo der Raum erweitert werden soll, wo mehr Licht notwendig ist, auf das Alte zu projizieren und es aufzuschneiden. Dies geschieht in vertikaler wie in horizontaler Richtung: in der Vertikalen, wo sich die Dachgeschosse zu einem neuen Luftraum öffnen, in der Horizontalen, etwa nach Westen, wo sich das Obergeschoss über einen in den Wohnraum hineinragenden Arbeitsraum erweitert, oder vom Essraum, von wo ein neuer Erker an die Aussenwand führt und in der Horizontalen und der Vertikalen räumliche Bezüge öffnet.
Man kann es auch anders herum lesen: Wie eine neue Schutzhülle wird die neue Kubatur um das Haus gelegt, spannt es ein und stützt es. Die Öffnungen in der neuen Hülle nehmen dieses Spiel auf, sie enthalten die Öffnungen der Erweiterungen, bilden aber auch die alten Fenster und die bisherige Gebäudeform ab und machen damit die Idee der Stutzen zu einem Thema der Fassade. Die Einschnitte in der tiefen Aussenwand geben den Blick auf den innen liegenden Kern frei.

Um ihr Konzept nicht zu plakativ werden zu lassen, um das alte Haus nicht zu einem Museumsstück, das mit Sentimentalität an alte Zeiten erinnert, zu degradieren, haben die Architekten es durch einen einheitlichen, elfenbeinfarbenen Farbanstrich verfremdet und abstrahiert. Erst so schafft die alte Form die Distanz zu seiner Geschichte, die es der neuen Aneignung öffnet. Die Volumen, die zwischen Alt und Neu verbinden, sind in einem Papyrusweiss gestrichen, das sich mit seiner leichten Grautönung vom warmen Weiss des Bestands und dem kalten der neuen Hülle absetzt. Die Aussenwand schliesslich ist in einem dunklen Grau gestrichen, das einen hohen Grünanteil enthält und sich der Vegetation der Umgebung, einem gewöhnlichen Einfamilienhausgebiet, einfügt. Die Einschnitte in diese Hülle machen den gelblichen Kern sichtbar, der durch den Farbkontrast weich und verletzlich wirkt und die neue Hülle als bewahrenden Schutzmantel erscheinen lässt. Letztlich braucht aber beides, das Alte wie das Neue, des jeweils anderen Hilfe, um seine Qualitäten entwickeln zu können.

Künstlerische Parallelen

Die Architekten weisen darauf hin, dass Analogien zwischen dem Haus Wohlfahrt-Laymann und Arbeiten von Künstlern wie Gordon Matta-Clark oder Gregor Schneider bestehen. Und in der Tat, so wie bei Schneider das Haus Ur durch Eingriffe in die selbstverständlich scheinende Struktur des Hauses, durch Aufbrechen seiner Oberflächlichkeit und Gewöhnlichkeit, neue Räume, ­Abbilder des Untergründigen und Unbewussten preisgibt, die in der Alltäglichkeit latent enthalten sind, so wie Gordon Matta-Clark Schnitte und Zerstörungen vornehmen muss, um die Tiefenstruktur eines Gebäudes sichtbar werden zu lassen, so wie beide das Vorhandene verändern und zerstören müssen, um etwas Verborgenes sichtbar zu machen, so haben auch die Architekten das alte Häuschen im traditionalistischen Gewand zu einem gewissen Grad zerstören müssen, um es zu einem Teil des Heute werden lassen zu können, das sich nicht dagegen sperrt, gebraucht zu werden, wie es eine Musealisierung bewirkt hätte. Es liesse sich auch die englische Künstlerin Raquel Whiteread in die Reihe der Referenzbeispiele einfügen, die den Abguss eines Londoner Allerweltshauses in Beton erstellen lassen konnte, weil es abgerissen werden sollte. Auch beim Haus, das Meixner Schlüter Wendt transformierten, stand am Anfang der Gedanke, das Haus abzureissen, bevor die Architekten dem Bauherrn ihre Strategie unterbreiteten und ihn überzeugten. Erst die Option des Abrisses eröffnete die Spielräume, ein bislang ungenutztes Potenzial des Hauses zu aktivieren – und auch das ging nur, weil das Alte in wesentlichen Elementen aufgegeben wurde. Das Haus Wohlfahrt-Laymann macht sichtbar, dass Bewahren und Nutzen weiter auseinander liegen, als es die Konzepte suggerieren, die die Veränderung verbergen.

Das Haus Wohlfahrt-Laymann ist auf mehreren Ebenen prothetisch. Zunächst einmal interagieren die beiden Baukörper konstruktiv nicht. Der Neue ist statisch unabhängig und tangiert den Alten auch in seiner Dämmwirkung nicht, der Neue übernimmt diese Funktion. Aber inhaltlich sind die beiden aufeinander bezogen: Die Stutzen bzw. Projektionen stärken und erweitern räumliche Qualitäten des Alten, indem sie sie in neue Raumgefüge überführen. Das Alte muss beschnitten werden, damit es mit dem Neuen wieder zu einem Ganzen wird. Das Neue «konserviert» die Geschichte des Alten, ohne es zu musealisieren, bewahrt es vor der Nutzlosigkeit, nur noch Torso zu sein, und ist mithin dessen Vehikel in die Zukunft.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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