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Steeldoc 01/05
Transitzonen
Steeldoc 01/05, Foto: Axel Simon
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zur Zeitschrift: Steeldoc
Herausgeber:in: Stahlbau Zentrum Schweiz

Die Passage – Bewegung unter dem Glashimmel

Transiträume: Flughäfen verbinden Länder und Kontinente, Bahnhöfe lassen fremde Städte zusammenwachsen, Passagen führen von einer Strasse zur anderen. Doch anders als die beiden erstgenannten Gebäude dient die Passage nicht dem zeitweiligen Stillstand von Verkehrsmitteln – in ihr findet die Bewegung selbst statt. Ein kurzer Abriss der bewegten Geschichte eines Bautyps.

20. April 2005 - Axel Simon
Glas überdeckt und durch die Mitte eines Baublocks führend ist die Passage der transitorische Raum schlechthin. Schon ihr Name löst vielfältige Bedeutungszusammenhänge aus, auch ausserhalb der Architektur: Durchfahrt, Schiffsüberfahrt, Durchreise, eine melodische Figur in der Musik, die Stelle eines literarischen Textes, in der Astronomie der Durchgang eines Gestirns durch den Meridian – immer aber hat die Passage etwas mit Bewegung zu tun. Abgeleitet ist das Wort vom lateinischen Passus, der Schritt.

Es ist also kein Wunder, dass Literaten und Philosophen von der Passage angeregt wurden, wie von keinem anderen Bautyp. Sie ist das Bauwerk des 19. Jahrhunderts par excellence, vielleicht auch weil sie, in ihrer ursprünglichen Form, gemeinsam mit ihrem Jahrhundert untergegangen ist. Walter Benjamin, der ausgehend von den Passagen ein Portrait des 19. Jahrhunderts schreiben wollte und es nach seinem Freitod 1940 als Fragment hinterliess, schrieb über sie: «An ihnen lässt sich schliesslich ablesen, wie die Epoche geworden ist und was aus ihr noch werden wird.»

Ihre Anfänge haben etwas mit einer Bewegung anderer Art zu tun: Der Sturm auf die Bastille wurde in den Gängen des Palais Royal ausgerufen – unmittelbar neben der ersten der Pariser Passagen, der Galeries des Bois. Das ist kein Zufall: Das Palais-Royal war der erste öffentliche Stadtraum, der vom rasenden Verkehr der Kutschen und Reiter, dem Dreck und Unrat der damaligen engen Strassen ungestört blieb – Promenade und Luxusmarkt, Ort der Agitation und des Amusements zugleich. Die Französische Revolution setzte die Gesellschaftsschicht frei, welche die bald rund ums Palais-Royal entstehenden Passagen bevölkerte: das Bürgertum. 1799 brachte der ägyptische Feldzug Napoleons den Pariser Bürgern nicht nur die ägyptische Mode, sondern auch eine Adaption des orientalischen Bazars – in der Passage reihen sich Einzelladen an Einzelladen, der Passant ist draussen und dennoch drinnen, betrachtet vom Wetter ungestört die Auslagen und spürt trotzdem die schützende Anonymität der Strasse unter seinen Füssen.

Um diese Illusion zu schaffen bedurfte es baulicher Mittel, die sich bei nahezu allen Passagen finden: Die Verbindung zweier belebter Strassen, weitgehend schwellenlose Eingänge, damit Strassenraum und Passagenraum zusammenfliessen können, und die architektonische Formulierung einer Aussenraum- Atmosphäre innerhalb der Passage mittels Hausfassaden und eines möglichst hautartigen, transparenten Daches. Wie auch bei den Bahnhöfen und grossen Hallen des 19. Jahrhunderts, findet sich auch hier die merkwürdige Mischung aus architektonischer Eklektik und ingeniöser Sachlichkeit – bekanntlich zählte man die filigranen Bauteile aus Eisen und Glas nicht zum baukünstlerischen Repertoire, sondern zur nackten Bedürfnisbefriedigung. Das «kalte Eisen machte die Gemüter frösteln», wie es Manfred Sack einmal umschrieb. In diesen glasgedeckten Räumen des Handels und der gesellschaftlichen Aktion vermischten sich Illusion und Wirklichkeit. Ihre Eigentümlichkeit sei es, schrieb Siegfried Kracauer, «Durchgänge zu sein, Gänge durchs bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und über ihnen wohnte» – Transiträume eben.

Doch so poetisch diese Passagen manchen Zeitgenossen und uns heute erscheinen – sie verdanken sich einzig und allein dem beginnenden Kapitalismus, waren die «premier fruit de la spéculation mercantile», wie ein Pariser Fremdenführer schon 1815 schrieb. Mit ihnen war es möglich, die Grundstückspekulation auf die bis dahin noch unerschlossenen Hinterhöfe auszuweiten. Nach 1830 begann die Blüte der Pariser Passagen. Sie schossen förmlich aus dem Boden, brachten Rendite, wo es vorher keine gab, erschlossen alte Quartiere, ohne dass man die verfallenden Gebäude sehen musste und deckten den Finanzbedarf eines restaurativen Staates, der immer weitere Gebiete seiner Hauptstadt privatisierte. Dieser Bodenmarkt sowie die aufkommende Börse waren die Voraussetzungen dieser ersten Zentren des Einzelhandels und der Luxuswaren.

Der deutsche Emigrant Ludwig Börne fand 1830 für die neue Galerie d’Orléans enthusiastische Worte: «Sie ist breit und von einem Glashimmel bedeckt. Die Glasgassen die wir in früheren Jahren gesehen, so sehr sie uns damals gefielen, sind düstere Keller oder schlechte Dachkammern dagegen. Es ist ein grosser Zaubersaal, ganz dieses Volkes von Zauberern würdig.» Passagen waren nun en vogue. Dank neuer Fertigungsmethoden wuchsen die Spannweiten der Glasdächer mit ihren filigranen Eisenkonstruktionen, die Dachformen wurden vielgestaltiger, die Passagen breiter, höher und prächtiger. Sie waren mit Gas beleuchtet, zu einer Zeit, in der die Strassen noch im Dunkel lagen. Mit Marmorböden, Spiegeln, goldenen Dekorationen und den ersten Reklametafeln ausgestattet, avancierten sie zum Träger des öffentlichen Lebens, zur Bühne einer neuen Gesellschaft, die sich aus Ständen zusammenmischte, die vorher streng getrennt waren.

Doch wo viel Licht, da viel Schatten: Eine Passage konnte dem Dichter Heinrich Heine als Wohnort und Teil seines Lieblingsspaziergangs dienen, in den Romanen eines Emile Zola oder Honoré de Balzac konnte sie aber auch zum düsteren Schauplatz sozialkritischer Tragödien werden. Als in Paris früh der Niedergang der Passage begann, wurde für die Literaten aus dem «Glashimmel» ein «Maulwurfsgang», aus dem «Kristallpalast» ein «Glassarg». Die ersten Passagen verschwanden schnell, weil sie dem Anspruch der Flaneure nicht mehr genügten. Oder sie befanden sich schlicht am falschen Ort. In Paris hiess er «rive gauche» – fern der Zentren des Luxus und der Moden fristeten die Passagen ein Schattendasein – und tun es meist noch heute.

Mitte des Jahrhunderts legte der Baron Haussmann die prachtvollen Boulevards an, gab der Stadt Trottoirs und Kanalisation. Gleichzeitig kam ein Bautyp auf, der die Passage zu verdrängen begann: 1852 wurde das «Bon Marché» als erstes Warenhaus eröffnet. War die Passage emanzipatorischer Ausdruck der Bürger nach der Revolution, so war das Warenhaus Ausdruck der Industrialisierung, der Massenproduktion und des Massenkonsums. Die Art und Weise des Verkaufs war ein vollkommen anderer, ebenso die Räume in denen er stattfand: Riesige Glaskuppeln ersetzten die gerichteten Sattel- und Tonnendächer der Passagen, geräumige Etagen blickten über Galerien in diese Zentralräume. Für Benjamin waren die Warenhäuser «der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Strasse zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Strasse, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.» Die Bewegung, konstituierendes Element der Passage, wurde zu ihrem Totengräber: Die Mobilität der Eisenbahn machte Ware und Käufer mobil, sorgte für schnelle Zirkulation und weltweiten Absatz. Aus dem Flaneur wurde der Konsument.

Doch als in Paris ihr Niedergang eingeläutet wurde, feierte die Passage in anderen Ländern freudigen Einstand – als nationales Symbol. So zeugte 1873 die Pracht der Berliner Kaisergalerie vom Selbstbewusstsein der neuen Deutschen Metropole des Handels und der Politik. Sechs Jahre zuvor eröffnete die Galleria Vittorio Emanuele II, mit einem Raumkreuz, dessen Ausmasse die der bekannten Passagenräume um ein Vielfaches übertraf. Zusammen mit der prachtvollen Ausgestaltung symbolisierte ihre schiere Grösse den Anspruch eines wiedervereinigten Italien – mit Seitenhieb in Richtung des römischen Kirchenstaates: Die zentrale Glaskuppel in Mailand hat exakt die Masse der Petersdomkuppel. Solch ein Raum ist nicht mehr auf den Zufallsverkehr abkürzender Passanten angewiesen – er ist selber Ereignis genug, um Menschen anzuziehen. Auch die Motivation, die zu diesem Höhepunkt der Passagenentwicklung geführt hat, war weniger eine Bewegung innerhalb der Gesellschaft, als ein statisches Moment: das Konstituieren einer Nation.

Die Moderne des 20. Jahrhunderts brachte den Passagen wenig Liebe entgegen. Erst in den 80er-Jahren entdeckte man sie wieder, ja es kam zu einer regelrechten Renaissance der Passage: Viele alte wurden sorgfältig aufpoliert, noch mehr neue entstanden aus dem mehr oder weniger glücklichen Versuch, das Prinzip Passage mit heutigen Mitteln und Ausnutzungsziffern umzusetzen – der Glashimmel musste dabei meist dran glauben. Kein Zufall ist es allerdings, dass sich viele neue so genannte Passagen an Orten des Verkehrs befinden – in Bahnhöfen oder Flughäfen. Sie machen sich die vorhandene Bewegung zunutze – das Shop- Ville im Zürcher Hauptbahnhof verzeichnet die höchsten Umsätze pro Quadratmeter in der Schweiz. Dieser kürzlich erst umgebaute Shopping-Untergrund wurde bereits 1970 angelegt: Als Zwangsweg der Passanten, die von der Bahnhofstrasse in den Bahnhof wollten. Nicht so verkehrsgünstig gelegene Passagen haben heute oft Probleme ihre Pächter zu halten – zu wenig potentielle Käufer verirren sich in ihre mehr oder weniger noblen Hallen.

Die Mall, später Nachfahre der Passage, hat vor den Toren der Stadt ihre eigene Lösung dieses Bewegungsmangels gefunden: Sie lockt die Passanten, mittlerweile zu Autofahrern geworden, in die Agglomerationen, wo es billigen Raum für ihr räumlich-mediales Spektakel gibt. Hier erlebt der einstige Illusionsraum eine Wiedergeburt als Raum des Events und der Animation. Die Glasdächer der Malls scheinen heute keine konstruktiven Beschränkungen mehr zu kennen, nur noch feuerpolizeiliche. Der Raum, den sie überspannen, soll den Besucher zu Kauf und Verzehr anregen. «Musik» berieselt ihn und zwei gegenüberliegende «Magnete» – meist ein grosses Kaufhaus und ein Fastfood-Tempel – ziehen ihn, scheinbar willenlos, durch die mehrstöckigen Wandelgänge. Nicht zufällig wählte der Regisseur George A. Romero 1977 eine frühe Shopping-Mall zum Schauplatz seines ersten Zombie-Films. Hier bewahrheitet sich spät das, was R. M. Schaper über die Passagen nach 1900 schrieb: An ihnen könne man «das physiognomische Altern der Moderne studieren: Wo die Architektur mit Eisen und Glas erprobt und erste Versuche in Richtung auf eine demokratische Öffentlichkeit unternommen wurden, sieht man jetzt lediglich abwärts führende Wege: In eine Vergangenheit, die der Fortschritt überwunden zu haben glaubt.»

Doch viele innerstädtische Beispiele lassen hoffen: Sie unterstützen das städtische Leben, indem sie die Wege der pendelnden Öffentlichkeit begleiten und verdichten. Sie bieten – meist relativ unspektakulär – beiläufige Räume des Alltags an, in denen die Menschen und ihre Bewegung das Ereignis sind. Wie unter den Glashimmeln vor 200 Jahren.

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Für den Beitrag verantwortlich: Steeldoc

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